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Archiv "Conterganschädigungen: „Wir wollen nicht mehr kämpfen“" (15.02.2013)

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A 256 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 110

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Heft 7

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15. Februar 2013

CONTERGANSCHÄDIGUNGEN

„Wir wollen nicht mehr kämpfen“

Jahrzehntelang war nicht klar, wie es den contergangeschädigten Menschen in Deutschland geht. Ein Forschungsprojekt sollte Informationen liefern. Die nun vorliegenden Ergebnisse zeigen:

Den Betroffenen geht es schlechter als erwartet. Deshalb muss Hilfe schnell greifen.

B

ereits kurz nach dem Aufste- hen benötigt Gernot Stracke Hilfe. Beim Haarewaschen zum Bei- spiel, beim Eincremen und beim Brötchenschmieren. Seine Mutter hat, während sie mit ihm schwanger war, eine einzige Tablette des Schlaf- und Beruhigungsmittels Contergan eingenommen. Deshalb fehlen Stra- cke heute fast gänzlich beide Arme sowie an jeder Hand drei Finger.

„Die häusliche Pflege übernimmt seit 25 Jahren meine Frau“, sagt der 51-jährige Sales Manager. „Wir sind ein eingespieltes Team.“ Und doch:

„Der Aufwand ist immens.“ Und der Morgen ist erst der Anfang.

Was für die meisten Menschen selbstverständlich ist, muss Stracke Tag für Tag exakt organisieren.

Wenn er für seine Firma beispiels- weise eine Dienstreise macht, muss er für seine Begleitperson mit pla- nen, muss für sie Flug und Hotel- zimmer buchen. Dabei macht es ihm die Gesellschaft, mehr als 40 Jahre nach Aufdeckung des Conter- ganskandals, nicht leicht.

„Es muss jetzt endlich eine Lösung her“

Als Stracke vor vielen Jahren sei- nen Arbeitsplatz wechselte, benö- tigte er fortan die tägliche Hilfe eines Zivildienstleistenden, um auf die Toilette gehen zu können. Er stellte einen Antrag bei der Pflege- kasse, die ablehnte, da sie nur für die häusliche Pflege zuständig sei.

Sie verwies ans Arbeitsamt. Das Ar- beitsamt wiederum lehnte ab, weil der Toilettengang nicht zur Aus- übung der Arbeit zähle, und ver- wies zurück an die Pflegekasse. An die Pflegekasse verwies auch das Integrationsamt, an das sich Stracke als Nächstes wandte. Weil niemand für den Zivildienstleistenden zahlen wollte, lief Stracke zwischenzeit-

lich Gefahr, seinen neuen Job zu verlieren, bevor er ihn angetreten hatte. Schließlich übernahm doch das Integrationsamt. Es ging um 150 Euro im Monat.

Von Geschichten wie dieser kann Stracke eine Menge erzählen. „Wir sind es dermaßen leid, ständig in Widerspruchsverfahren gehen zu müssen, um unsere berechtigten Interessen durchzusetzen“, sagt er.

„Wir wollen das nicht mehr. Und wir können das nicht mehr. Es muss jetzt endlich eine Lösung her, die uns in die Lage versetzt, uns unsere Hilfe selbst zu organisieren.“

Eine solche Lösung könnte der- zeit näher sein als jemals zuvor.

Denn im Januar dieses Jahres hat das Institut für Gerontologie der Uni- versität Heidelberg den Abschluss - bericht eines Forschungsprojekts vorgelegt, das Lebensqualität und den Bedarf Contergangeschädigter erstmals wissenschaftlich fundiert analysiert hat. Ergebnis: Den conter- gangeschädigten Frauen und Män- nern in Deutschland geht es schlecht.

„Die vorgeburtlichen Schä digungen

haben sich in einer Art verschlim- mert, dass wir gesundheitliche Be- lastungen, Schmerzen und funktio- nelle Einbußen beobachten müssen“, sagte Prof. Dr. Andreas Kruse, Direktor des Instituts, bei einer Anhörung vor dem Familienaus- schuss des Deutschen Bundestages am 1. Februar. Hinzu kämen Fol - geschäden, die zu schweren Einbu- ßen der funktionellen Kompetenz und zu Schmerzzuständen führten, sowie Spätschäden beispielsweise des Zentralnervensystems und inne- rer Organe.

„Ich habe häufig Schmerzen in der Halswirbelsäule“, bestätigt Stracke. „Weil wir uns in die Ge- sellschaft integrieren wollten, ha- ben wir über Jahrzehnte unsere Muskeln, unsere Gelenke und unser Skelett vergewaltigt.“ Und es geht noch darüber hinaus. „Um während meiner Arbeitszeit nicht auf die Toilette gehen zu müssen, habe ich zehn Jahre lang nur 0,3 Liter Flüs- sigkeit pro Tag zu mir genommen“, erzählt Stracke. Die Folge: Blasen- probleme und Nierensteine.

Verkürzte Arme sind offensichtliche Beeinträchtigungen vieler contergan - geschädigter Men- schen. Spätfolgen sind jedoch erst heute ersichtlich.

Fotos: dpa

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15. Februar 2013 A 257 So vielfältig die gesundheitli-

chen Probleme contergangeschä- digter Menschen sind, so wenig ist die Medizin in Deutschland auf ihre spezifischen Leiden vorbereitet. „In Deutschland gibt es kaum Ärzte und Therapeuten, die wissen, wie sie uns behandeln sollen“, sagt Stracke. Deshalb sei es wichtig, schnell interdisziplinäre Zentren aufzubauen, die sich auf die Be- handlung von contergangeschädig- ten Menschen, aber ebenso auf die Behandlung von Menschen mit Dysmelien, spezialisierten.

Dieser Ansicht ist auch Prof. Dr.

med. Klaus M. Peters. Bereits im Jahr 2000 hat der Leiter der Klinik für Orthopädie und Osteologie an der Dr.-Becker-Rhein-Sieg-Klinik im nordrhein-westfälischen Nüm- brecht, 60 Kilometer östlich von Köln, in Absprache mit dem Inter - essenverband Contergangeschädig- ter Köln, eine auf contergange - schädigte Patienten ausgerichtete Sprechstunde aufgebaut. Heute gibt es in der Klinik ein speziell ge- schultes Team sowie Zimmer mit höhenverstellbaren Waschbecken und Betten sowie für Patienten mit Dysmelien hergestellte Toiletten.

„Um den Bedarfen der älter werdenden contergangeschädigten Menschen in Deutschland gerecht zu werden, brauchen wir bundes- weit zwei bis vier Zentren“, sagt Peters. Bis heute gibt es jedoch nur wenige Ärzte in Deutschland, die sich auf contergangeschädigte Pa- tienten spezialisiert haben. Wieso sollte sich das jetzt ändern? „Ich glaube, die Ärzteschaft und die Öf- fentlichkeit sind für die massiven Probleme der Betroffenen heute stärker sensibilisiert als in den ver- gangenen Jahrzehnten“, meint er.

Hohe Unterversorgung und Schmerzhäufigkeit Sensibilisiert scheint heute auch die Politik zu sein. Nachdem die Bun- desregierung vor vier Jahren das Forschungsprojekt der Universität Heidelberg in Auftrag gegeben hat, hat der Koalitionsausschuss nun 120 Millionen Euro für die Verbes- serung der Lebensqualität conter- gangeschädigter Menschen bewil- ligt. Wie die Lebensqualität konkret verbessert werden soll, schlagen die Autoren der Studie in verschiede- nen Handlungsempfehlungen vor (siehe Kasten).

„Wir verstehen die 120 Millionen Euro als Soforthilfe“, sagte der Vor- sitzende des Interessenverbandes Contergangeschädigter Nordrhein- Westfalen, Udo Herterich, bei der Anhörung im Deutschen Bundes- tag. „Es ist auch höchste Zeit. Denn ohne eine deutliche Erhöhung der Renten wird unsere hart erkämpfte Lebensselbstständigkeit, wird sin- gen im Chor, kochen oder spazieren gehen nicht mehr möglich sein.“

9 000 Euro monatlich wie in Groß- britannien seien dafür vorbildlich.

„Einige Ergebnisse der Studie, wie ein derart hoher Grad der Un- terversorgung und der Schmerzhäu- figkeit, hätten wir in dieser Deut- lichkeit nicht erwartet“, sagte die Erste Vorsitzende des Bundes - verbandes Contergangeschädigter, Margit Hudelmaier. Und der Vor - sitzende des Contergannetzwerks Deutschland, Christian Stürmer, be- tonte: Das Geld müsse möglichst eins zu eins bei den Betroffenen an- kommen: „Wir wollen nicht bei In- stitutionen betteln gehen, sondern wir wollen ein System, in dem die Betroffenen bekommen, was sie

benötigen.“

Falk Osterloh

Für das Forschungsprojekt füllten 870 der et- wa 2 700 in Deutschland lebenden contergan- geschädigten Menschen Fragebogen aus, 285 wurden in biografischen Interviews befragt.

Die Autoren des Abschlussberichts weisen zu- nächst auf die Heterogenität der Gesamtgrup- pe Contergangeschädigter hin: Die Ergebnisse der Analyse zeigten, dass zwischen den Grup- pen der Vierfachgeschädigten, der Gehörlosen oder der Frauen und Männer mit hoher funk- tioneller Einschränkung „zahlreiche Unter- schiede in körperlichen, psychologischen, so- zialen und versorgungsbezogenen Merkmalen bestehen“. Bei allen Betroffenen ähnlich sei hingegen, dass sie sich „schon sehr früh ho- hen Entwicklungsanforderungen ausgesetzt sahen, die durch die Notwendigkeit, weitge- hend selbstständig Kompensationsstrategien zu entwickeln, bedingt waren“. Contergange- schädigte hätten bereits früh gelernt, Selbst- ständigkeit und Selbstverantwortung zu entwi- ckeln, um zu einer selbstbestimmten Lebens-

gestaltung zu gelangen. Sie hätten zudem eine vergleichsweise hohe Zufriedenheit mit dem Umfang des eigenen sozialen Netzwerks und der Qualität der sozialen Beziehungen erken- nen lassen.

Mit dem Eintritt ins Berufsleben jedoch habe sich gezeigt, dass „soziale und institutionelle Barrieren“ dazu geführt hätten, dass Berufs- wunsch und letztlich ausgeübte Berufstätigkeit häufig nicht übereinstimmten. „Die entwickel- ten Kompensationsstrategien wie auch der kompetente Umgang mit den bestehenden Umweltbedingungen stoßen mittlerweile an Grenzen“, heißt es in dem Bericht, „so dass die einmal erzielte Stabilität der Lebensbedin- gungen zunehmend gefährdet erscheint.“

Gründe dafür seien vor allem gesundheitliche Probleme: die Schädigungen der betroffenen Gelenke, Schmerzzustände oder psychische Belastungen. Die Zukunft werde als unsicher oder bedrohlich wahrgenommen, heißt es wei- ter, unter anderem infolge wachsender Ein-

schränkung der eigenen Mobilität, einer nicht mehr sichergestellten Assistenz oder feh- lender Sensibilität der medizinischen, rehabili- tativen und pflegerischen Versorgung. „Diese Sorgen erscheinen unbedingt gerechtfertigt“, schreiben die Autoren, was die Forderung na- helege, zu einer Neubewertung der Versorgungs- und Unterstützungsleistungen zu gelangen.

Konkret fordern die Autoren unter anderem, die Conterganrente deutlich zu erhöhen, um einen wirksamen Ausgleich für Einkommens- verluste zu schaffen. Zudem müsse die per- sönliche Assistenz „unabhängig von möglichen familiären und eigenen finanziellen Leistun- gen“ sichergestellt werden. Denn die Assis- tenzleistungen würden künftig zunehmen, da sich der Funktionsstatus der Betroffenen wei- ter verschlechtern werde. Wichtig sei darüber hinaus eine deutliche Erleichterung von An- tragsverfahren, die Einrichtung multidisziplinä- rer Kompetenzzentren sowie die Kostenüber- nahme von Heil- und Hilfsmitteln.

SCHMERZEN UND ZUKUNFTSANGST

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