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Doch bereits damals waren Stimmen laut geworden, nicht mehr arbeiten gehen zu wollen, wenn es nicht mehr zu essen gebe

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Academic year: 2022

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97 | 1944: BESCHWÖRUNG

»HABEN SIE LÖWENZAHN ZUM SALAT SCHON VERSUCHT?«

Auch 1944 hungerten die Menschen nicht, bis Kriegsende war die Versor- gung mit Grundnahrungsmitteln einigermaßen gesichert. Aber die Menge der Zuteilungen nahm ab, für städtische Haushalte und da besonders für jene der Arbeiterschaft wurde es eng. Sie hatten weder ausreichend Zeit noch Besitz, um wie so viele andere aufs Land zu fahren und zu hamstern. Die Bauern wollten nicht Geld, sondern Ware. Der Unmut unter den Arbeite- rinnen war enorm, 1944 noch weitaus stärker als im Jahr zuvor. Doch bereits damals waren Stimmen laut geworden, nicht mehr arbeiten gehen zu wollen, wenn es nicht mehr zu essen gebe. Vor dem Einsperren hatten diese Frauen keine Angst; im Gefängnis, glaubten sie, sich den Bauch vollschlagen zu kön- nen, und auf die Kinder würden die Behörden schon schauen. »Uns Alten«, fasste der Sicherheitsdienst der SS Unmutsäußerungen zusammen, »geben’s immer weniger zum Fressen, wir sollen krepieren, damit sie nicht soviele Leute zum Versorgen haben. Die Hauptsache war, daß wir Ihnen die Kinder großgezogen haben.«62

Am stärksten traf der Mangel an Gemüse, Brot, Kartoffeln, Butter, Eier, Milch und Fleisch die ausländischen Arbeitskräfte und Kriegsgefangenen, besonders jene, die in einem der vielen Lager gehalten waren, die Tirol von Nord bis Süd und West bis Ost übersäten. In Schwaz forderte der Bürger- meister die Bevölkerung auf, hungernden Ausländern kein Brot zuzustecken, sie wären ausreichend verpflegt, es handle sich lediglich um Gewohnheits- betteleien.63 Zu Beginn des Jahres 1944 waren laut dem Luftwaffenbeauftrag- ten in den Lagern wochenlang keine Kartoffeln mehr vorrätig, selbst Speise- rüben waren knapp. Die Bekleidung und das Schuhwerk bezeichnete selbst die Rüstungsinspektion der Wehrmacht als katastrophal.64

Ausländische Zwangsarbeiter bastelten aus einfachsten Materialien wahre Kleinode, um sie für ein paar Pfennige an ihrem Arbeitsplatz zu verkaufen.

Sowjetische Kriegsgefangene stellten im Jenbacher Heinkel-Werk, dem größ- ten Rüstungsbetrieb Tirols, Nähkassetten mit schönen Ornamenten aus gefärbten Strohhalmen her: »Der Standardpreis für eine Kassette war ein Kilo Brot. In den Staner Bauernstuben standen auch ein paar solche Kas- setten, die ich für diese ausgehungerten Gestalten verschachert habe«, erin- nert sich Karl Heiß, Arbeiter bei Heinkel. Wegen der Bombengefährdung übersiedelte die mechanische Abteilung des Rüstungsunternehmens im Mai 1944 in den Straßenstollen beim Seehof, der zum Teil bereits ausgebaut war.

Während die sowjetischen Zwangsarbeitskräfte in ein neu errichtetes Lager

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1944: BESCHWÖRUNG | 98 am Eingang des Stollens gepfercht wurden, wohnte Karl Heiß mit sei- nen Arbeitskameraden im Hotel Scholastika: »Die Arbeitszeit war nun durch nichts mehr unterbro- chen und dauerte bei der Tagschicht von 6–18 Uhr und bei der Nacht- schicht von 18–6 Uhr. Als Alter- native hätte man ja auch Soldat werden können, doch das kam noch früh genug. Vorläufig erfüllten wir unsere Pflicht in der Heimat.«65 Die Wirtin des Hotels war eine groß- zügige Frau, sie beschenkte die ein- heimischen Arbeiter mit Zigaretten, denn mit der Raucherkarte erhiel- ten sie täglich nur mehr zwei Stück.

Die Arbeitstage waren immer härter und länger, einmal schliefen sie nur wenige Stunden in einer Woche mit zweiundsiebzig Stunden Arbeit. »Aber schön war’s«, sinniert Karl Heiß.

Speck und Musikunterhaltung entschädigten. »Manche wunderten sich schon, wie wir das aushalten, aber wir dachten uns: ›Freu dich deines Lebens, denn es ist schon später als du denkst.‹« Allerdings: »Nicht so schön war das Leben für unsere gefangenen Russen. Ihre Suppe wurde immer dünner, weil die von Jenbach an die Lagerküche gelieferten Lebensmittel unterwegs zum Teil verschoben wurden.«66 Die Lage wurde so unerträglich, dass die sowje- tischen Arbeiter in den Hungerstreik traten: »Die Russen stellten sich mit ihren Eßnäpfen zur Essenausgabe an. Ein Russe ging zum Kessel und machte den Deckel auf. Dann rührte er mit einer langen Kelle die Suppe auf und ließ eine volle Kelle langsam in den Kessel zurücklaufen. Es war nur eine braune Brühe, das bloße Wasser, kein Stückchen Gemüse, keine Bohne oder Erbse.

Er machte den Deckel wieder zu. Wie auf Kommando gingen alle schwei- gend auf ihre Plätze und warteten das Ende der Pause ab. In dieser gespann- ten Atmosphäre schmeckte uns unsere mitgebrachte Jause auch nicht mehr so recht.« Die Zwangsarbeiter verrichteten weiterhin ihre Schicht, meldeten dem Lagerkommandanten aber ihren Hungerstreik. Schließlich kam ein Offizier aus dem Stammlager aus Salzburg, nach seinen Untersuchungen bes-

Kriegskochbuch um 1940. Kochen war eine Überlebens- arbeit, aber auch ein Beitrag zur Stabilisierung der Hei- matfront und Verlängerung des Krieges.

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99 | 1944: BESCHWÖRUNG

serte sich die Verpflegung für die Gefangenen. Das Regime fürchtete einen Aufstand, im Werk waren einheimischen Arbeitskräften schon zuvor Revol- ver angeboten worden, sie lehnten jedoch ab, »denn wir wären chancenlos gewesen« im Fall einer Revolte, so Karl Heiß.67

Die Ausgabe von Lebensmitteln, Rauchwaren und Konsumgütern über Bezugskarten war nicht nur im Krieg, sondern auch noch in den ersten Jahren der Zweiten Republik nötig. (Fotos: Bildchronik Hall)

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