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Rezension von: Weber, Heinz: Studentensprache. Über den Zusammenhang von Sprache und Leben. -

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Rezension von: Weber, Heinz: Studentensprache. Über den Zusammenhang von Sprache und Leben. -

Weinheim & Basel: Beltz 1980. [ii], 304 S. (= Pragmalinguistik. 24).

„Et bren, bren, dist Pantagruel, qu'est-ce que veult dire ce fol? Je crois qu'il nous forge icy quelque langaige diabolique, et qu'il nous cherme comme enchanteur." A quoy dist un de ses gens: „Seigneur, sans doubte, ce gallant veult contrefaire la langue des Parisians; mais il ne faict que escorcher le latin..."

(Frangois Rabelais: Pantagruel; Chapitre VI, in dem Pantagruel einen Studenten trifft;

Collection Folio, Paris 1973).

I. Heinz Webers 1978 von der Universität Tübingen als Dissertation angenom- mene Arbeit stellt den Versuch dar, eine umfassende Theorie einer materialisti- schen Soziolinguistik zu entwickeln. Als praktische Anwendung dieser Theorie analysiert und beschreibt er auf ca. 90 von insgesamt 304 Seiten „das Beispiel Studentensprache" (Überschrift des 4. Kapitels), die als „Spitze des Eisberges einer Sprachkrise der ganzen Gesellschaft" (so der anschauliche und zutreffende Verlagskommentar auf der Umschlagseite des Buches) zu verstehen ist und dem Autor deshalb nicht nur Anwendungsbeispiel, sondern auch grundlegende sprachliche Erscheinungsform eines gesamtgesellschaftlichen Zustandes ist.

Nach dem ersten Kapitel, der Einleitung, in der Weber sein über die wissen- schaftliche Erkenntnis hinausgehendes politisches Interesse an seiner Arbeit for- muliert, folgt im zweiten Kapitel die Aufarbeitung der Diskussion, die bis in die Mitte der 70er Jahre im Zuge der Studentenbewegung um die Sprachbarrieren- theorie geführt wurde. Entsprechend hält der Autor Sprachkompensationspro- gramme, die auf Ergebnissen der Sprachbarrierentheorie fußen, für unverant- wortlich; weil die Sprachbarrierentheorie statisch und unhistorisch angelegt ist, den gegenwärtigen Zustand nicht als gewordenen versteht, konstruiert sie zwei Schichten und Schichtsprachen und idealisiert die Sprache der Mittelklasse. An den Begriffen der Restriktion, der Kontextunabhängigkeit und der Explizitheit, die für die wissenschaftliche Diskussion vor zehn Jahren zentral waren, zeigt der Autor auf, daß die positive Bewertung des elaborierten Codes als „Wahlappa- rat" (S. 29) der Mittelklasse-Sprecher keineswegs gerechtfertigt ist, daß vielmehr gerade die größere Explizitheit dieser Sprecher, die „keinen materiellen Boden mehr unter ihren Füßen haben, weil ihre Existenz lediglich sprachlich definiert ist"

(S. 35), und die deshalb expliziter sein müssen, negative Konsequenzen mit sich bringen kann. Um den Prozeß des zunehmenden Explizitheitsdrucks adäquat erklären zu können, fordert der Autor einen historischen Ansatz, der die gesell-

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 2,2 (1983), 278-285

© Vandenhoeck & Ruprecht, 83 ISSN 0721-9067

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schaftlichen Makrostrukturen als materiellen Produktions- und Reproduk- tionsprozeß, als sozioökonomischen Prozeß definiert.

Soziologische Arbeiten wie Dahrendorf (1968), Parsons (1964) und die Arbei- ten zum Symbolischen Interaktionismus kritisiert er, weil sie die gesellschaftli- chen Produktionsverhältnisse nicht berücksichtigen. Die Übernahme dieser vorwiegend mikrostrukturell orientierten Modelle in die Soziolinguistik und besonders des Symbolischen Interaktionismus, dessen Theoreme „unbegriffene Normen prinzipieller Vernunfts- und Freiheitsfähigkeit des Menschen (enthal- ten), ohne die sozialen und politischen Bedingungen menschlichen Lebens dabei zu berücksichtigen" (S. 19) durch Bernstein (1965/70), Dittmar (1971), Oever- mann (1972) stößt deshalb auf den Widerspruch des Autors. Zudem erklärt er funktionalistische Systemtheorie und Symbolischen Interaktionismus als Ab- bild der gesellschaftlichen Verhältnisse (S. 66 f.), so daß nach der Theorie von Basis und Überbau (die hier unausgesprochen Anwendung findet) deren Rollen- modelle ohnehin keine historisch-ökonomisch verstandene Makrostruktur ent- halten können, denn nach Marx ist der - geistige - Überbau lediglich Reflex der ökonomischen Verhältnisse.

Im dritten Kapitel entwirft Weber zunächst das materialistische Gesellschafts- bild, das er im zweiten Kapitel gefordert hat und das wohl ohne Widerspruch auch marxistisch genannt werden darf. Einige der für die Analyse der Studenten- sprache wichtigen Punkte sollen festgehalten werden: der Zustand unserer spät- kapitalistischen Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Trennung von Hand- und Kopfarbeit, die sich nunmehr auch in der unmittelbaren Produktion selbst vollzieht (S. 77); Wissenschaft ist nicht direkt in den kapitalistischen Verwer- tungsbetrieb eingebunden, allerdings geht die Tendenz in diese Richtung (Effek- tivierung von Lehre und Studium durch Hochschulgesetze und Erlasse) (S. 90f.); Postulierung der Erfahrungsabhängigkeit jedes Sprechers und des dar- aus folgenden Sprachbegriffs, der durch „Historizität" und „Erfahrungsabhän- gigkeit" charakterisierbar ist (S. 92ff.).

Die folgenden zwei Abschnitte dienen der Ausarbeitung dieses allgemeinen Sprachbegriffs1, der dem sprachlichen Zeichen, dem Wort, widersprüchliche Besetzung zugesteht. Aus dieser inneren Sprachspannung, „die in der Sprache der Erwachsenen zu Bedeutungsdifferenzen als Regelfall, nicht als 'kranke Aus- nahme' führen" (S. 142), resultieren Sprachunsicherheiten und -probleme, die in allen Schichten existieren, abhängig von den gemachten gesellschaftlichen Inter- aktionserfahrungen, deren Widersprüchlichkeit als spezifisch für die jeweilige Schichtzugehörigkeit gilt. Sinn und Bedeutung dieses Sprachbegriffs zeigen sich in der folgenden Behandlung studentischer Sprachprobleme.

l Die Ausarbeitung erfolgt in ausführlicher Auseinandersetzung mit Holzkamp (1973), Wygotski (1971), Lorenzer (1970/1972) und Lefebvre (1973).

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II. Grundlage der Untersuchung sind 15 Intensivinterviews über die Schwierig- keiten, die Studenten mit ihrer Sprache haben, von je ca. einer und einer halben Stunde Dauer; die Interviewten sind 5 Studentinnen und 5 Studenten aus dem Hauptstudium, 2 Studentinnen und 3 Studenten aus dem Grundstudium. 7 der 15 Interviewten stammen aus Arbeiterfamilien. Die Interviews sind auszugswei- se als Belegstellen aufgeführt und vermitteln ein klares Bild von der Quelle der Argumentation. Sie machen die Probleme der Studenten so plastisch, daß kein Zweifel an der Existenz dieser Probleme bleiben kann. Ziel der Interviews war,

„herauszufinden, inwieweit die persönlich erfahrene Arbeits- und Lebenssitu- ation 'universitäres Studium' sich auf die Sprache der Interviewten im weitesten Sinne ausgewirkt hat und als wie nachhaltig diese Auswirkungen empfunden werden" (S. 172). So versteht der Autor seine Arbeit nicht als „empirische Un- tersuchung zur 'Studentensprache', die nach Maßgabe der etablierten sozialwis- senschaftlichen Norm 'verläßlich' und 'nachprüfbar' ist", sondern als „pro- blemorientiert-heur istisch, nicht quantitativ" (S. 172f.).

Diese Vorgehensweise birgt die Gefahr des Subjektivismus. Der Autor ist sich ihrer bewußt (S. 175) und ist ihr entgangen, wenn er als Analysant selber die Interviewten aussucht, die Interviews auswertet und zusätzlich großen Anteil an den studentischen Sprachproblemen nimmt, weil er die nötige kritische Distanz dennoch nicht verliert. Problematisch ist, daß Weber die Interviews vorwiegend inhaltlich2 auswertet, weil er so die Subjektivität der studentischen Aussagen nicht zu relativieren vermag. Der Autor interpretiert diese Aussagen, die die Basis seiner Aussagen darstellen, in Hinsicht auf seine vorausgegangenen gesell- schafts- und sprachtheoretischen Überlegungen; und wie im folgenden darzule- gen sein wird, liegt die Gefahr des Subjektivismus, die letztlich jeder soziologi- schen Arbeit eigen ist, eher dort als im methodischen Vorgehen des Autors, weil, soweit zu sehen ist, die Aussagen der Studenten und die tatsächlichen (Sprach-) Probleme übereinstimmen.

Was Weber unter 'Sprache' versteht, kann, wenn es nicht an seinem Sprachbe- griff deutlich wird, aus der Analyse der Sprachprobleme geschlossen werden;

eine eigene Definition von Sprache gibt Weber nicht.

Die bedeutsamsten Probleme, die von allen Interviewten immer wieder ange- sprochen werden, entstehen durch den Kontakt mit der neuen Sprachwelt der Universität. Die universitäre Kommunikation wird als abgehoben empfunden, besonders im Bereich der Terminologie, aber auch in Bezug auf Satzbau und Länge der Redebeiträge. Die Seminarsituation ist geprägt von sprachlichen Selbstdarstellungsritualen, Argumentationen sind oft nicht inhaltlich gefüllt, sondern werden durch geschickte verbale Strategien umgangen, die eigene Un-

2 In einem Exkurs über linguistische Merkmale studentischer Sprache verwendet der Autor Kriterien wie Satzlänge und -komplexität, Fremd-, Modewort- und Partikelnge- brauch und verweist auf bekannte dialogkonstitutive Erscheinungen (Pause, Anakoluth, Aposiopese, Parenthese), die den Explizitheitsdruck in der Universität belegen können.

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kenntnis und Überforderung verdecken sollen. Alle Studenten heben den Zwang hervor, explizit zu sprechen, der auch dann nicht nachläßt, wenn man sich ihm durch Schweigen verwehrt, und der sich mehrheitlich in massiven Sprachängsten äußert.

Auf diesen studentischen Darstellungen baut Weber (in seiner Arbeit) vorläu- fige Situationsanalysen auf, die mit allgemein vertrauten psychologischen Be- griffen operieren wie Gruppenprozeß, Motivation, Anpassung, Profilierung usw. und von den meisten Studenten (in den Interviews, die eher Gesprächscha- rakter haben) mitgetragen zu werden scheinen. In der Argumentation des Au- tors entsteht deshalb häufig ein Miteinander von Problemschilderung und -ana- lyse wie von Beiträgen des Autors und der Interviewten, das die Grenze zwischen Fremd- und Eigenleistung verwischt, dafür aber eine anregende und abwechs- lungsreiche Darstellungsweise ermöglicht.

Dieses Vorgehen scheint gerechtfertigt, soweit sich die Argumentation auf allgemeine psychologische Analysen beschränkt, wird aber problematisch, wenn der Autor diese Argumentationen in seine Sprach- und Gesellschaftstheorien einbindet, denn es ist fraglich und den Interviews auch nicht zu entnehmen, ob die Interviewten hier in gleichem Maße mit dem Autor übereinstimmen würden.

Die von den Studenten angesprochenen Probleme führen also in ihrer wie des Autors Sicht zu Brüchen mit der voruni versitären (sprachlichen) Umwelt (Fami- lie, Freunde usw.), weil sich die meisten Studenten dem Anpassungssog nicht zu entziehen vermögen, was vor allem daran liegt, daß besonders Studenten der Geisteswissenschaften ihr Studium fast ausschließlich durch Verbalisierungen bewältigen müssen. Daraus folgt auch ein Verlust an praktischer Erfahrung und aus der zwanghaften Explizitheit ein Mangel an menschlicher Wärme, wie sie beispielsweise im Dialekt gegeben ist. Zudem haben einige Studenten hinter vorgetäuschter verbaler Stärke und Explizitheit verborgene Schwammigkeit und Ungenauigkeit kennengelernt. Es entstehen Unsicherheiten in Bezug auf Studieninhalte und allgemein den Sinn eines Studiums, die noch verschärft wer- den durch zunehmende Studienanforderungen im Rahmen der versuchten Ef- fektivierung von Lehre und Studium. Die Selbstdarstellungsrituale führen der Autor und einige Studenten auf eine Profilierungssucht zurück, die entsteht, wenn man sich an der Universität in keiner anderen Weise vergegenständlichen kann als sprachlich.

Insgesamt entsteht so ein Gefühl der Sinnentleertheit von Studium und Le- ben, das in krassem Gegensatz steht zu der humanistischen Motivation, mit der die meisten Studenten ihr Studium angetreten haben, dies führt zu gehemmtem Verhalten und in der Folge zu Isolation (womit sicher auch die stark gestiegenen Selbstmordraten von Studenten in Zusammenhang zu bringen sind. Anmer- kung des Rezensenten).

Den letzten Grund für die keineswegs überzeichnete Situation im studenti- schen Sprach- und Lebensbereich sieht der Autor in der Gesellschaftsform. In der erwähnten extremen Trennung von Hand- und Kopfarbeit hat sich die geisti-

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ge Arbeit auf Kosten der Handarbeit verselbständigt, ist aber wie diese unter kapitalistischen Zwängen verkrüppelt, da auch sie zerstückelt und der Speziali- sierung unterworfen wurde und wird. Diese Spezialisierung ist in der Universität nur mittels größter Explizitheit zu leisten, die sich aber im heutigen Spätkapita- lismus ins Gegenteil verkehrt, indem sich hinter ihr gerade Unexplizitheit ver- birgt, wie die Analyse der Studentensprache zeigt. Damit erweist sich die Spra- che der Universität entgegen den Aussagen der Sprachbarrierentheorie auch als kontext-abhängig, womit der Autor zwei zentrale Begriffe der Sprachbarrieren- theorie - Kontextfreiheit und Explizitheit - ad absurdum geführt hat. Kopfar- beit ist nur noch durch die Abstraktion von unmittelbaren Erfahrungen mög- lich, bedingt durch die allgemeine Loslösung von den materiellen Lebensgrund- lagen, wodurch der Student als werdender Kopfarbeiter immer weiter von der Quelle seiner Existenz und seiner Wissenschaft entfernt wird. Weil er - durch frühere Erfahrungen bedingt - nicht problemlos eingepaßt werden kann und zudem an eine Wissenschaft gerät, die selbst den Folgen der Trennung von Hand- und Kopfarbeit ausgesetzt ist, gelingt die Einpassung in den Universitäts- betrieb nur recht und schlecht, zumindest aber so weit, daß die geschilderten Probleme entstehen.

Weber hat sich nun mit seiner Arbeit das Ziel gesetzt, „auf der Ebene der Theorie die Gegenbewegung gegen diesen Prozeß zu unterstützen" (S. 267). Da- bei gerät er in das Dilemma, auf das er auch verweist (S. 267 f.), genau die Mittel anwenden zu müssen, die er zuvor kritisiert: Abstraktion und Explizitheit. Die sind zwar von Übel, seien aber nötig, um wirksam werden zu können, und so weist er Vorschlägen, die für das Üben einfacher und prägnanter Ausdruckswei- sen eintreten, einen „Hauch realitätsferner Romantik" (S. 268) zu. Deshalb, so folgert der Autor, seien Explizitheit und Abstraktion relationale Begriffe und nicht unbedingt negativ, weil eben das richtige Maß entscheidend sei. 'Relatio- nal' scheint hier eher die Bewertung zu sein, und 'positiv' das, was man für richtig hält. Romantik hat freilich in einem realistischen, fortschrittlichen Ge- sellschaftsbild (oder was man dafür hält) exotischen Charakter; dies ist nicht nur ein Dilemma dieser Arbeit, sondern des Marxismus allgemein, wenn zwar richtig erkannt wird, daß fehlende Romantik dem Menschen seelischen Schaden zufü- ge, aber die heilende Kraft zurückzugewinnender Romantik ignoriert oder abge- stritten wird. Allerdings ist solche Argumentation innermarxistisch stringent, und das ist das eigentliche Dilemma, das sich nur selten wie im Falle dieses Buches bei der Überbrückung von Widersprüchen offen zeigt.

III. Des Autors wissenschaftlicher Ansatz verlangt eine Auseinandersetzung mit marxistischem Denken, die um so schwerer zu führen ist, als es auf jedes Argument nicht-marxistischer Art ein marxistisches gibt und eine marxistische These, wenn sie „gut" sein will, ohnehin nur innermarxistisch angreifbar ist.

Dennoch soll hier eine Auseinandersetzung versucht werden, mit allen Nach- teilen der gebotenen Kürze, und zum einen deshalb, weil uns ein historisches

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Geschick den breiten Glauben an den wissenschaftlichen Marxismus beschert hat und uns zur Auseinandersetzung zwingt (nicht ungern denkt man sich statt dessen ebensolche Breitenwirkung Goetheschen Gedankenguts), zum anderen, weil versucht werden soll, der These, Marxismus sei eine Weltanschauung und es gebe deshalb auch den Glauben an ihn, ein wenig Stützung zu geben; und drit- tens, weil deutlich werden soll, daß die marxistische Denkweise, an deren Er- kenntnisstärke für Prozesse historisch-ökonomischer Art nicht gezweifelt wer- den soll, für Gegebenheiten im geistig-seelischen Bereich ungeeignet ist.

Will man nun irgendein gesellschaftlich-geistig-seelisches Phänomen auf seine Ursachen zurückführen und in seinen Folgen darstellen, so verlangt dies zwei sich widersprechende Vorgehensweisen. Zum einen muß die Historizität des Phänomens schrankenlos verfolgt werden bis hin zur - historischen - Relativie- rung der Tatsache, etwas überhaupt als Phänomen zu betrachten; und recht eigentlich beginnt hier erst wirklich historisches Denken. Zum anderen muß ebenso radikal versucht werden, den Gegenstand völlig geschichtslos zu be- trachten. Führt erstere Methodik zur individuellen und zeitgebundenen Be- dingtheit, so führt uns letztere in den kollektiven und zeitlosen Bereich menschli- cher Psyche. Erst aus dem Zusammenspiel beider Erkenntnis verfahren kann sich ein halbwegs adäquates Bild des untersuchten (Gesellschafts-)Bildes erge- ben, und dies trifft auf anderes ebenso zu wie auf Studentensprache.

Der Autor hat sich um beide bemüht, weit mehr Raum freilich dem der histo- rischen Perspektive zugemessen, ist aber nicht zur historischen Relativierung des eigenen Standpunktes vorgedrungen, die es ihm vielleicht ermöglicht hätte, auch der geschichtslosen Betrachtung einen Schritt näher zu kommen. Es ist eine Schwäche der Gedanken, die der Studentenbewegung von 1968 verhaftet sind, daß sie bei allem Willen zur Geschichtlichkeit sich selber nicht ebenso geschicht- lich und darum relativ begreifen können.

Das eingangs angeführte Zitat aus Rabelais' Pantagruel läßt vermuten, daß die auch vor 400 Jahren besondere Sprache der Studenten Folgen für deren Beziehungen zur Umwelt hatte; überhaupt zeigt ein noch zu vertiefender Blick in Literatur und Geschichte, daß Student zu sein anscheinend häufig Anlaß zu besonderem Verhalten und besonderer Sprache war und auch als auffällig aufge- nommen wurde: der Sturm und Drang ist vor allem eine studentische Bewegung, und sprachliche Verweigerung, Sprachprobleme haben Studenten in Schillers Räubern und Lenz' Hofmeister, die Studenten in Reuters Schelmuffsky sind unreife Aufschneider, im Goetheschen Faust I sind Studenten als Säufer und Schreihälse gezeichnet und stellen so einen Studententyp vor, der auch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts hervorgetreten ist, der Baccalaureus in Faust II wird als gedanklich und sprachlich über seine tatsächlichen Möglichkeiten hinausgehend dargestellt.

Auch extrem extro vertierendes Verhalten weist auf Unausgeglichenheiten see- lischer Art hin, die sich immer auch sprachlich manifestieren. Diese Perspektive, die als Anregung gemeint ist, relativiert die marxistische These des Autors, die

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heutigen Sprachprobleme seien zurückzuführen auf die heutige, extrem gewor- dene Spannung zwischen Hand- und Kopfarbeit. Gewiß trägt dieses Span- nungsverhältnis stark dazu bei, den Studenten innere Ausgeglichenheit zu ver- wehren, allgemeine Ursache aber ist es nicht.

Wenn also die Geschichte studentischen Daseins geradezu gekennzeichnet scheint von Verhaltens- und Sprachbesonderheiten, so stellt sich die Frage nach Gemeinsamkeiten der jeweiligen äußeren Situation3, die zu gleicher innerer Ver- fassung geführt haben und deren oberflächliches Aussehen aus der Mischung beider und der Einfarbung der spezifischen seelischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten der jeweiligen Epoche jedesmal andere Gestalt zeigt.

Gemeinsam für studentisches Dasein ist das bewußte und akzentuierte Ken- nenlernen von Erkenntnissen und Denkstrukturen. Hierin unterscheiden sich die Studenten von allen anderen gesellschaftlichen Gruppen, und das Bewußt- sein dieses Unterschieds, der euphorisch und dann großspurig-arrogant oder schmerzhaft und dann verunsichert-depressiv erfahren werden kann - oder auch beides zugleich -, stellt eine große Anforderung an die Psyche, der nur wenige gewachsen sind in dem Sinne, daß sie psychisch nicht mindestens zeitweise infla- tionäres oder depressives Verhalten zeigen.

Diese Gedanken sollen daraufhinweisen, daß gerade die menschliche Psyche, unter der hier immer auch Seelisches mitverstanden wird, komplexere Erklä- rungsversuche als marxistisch mögliche erfordert, und vor allem sollen sie ver- deutlichen, in welchem Maße es für solche Erklärungen entscheidend ist, was man unter Psyche versteht, wie man letztlich den Menschen begreift. Diese Ein- sicht weist auch dem Marxismus den Status einer Weltanschauung zu und relati- viert seine Wissenschaftlichkeit4, weil er sein eigenes, durch nichts als die An- sicht - im eigentlichen Sinne - begründetes Menschenbild in sich trägt. Dem Verständnis jeder Arbeit über Mensch und Gesellschaft würde es deshalb die- nen, das zugrunde liegende Menschenbild, das eben die Weltanschauung ent- scheidend beeinflußt, wenn nicht konstituiert, deutlich zu machen.

Wenn also Heinz Weber die studentischen Sprachprobleme aufgreift und nach den dargestellten Gesichtspunkten behandelt, so wie er sie kennengelernt hat, so liegt der Wert der Arbeit vor allem im engagierten Aufgreifen, indem die Proble- me, an deren Aktualität und Virtualität nicht zu zweifeln ist, noch einmal deut- lich gemacht werden.

In der Zeit zwischen dem gedanklichen Entstehen seiner Arbeit (wohl Mitte der 70er Jahre) und heute ist allerdings eine Verschiebung im studentischen Sprachbereich eingetreten, durch die Webers Themenbereich sicher nicht hinfäl- lig wird, aber dennoch gewisse Einschränkung erfährt. Ende der 70er Jahre sind

3 Wobei die Frage nach kollektiven inneren, d. h. seelischen Gegebenheiten hier ausge- spart bleiben soll. Sie muß aber ebenso ernsthaft gestellt werden.

4 Wie sich auch an den ganzen Abschnitt die Frage nach der Relativität von Wissen- schaftlichkeit überhaupt anknüpft.

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eine Reihe Arbeiten zur sogenannten Scene-Sprache entstanden (siehe stellver- tretend Schleuning 1980), die eine noch weitergehende und anders geartete Ver- weigerung akademischer Sprachgewohnheiten dokumentieren. In der alternati- ven Bewegung, die als Zentrum der Scene-Sprache zu verstehen ist, ist eine neue Sprache entstanden, die auch Einzug in die Universitäten gehalten hat, wenn die Bewegung selbst auch anders als vor zehn Jahren Arbeiter, Lehrlinge und Schü- ler miteinbezieht. Auch die sprachliche und soziale Situation der Frau ist stärker in den Vordergrund des Interesses gerückt.

Im gleichen Maße sind auch marxistische Analyse-Ansätze zurückgegangen;

die Eigenart der Scene-Sprache weist auf andere Gedankenführungen als marxi- stische, das in der Sprache dokumentierte Lebensgefühl fordert andere Heran- gehensweisen. Dies zeigt noch einmal die Relativität des marxistischen Stand- punktes.

Literaturnachweis

[Bernstein u.a.] Bernstein, Basil u.a.: Lernen und soziale Struktur. - Amsterdam 1970.

[Dahrendorf 1968] Dahrendorf, Ralf: Homo Sociologicus. - Köln & Opladen 1968.

[Dittmar 1971] Dittmar, Norbert: Möglichkeiten einer Soziolinguistik. Zur Analyse rollen- spezifischen Sprachverhaltens. - In: Sprache im technischen Zeitalter 38 (1971), 87-105.

[Holzkamp 1973] Holzkamp, Klaus: Sinnliche Erkenntnis. Historischer Ursprung und ge- sellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. - Frankfurt am Main 1973.

[Lefebvre 1973] Lefebvre, Henri: Sprache und Gesellschaft. (Deutsche Übersetzung von Erwin Stegentritt). - Düsseldorf 1973.

[Lorenzer 1970] Lorenzer, Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. - Frankfurt am Main 1970.

[Lorenzer 1972] -: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie. - Frank- furt am Main 1972.

[Oevermann 1972] Oevermann, Ulrich: Sprache und soziale Herkunft. - Frankfurt am Main 1972.

[Parsons/Bales 1964] Family, socialization and interaction process. Ed. by Talcott Parsons and R. F. Bales. - Glencoe, Illinois 1964.

[Schleuning 1980] Schleuning, Peter: Scene-Sprache. - In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 16 (1980), 9-44.

[Wygotski 1971] Wygotski, Lew Semionowitsch: Denken und Sprechen. - Frankfurt am Main 1971.

Eingereicht am 15.2.1982

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