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Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen:

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der öffentlichen Finanzen

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Inhalt

Vorwort . . . Seite 5

I. Einführung . . . Seite 7 1.1 Konzeptioneller Hintergrund . . . Seite 7 1.2 Ökonomische Bedeutung tragfähiger öffentlicher Finanzen . . . Seite 9 1.3 Ausgangslage . . . Seite 10 1.4 Mögliche Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen . . . Seite 11 1.4.1 Auswirkungen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise . . . Seite 11 1.4.2 Herausforderungen durch den demografischen Wandel . . . Seite 13 1.4.3 Sonstige Risiken . . . Seite 16

II. Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen

Finanzen . . . Seite 17 2.1 Erläuterungen zur Methodik . . . Seite 17 2.1.1 Messkonzept . . . Seite 17 2.1.2 Tragfähigkeitsindikatoren der EU-Kommission („sustainability gaps“) . . Seite 18 2.2 Annahmen der Modellrechnungen . . . Seite 20 2.3 Ergebnisse . . . Seite 23 2.3.1 Basisvarianten . . . Seite 23 2.3.2 Alternative Varianten . . . Seite 29 2.4 Internationaler Vergleich . . . Seite 35 2.5 Rückblick: Entwicklung der Tragfähigkeitslücken im Zeitablauf . . . Seite 40

(6)

S e i t e 4 I n h a l t

III. Die Rolle der Politik bei der Sicherung tragfähiger

öffentlicher Finanzen . . . Seite 43 3.1 Leitlinien einer Politik für tragfähige öffentliche Finanzen . . . Seite 43 3.2 Ansatzpunkte in der Finanzpolitik . . . Seite 44 3.2.1 Nationale Ebene . . . Seite 44 3.2.2 Europäische Ebene . . . Seite 49 3.3 Ansatzpunkte in anderen Politikfeldern . . . Seite 52 3.3.1 Wachstum und Beschäftigung . . . Seite 52 3.3.2 Zuwanderungspolitik . . . Seite 54 3.3.3 Bildungs- und Innovationspolitik . . . Seite 55 3.3.4 Systeme der sozialen Sicherung . . . Seite 56 3.3.5 Familienpolitik . . . Seite 57

IV. Fazit und Ausblick . . . Seite 58 Abbildungs- und Tabellenverzeichnis . . . Seite 60 Impressum . . . Seite 61

(7)

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

uns allen hat die Finanzmarkt- und Wirt­

schaftskrise vor Augen geführt, wie wich­

tig ein handlungsfähiger Staat ist. Die Bundesregierung konnte durch ihr ent­

schlossenes Handeln dazu beitragen, dass Deutschland besser durch die Krise ge­

kommen ist als viele andere Länder. Aller­

dings hatten die stabilisierenden Maß­

nahmen auch ihren Preis: Der Schulden­

stand der Bundesrepublik Deutschland ist sprunghaft in die Höhe geschnellt. Umso mehr gilt es, die Solidität der öffentlichen Finanzen sicherzustellen, indem wir nachhaltig konsolidieren und zugleich die Weichen für die Zukunft richtig stel­

len.

Dabei kommt der langfristigen Tragfä­

higkeit der öffentlichen Finanzen beson­

dere Bedeutung zu. Im übertragenen Sinn erinnert der Begriff der Tragfähigkeit an den Bau eines Hauses: Nur wenn das Ge­

bäude auf einem soliden Fundament steht, ist gewährleistet, dass die gesamte Struktur das Haus auch langfristig trägt.

Tragfähig sind öffentliche Finanzen, wenn der Staat seinen finanziellen Ver­

pflichtungen – beispielsweise in den Be­

reichen Rente, Arbeitsmarkt, Gesundheit, aber auch für die Zins- und Personalaus­

gaben – langfristig nachkommen kann.

Nur wenn dies gegeben ist, bleibt der Staat handlungsfähig und bleibt das Ver­

trauen von Finanzmarktteilnehmern, In­

vestoren und nicht zuletzt der Bürgerin­

nen und Bürger in unsere Soziale Markt­

wirtschaft erhalten.

Mit dem vorliegenden Dritten Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finan­

zen informiert das Bundesministerium der Finanzen die Öffentlichkeit über die langfristige Entwicklung der öffentlichen Finanzen bis zum Jahr 2060. Die Rolle die­

ses Berichts ist am besten mit der eines Frühwarnsystems zu vergleichen: Die Er­

gebnisse der Modellrechnungen zeigen, in welchem Ausmaß bereits heute Hand­

lungsbedarf besteht, um die Solidität der öffentlichen Finanzen sicherzustellen.

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S e i t e 6 V o r w o r t

Der Bericht macht deutlich, dass sich die Tragfähigkeit der öffentlichen Finan­

zen – nicht zuletzt aufgrund der Auswir­

kungen der Finanzmarkt- und Wirt­

schaftskrise – im Vergleich zum Zweiten Tragfähigkeitsbericht von 2008 ver­

schlechtert hat. Dennoch sind wir in Deutschland auf einem guten Weg. Ver­

glichen mit letztem Jahr ist bereits wieder eine erste Verbesserung der Tragfähigkeit zu verzeichnen. Sowohl die neu im Grund­

gesetz verankerte Schuldenregel als auch die erfolgreich begonnene wachstums­

freundliche Konsolidierung stehen im Einklang mit den Vorgaben des Europäi­

schen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und werden maßgeblich dazu beitragen, die Schuldenstandsquote weiter sinken zu lassen.

Dr. Wolfgang Schäuble Bundesminister der Finanzen

Allerdings besteht kein Anlass, sich mit dem bisher Erreichten zufrieden zu ge­

ben. Ganz im Gegenteil: Es wird in Zu­

kunft darum gehen, die grundgesetzliche Schuldenregel dauerhaft und verlässlich einzuhalten und gleichzeitig die Voraus­

setzungen für Wachstum und Beschäfti­

gung in Deutschland weiter zu verbes­

sern. Die Botschaft des vorliegenden Trag­

fähigkeitsberichts ist eindeutig: Wir kön­

nen die Herausforderungen von morgen bewältigen, wenn wir bereits heute auch unbequeme Schritte einleiten, für die der Bericht konkrete Ansatzpunkte nennt.

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I. Einführung

Mit dem Dritten Bericht zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen führt das Bundesministerium der Finanzen (BMF) seine Berichterstattung der Jahre 2005 und 2008 fort. Der Bericht trägt dazu bei, dass langfristige Herausforderungen für die öffentlichen Haushalte besser wahrge­

nommen werden und in die politische Meinungsbildung einfließen. Um politi­

sche Entscheidungen zur Sicherung trag­

fähiger öffentlicher Finanzen auf eine fundierte und nachvollziehbare Basis zu stellen, ist es notwendig, sowohl die künf­

tige finanzpolitische Entwicklung als auch die Wirksamkeit von Reformen und Reformoptionen so gut wie möglich abzu­

schätzen. Das BMF hat daher unabhän­

gige Wirtschaftswissenschaftler mit den Modellrechnungen beauftragt, die die­

sem Bericht zugrunde liegen.1

Das Einhalten der neuen, im Grundge­

setz verankerten Schuldenregel wird in den Modellrechnungen nur bis zum Jahr 2015 unterstellt. Dies geschieht mit der Absicht, den Handlungsbedarf offen zu le­

gen, der zur langfristigen Sicherung soli­

der Staatsfinanzen besteht. Dadurch wird zudem deutlich, dass weitere politische Entscheidungen zur Konsolidierung der Haushalte erforderlich sind, um die Schul­

denregel auch in Zukunft einhalten zu können. Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen bergen beispiels­

weise der starke Anstieg des Schulden-

standes, den nicht zuletzt die Finanz­

markt- und Wirtschaftskrise mit sich ge­

bracht hat, aber auch andere langfristige Herausforderungen, wie insbesondere der demografische Wandel, der sich spür­

bar auf die künftige Entwicklung der öf­

fentlichen Finanzen auswirken wird.

1.1 Konzeptioneller Hinter­

grund

Das Konzept der Tragfähigkeit der Staats­

finanzen hat die langfristige Entwicklung der öffentlichen Haushalte im Blick. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik dauerhaft so fortgeführt werden können wie bisher, oder ob politischer Handlungsbedarf be­

steht, um den Anstieg der Staatsverschul­

dung aufzuhalten bzw. umzukehren. Es handelt sich somit um ein Konzept, das die Nachhaltigkeit (engl. „sustainability“) der Politik unter finanzpolitischen Ge­

sichtspunkten bewertet.

Verantwortungsvolle Finanzpolitik muss deshalb weit in die Zukunft rei­

chende Wirkungszusammenhänge be­

rücksichtigen, um mögliche Fehlentwick­

lungen früh genug zu erkennen und dem­

entsprechend rechtzeitig gegensteuern zu können. Um zu bewerten, ob die Finan­

zen eines Staates tragfähig sind, sollte eine Vielzahl von Parametern in den Blick 1. Prof. Martin Werding, Ruhr-Universität Bochum, in Kooperation mit dem ifo-Institut, München.

(10)

S e i t e 8 E i n f ü h r u n g

genommen werden.2 So spielt beispiels­

weise – neben der zukünftigen wirtschaft­

lichen Entwicklung – die Struktur der staatlichen Ausgaben eine wichtige Rolle.

Für eine sorgfältige Beurteilung ist es da­

her erforderlich, eine möglichst umfas­

sende Analyse der zukünftigen Entwick­

lung der Staatsfinanzen vorzunehmen – so wie es mit den Modellrechnungen in diesem Bericht geschieht.

Der vorliegende Bericht analysiert die öffentlichen Haushalte insgesamt, also die Haushalte von Bund, Ländern, Ge­

meinden und den Sozialversicherungen.

Nur wenn alle staatlichen Ebenen ihren fi­

nanziellen Verpflichtungen – beispiels­

weise in den Bereichen Rente, Arbeits­

markt, Gesundheit, aber auch für Zins- und Personalausgaben – langfristig nach­

kommen können, ist die Tragfähigkeit der Finanzpolitik gewährleistet.

Die Berechnungen umfassen den Zei­

traum von 2010 bis 2060, reichen also weit in die Zukunft. Die Ergebnisse der Modell­

rechnungen sind dabei keine Prognosen, sondern sie veranschaulichen die hypo­

thetische Entwicklung der staatlichen Fi­

nanzen unter der Annahme, dass die bis­

herige Politik unverändert beibehalten wird. Damit kommen die Berechnungen einem Frühwarnmechanismus gleich:

Die auf dieser Grundlage ermittelten Indi­

katoren geben Auskunft darüber, in wel­

chem Ausmaß bereits heute weitere Maß­

nahmen notwendig sind, um die Tragfä­

higkeit der öffentlichen Finanzen lang­

fristig sichern zu können. Bei der Interpre­

tation der Ergebnisse ist große Sorgfalt er­

forderlich (vgl. Kasten 1).

Kasten 1:

Zur Aussagekraft von Tragfähigkeitsanalysen

„Die Beurteilung der Nachhaltigkeit bestimmter ökonomischer Aktivitäten und Politi­

ken erfordert eine nicht ganz unbedeutende Ausweitung der Perspektive: Bei Fragen der Nachhaltigkeit verlassen wir die auf unverrückbaren Fakten beruhende Berichterstattung über den derzeitigen Zustand und begeben uns auf das Gebiet von Projektionen in die Zu­

kunft. Dies ist nicht mit der Prognose zukünftiger Entwicklungen gleichzusetzen, da Pro­

gnosen eine Annahme über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse beinhalten. Die Diskussion der Nachhaltigkeit hingegen befasst sich mit den Konsequenzen einer dauer­

haften Fortschreibung gegenwärtiger Aktivitäten und Entscheidungen in die Zukunft.

Demzufolge sind Aussagen zur Nachhaltigkeit „was wäre, wenn“-Aussagen, die mögliche Konsequenzen eines bereits eingeschlagenen Aktionspfades beschreiben.“

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Conseil d’Analyse économique: Expertise „Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikato­

rensystem“ (Dezember 2010), S. 107.

2. Vgl. Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2010/11, Tz 336. Abrufbar unter: http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de.

(11)

zonts sind Tragfähigkeitsberechnungen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet und können somit nur Modellcharakter haben. Um das deutlich zu unterstrei­

chen, kommen in diesem Bericht zwei Ba­

sisvarianten zum Einsatz: Die „Variante T–“ ist von einem durchgängigen Pessi­

mismus getragen, während die „Variante T+“ durchgängig optimistische Annah­

men enthält. Zusammen genommen be­

schreiben die beiden Varianten einen Korridor möglicher künftiger Entwicklun­

gen, ohne dass die dahinter stehenden Szenarien als extrem erscheinen. So wird es möglich, Risiken und Chancen für die Sicherung langfristig solider Staatsfinan­

zen aufzuzeigen, ohne den Blick von vorn­

herein auf eine mehr oder minder willkür­

lich ausgewählte Linie zu verengen. Kom­

plettiert wird die Darstellung der beiden Basisvarianten von Alternativrechnun­

gen, die den Einfluss abweichender An­

nahmen und Berechnungsansätze veran­

schaulichen.

1.2 Ökonomische Bedeu­

tung tragfähiger öffent­

licher Finanzen

Solide öffentliche Finanzen garantieren die Handlungsfähigkeit des Staates. So hat beispielsweise die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise gezeigt, dass ein Staat, der in schlechten Zeiten finanzielle Spiel­

räume besitzt, durch entschlossenes Han­

deln dazu beitragen kann, die wirtschaft­

liche Entwicklung zu stabilisieren. Aber auch in guten Zeiten sind solide Staatsfi­

nanzen unerlässlich, um beispielsweise wichtige Zukunftsinvestitionen finanzie­

ren zu können, etwa in den Bereichen Bil­

dung und Forschung. Wenn dagegen ein steigender Schuldenstand dazu führt,

von Jahr zu Jahr größeren Raum einneh­

men, dann schränkt dies den Handlungs­

spielraum des Staates zunehmend ein. In diesem Zusammenhang müssen auch die wichtigsten Ausgabenbereiche des Staa­

tes regelmäßig auf ihre Effizienz und auf ihre dauerhafte Finanzierbarkeit hin überprüft werden.

Tragfähige Staatsfinanzen bringen auch wichtige Vertrauenseffekte mit sich: Wenn beispielsweise die Finanz­

märkte darauf vertrauen, dass ein Staat ein zuverlässiger und leistungsfähiger Schuldner ist, dann sind sie bereit, diesem Staat zu vergleichsweise günstigen Kondi­

tionen Geld zu leihen. Die Schuldenlast ist dann deutlich geringer als bei einem Staat, dem weniger Vertrauen entgegen gebracht wird und der infolgedessen Zins­

aufschläge in Kauf nehmen muss. Darü­

ber hinaus wirkt sich die Erwartung von Bürgern und Unternehmen, dass ein Staat auch in Zukunft handlungsfähig sein wird, positiv auf Investitionen und Kon­

sum aus. Zweifel an der Solidität der Staatsfinanzen können dagegen sowohl bei Unternehmen als auch bei Konsumen­

ten zu einem zögerlichen, abwartenden Verhalten führen und damit das Wirt­

schaftswachstum dämpfen. Daher ist es im ureigenen Interesse eines jeden Staa­

tes, mit einer umsichtigen und voraus­

schauenden Fiskalpolitik dafür zu sorgen, dass erst gar keine Zweifel an seiner dau­

erhaften Solidität aufkommen.

Zwischen einer soliden Haushaltsfüh­

rung und einem dauerhaften Wirt­

schaftswachstum bestehen wichtige Rückkopplungseffekte: Einerseits ist

„gute“ Finanzpolitik eine wichtige Vor­

aussetzung für dauerhaft günstige Wachstums- und Beschäftigungsbedin­

gungen. Umgekehrt gilt aber auch: An­

haltendes Wirtschaftswachstum und ein damit einhergehender Beschäftigungsan­

(12)

S e i t e 1 0 E i n f ü h r u n g

stieg schaffen die besten Voraussetzun­

gen für solide finanzierte öffentliche Haushalte. Entscheidend ist dabei unter anderem die so genannte Schulden­

standsquote, also der Schuldenstand des Staates im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt. Sie zeigt an, wie hoch die Last, die ein Staatshaushalt zu tragen hat, relativ zur Wirtschaftskraft des Landes ist. Ein Anstieg des Schulden­

stands ist nur dann grundsätzlich unpro­

blematisch, wenn die Wachstumsrate des Schuldenstands dauerhaft unterhalb der Wachstumsrate der Wirtschaftskraft bleibt. Die Schuldenstandsquote sinkt da­

durch langfristig auf ein tragbares Ni­

veau.

1.3 Ausgangslage

Die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hat sich in fast allen Industriestaaten spürbar auf die öffentlichen Finanzen aus­

gewirkt. Sowohl der öffentliche Schulden­

stand als auch das Staatsdefizit haben sich nicht nur in Deutschland im Verlauf der Krise erheblich ausgeweitet. Gleichzeitig ist die Frage der Tragfähigkeit der Staatsfi­

nanzen sowohl bei der Bewertung der Kreditwürdigkeit von Staaten als auch in der öffentlichen Wahrnehmung in den Fokus gerückt. Ein weiterer Anstieg der Schuldenstandsquote – ausgehend von dem bereits sehr hohen Niveau – ist unter dem Gesichtspunkt der Tragfähigkeit nicht mehr hinnehmbar.

Deutschland befindet sich nach wie vor in einem Wirtschaftsaufschwung.

Die günstige konjunkturelle Entwicklung hat auch unmittelbare Auswirkungen auf die staatlichen Einnahmen und Ausgaben und erleichtert so den Konsolidierungs­

prozess. Allerdings kommt es gerade in wirtschaftlich guten Zeiten darauf an, in der Finanzpolitik möglicherweise folgen­

schwere Fehler zu vermeiden. Vielmehr gilt es, die wachstumsorientierte struktu­

relle Konsolidierung des Haushalts voran­

zutreiben und eine strikte Ausgabendiszi­

plin beizubehalten. Deshalb sollten kon­

junkturell bedingte Verbesserungen der öffentlichen Haushalte zur Senkung der Neuverschuldung eingesetzt werden. Ins­

besondere in wirtschaftlich guten Zeiten gilt es, die Haushalte konsequent zu kon­

solidieren.

Aus finanzpolitischer Sicht markiert das Jahr 2011 einen Wendepunkt. Zum ei­

nen kam erstmals bei der Aufstellung des Bundeshaushalts 2011 die im Grundgesetz verankerte neue Schuldenregel zur An­

wendung, die einen zentralen Beitrag zur Sicherung tragfähiger öffentlicher Finan­

zen leistet. Zum anderen mussten die zur Krisenbewältigung ergriffenen konjunk­

turstützenden Maßnahmen zurückge­

führt werden, ohne gleichzeitig das Wachstum zu dämpfen. Die Schuldenre­

gel folgt der Einsicht, dass weder Ausga­

benerhöhungen noch Steuersenkungen dauerhaft über Kreditaufnahme finan­

ziert werden dürfen. Damit zielt die neue Regel auf anhaltende strukturelle Haus­

haltsverbesserungen ab. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung ein Bündel von Maßnahmen ergriffen, um die öffentlichen Finanzen nachhaltig zu sa­

nieren. Dabei steht die wachstums­

freundliche Konsolidierung im Vorder­

grund, denn es wäre verfehlt, Konsolidie­

rungsmaßnahmen zu ergreifen, die mit einer Schwächung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einhergehen. Daher hat die Bundesregierung bei der Auswahl ihrer Konsolidierungsmaßnahmen in ih­

rem haushaltspolitischen „Zukunftspa­

ket“ den Schwerpunkt auf wachstums­

freundliche Politik gelegt. Dies zeigt sich unter anderem in der Priorität für Ausga­

ben im Bereich Bildung und Forschung.

(13)

ersten Erfolge der Konsolidierungspolitik werden im Haushaltsvollzug des Bundes 2011 sichtbar. So wird es der Bundesregie­

rung im laufenden Jahr voraussichtlich gelingen, die tatsächliche Neuverschul­

dung des Bundes auf eine Größenord­

nung von rund 30 Mrd. € zu reduzieren (Soll 2011: 48,4 Mrd. €). Die konsequente Einhaltung eines wachstumsorientierten Konsolidierungskurses bleibt auch in Zu­

kunft die wesentliche wirtschafts- und fi­

nanzpolitische Aufgabe.

1.4 Mögliche Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

Bis vor einigen Jahren wurden Risiken für die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen hauptsächlich im Zusammenhang mit den Herausforderungen durch den demo­

grafischen Wandel gesehen. Die Auswir­

kungen der Krise haben jedoch nach­

drücklich verdeutlicht, dass auch der er­

reichte Schuldenstand und die Haushalts­

situation am aktuellen Rand die langfris­

tige Solidität der Staatsfinanzen gefähr­

den können.3

Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise

Die öffentlichen Finanzen in Deutschland wurden durch die Krise erheblich in Mit­

leidenschaft gezogen. Dabei wurden die Auswirkungen sowohl auf der Einnah­

menseite als auch insbesondere auf der Ausgabenseite sichtbar. In der Rezession gingen die Steuereinnahmen deutlich zu­

rück, dagegen stiegen die Ausgaben bei­

spielsweise im Bereich der Arbeitslosen­

versicherung stark an. Zudem waren staatliche Stabilisierungsmaßnahmen er­

forderlich, um die Auswirkungen des kon­

junkturellen Einbruchs – über die automa­

tischen Stabilisatoren hinaus – abzumil­

dern und die Funktionsfähigkeit der Fi­

nanzmärkte zu gewährleisten.

Nach nahezu ausgeglichenen Haushal­

ten in den Jahren 2007 und 2008 ver­

schlechterte sich der gesamtstaatliche Fi­

nanzierungssaldo in Deutschland im Jahr 2009 auf ein Defizit von 3,2 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Im Jahr 2010 wurde mit einer Defizitquote von 4,3 % der Maastricht-Referenzwert von 3 % des BIP deutlich überschritten (siehe Ab­

bildung 1). Für das Jahr 2011 geht die Bundesregierung davon aus, dass sich der Finanzierungssaldo jedoch schon wieder merklich auf ein Defizit von rund 1 ½ % ver­

bessern wird. Damit erfüllt Deutschland die Vorgaben des Europäischen Stabi­

litäts- und Wachstumspakts bereits zwei Jahre früher als im Defizitverfahren gegen Deutschland gefordert.

3. So identifiziert beispielsweise der im Jahr 2009 veröffentlichte Tragfähigkeitsbericht („Sustainability Re­

port“) der EU-Kommission für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht nur mögliche fiskalische Belas­

tungen aus der Bevölkerungsalterung, sondern auch Risiken einer mangelnden Konsolidierung der Staatsfinan­

zen in der kurzen und mittleren Frist.

(14)

S e i t e 1 2 E i n f ü h r u n g

Abbildung 1: Ausgaben, Einnahmen und Finanzierungssaldo des Staates

- in % des BIP ­

50 49 48 47 46 45 44 43 42 41 40 39 38 37 36 35

-2,4 -3,0 -2,5

-3,0

-3,4 -2,8 -2,3 -1,3

-3,1

-3,8 -4,2 -3,8 -3,3 -1,7

0,2 -0,1

-3,2 -1,3

-0

-4,3 -1,6

- 1/2

-2,9

-1

0 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 -1 -2 -3 -4 -5

1) 2) -6

1991 1995 2000 2005 2010 2015

gesamtstaatlicher Finanzierungssaldo (rechte Skala) Staatsquote (linke Skala) Einnahmequote (linke Skala) 1) Ohne die Vermögenstransfers infolge der Übernahme der Schulden der Treuhandanstalt und der Wohnungsbau­

unternehmen der DDR. Inklusive dieses Effekts belief sich das gesamtstaatliche Defizit auf 9,5 % des BIP.

2) Ohne UMTS-Erlöse. Inklusive dieses Effekts wies der Staatshaushalt einen Überschuss in Höhe von 1,1 % des BIP auf.

Quellen: Statistisches Bundesamt für Ist-Daten

(Stand: September 2011), Projektion: Bundesministerium der Finanzen (Stand: Juli 2011)

Der gesamtstaatliche Schuldenstand Der mittlerweile erreichte staatliche stieg in Folge der Krise von 74,4 % im Jahr Schuldenstand kann jedoch nicht allein 2009 auf 84,2 % im Jahr 2010 an. Dieser durch die Auswirkungen der Krise erklärt starke Anstieg geht insbesondere darauf zu- werden. Vielmehr ist die Verschuldung von rück, dass die neu errichteten Abwicklungs- Bund, Ländern und Gemeinden bereits seit anstalten der Hypo Real Estate und der den 1970er Jahren kontinuierlich gestiegen West LB dem Sektor Staat zugeordnet wur- (Abbildung 2). Im gleichen Zeitraum sind den und somit in den Schuldenstand ein- auch die Ausgaben für den Schuldendienst fließen. Bei einer Betrachtung ohne Berück- erheblich angestiegen.

sichtigung aller Finanzmarktstabilisie­

rungsmaßnahmen hätte sich für 2010 eine Schuldenstandsquote in Höhe von rund 70 % ergeben.

(15)

1950 1952

1954 1956

1958 1960

1962 1964

1966 1968

1970 1972

1974 1976

1978 1980

1982 1984

1986 1988

1990 1992

1994 1996

1998 2000

2002 2004

2006 2008

2010 *)

Abbildung 2: Schulden des öffentlichen Gesamthaushalts in Relation

zum BIP (%), 1950 bis 2010

0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

Gemeinden Länder

Extrahaushalte des Bundes Bund

*=neue Systematik

Quelle: Bundesministerium der Finanzen

1.4.2 Herausforderungen durch den demografi­

schen Wandel

Mögliche Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen ergeben sich nicht nur aus dem sprunghaften Anstieg des Schuldenstands im Zuge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise und der damit ver­

bundenen Einschränkung des finanzpoliti­

schen Handlungsspielraums. Ein maßgeb­

licher zusätzlicher Risikofaktor ist die be­

reits heute absehbare demografische Ent­

wicklung: In den kommenden Jahrzehn­

ten wird in Deutschland der Anteil der Per­

sonen, die 65 Jahre und älter sind, stark zu­

nehmen. Der Anteil der Personen im er­

werbsfähigen Alter wird dagegen deutlich zurückgehen. Diese Veränderungen in der Altersstruktur unserer Gesellschaft führen bei ansonsten unveränderten Rahmenbe­

dingungen dazu, dass die vom Alter der Bürger abhängigen staatlichen Ausgaben ansteigen, während sich die staatlichen Ein­

nahmen ohne Gegensteuern vergleichs­

weise schwächer entwickeln werden. Infol­

gedessen wird sich der Druck auf die öffent­

lichen Haushalte in Zukunft tendenziell er­

höhen.

(16)

S e i t e 1 4 E i n f ü h r u n g

Abbildung 3: Entwicklung des Bevölkerungsanteils unterschied­

licher Altersgruppen in Deutschland von 1871 bis 2060

... bei vergleichsweise starker Bevölkerungsalterung (Variante 2-W1)

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

1871 1939 1960 1980 2000 2009 2020 2040 2060

Anteil in % Kalenderjahr

unter 20 Jahren 65 Jahre und älter 80 Jahre und älter

... bei schwächerer Bevölkerungsalterung (Variante 3-W2)

1871 1939 1960 1980 2000 2009 2020 2040 2060 Kalenderjahr

Anteil in %

unter 20 Jahren 65 Jahre und älter 80 Jahre und älter Quelle: Statistisches Bundesamt

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

(17)

Da demografische Entwicklungen erheb­

lichen Einfluss auf die öffentlichen Haus­

halte haben und zugleich eine vergleichs­

weise gut vorhersehbare Einflussgröße darstellen, bilden sie einen Schwerpunkt der Modellrechnungen zur Tragfähigkeit.

Die in den Modellrechnungen verwende­

ten Daten zur demografischen Entwick­

lung beruhen auf den Ergebnissen der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausbe­

rechnung, die im Jahr 2009 vom Statisti­

schen Bundesamt in Zusammenarbeit mit den Statistischen Ämtern der Länder er­

stellt wurde. Darin werden unterschiedli­

che Annahmen über die Determinanten der Bevölkerungsentwicklung, zu denen neben der Lebenserwartung auch die je­

weils unterstellten Geburtenraten und Wanderungssalden zählen, miteinander kombiniert. Den Modellrechnungen in diesem Bericht liegen zwei verschiedene Varianten zur Fortschreibung der demo­

grafischen Entwicklung zu Grunde. Die pessimistischere Variante geht von einer vergleichsweise starken Bevölkerungsal­

terung aus, während die Alterung in der optimistischeren Variante schwächer aus­

fällt (siehe Abbildung 3).

Um mögliche Folgen für die fiskalische Entwicklung in ihrer ganzen Breite abbil­

den zu können, wurden hier solche An­

nahmen verwendet, die zu vergleichs­

weise großen Abweichungen in der künf­

tigen Altersstruktur der Bevölkerung füh­

ren. Denn es ist vor allem die Alterung der Bevölkerung – weniger die Entwicklung der absoluten Einwohnerzahl – von der Risiken für die Tragfähigkeit der öffent­

lichen Finanzen ausgehen. An der Schlussfolgerung, dass es zu gravierenden Veränderungen im Altersaufbau der Be­

völkerung kommen wird, hat sich seit Be­

ginn der Tragfähigkeitsberichterstattung des BMF nichts geändert: Die Jahrgänge im hohen und höchsten Alter bekommen ein merklich höheres, die jüngeren ein deutlich geringeres Gewicht.

Die aktuelle und absehbare demogra­

fische Entwicklung in Deutschland und die Auswirkungen des demografischen Wandels auf einzelne Politikbereiche werden erstmals in einem ressortüber­

greifenden Demografiebericht der Bun­

desregierung („Bericht der Bundesregie­

rung zur demografischen Lage und künf­

tigen Entwicklung des Landes“) ausführ­

lich beschrieben. Der Bericht verschafft zudem einen Überblick über die bislang ergriffenen Maßnahmen des Bundes zur Gestaltung des demografischen Wandels.

Er wird Ende Oktober veröffentlicht. Zu­

gleich bildet er die Grundlage für die De­

mografiestrategie der Bundesregierung, die sie im Frühjahr 2012 vorlegen wird.

Innerhalb der Bundesregierung werden Demografiebericht und Demografiestra­

tegie federführend durch das Bundesmi­

nisterium des Innern koordiniert.

(18)

S e i t e 1 6 E i n f ü h r u n g

1.4.3 Sonstige Risiken

Neben dem krisenbedingten Anstieg der Schuldenstandsquote und der zukünfti­

gen demografischen Entwicklung besteht eine Vielzahl von weiteren Herausforde­

rungen für die Tragfähigkeit der Staatsfi­

nanzen. So stellen beispielsweise der Kli­

mawandel und der verstärkte Ausbau der Erneuerbaren Energien Herausforderun­

gen dar, die zu dauerhaften Veränderun­

gen der staatlichen Einnahmen und Aus­

gaben führen werden.

Allerdings lassen sich diese mittel- und langfristigen Herausforderungen für die öffentlichen Finanzen – anders als die re­

lativ gut projizierbare demografische Ent­

wicklung – zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum verlässlich in die Zukunft fort­

schreiben. Eine Quantifizierung dieser möglichen Risiken würde im Rahmen der hier vorgenommenen Tragfähigkeitsana­

lysen kaum zu belastbaren Aussagen füh­

ren.4 Daher sind die möglichen Auswir­

kungen dieser Herausforderungen be­

wusst nicht Gegenstand der Modellrech­

nungen, die diesem Bericht zugrunde lie­

gen.

Demgegenüber sind die zur Stabilisie­

rung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion getroffenen Maßnah­

men bereits in den Modellrechnungen enthalten. So sind die bilateralen Maß­

nahmen für Griechenland, die anteiligen Kredite der EFSF an Irland und Portugal sowie die zukünftigen Einzahlungen an den Europäischen Stabilitätsmecha­

nismus (ESM) in der Mittelfristprojektion zur Entwicklung der Schuldenstands­

quote berücksichtigt. Sobald die Kredite wieder zurückgezahlt werden, wird sich die Schuldenstandsquote entsprechend verringern. Zukünftige Belastungen für die öffentlichen Finanzen sind hieraus nicht zu erwarten, sofern es zu keinen Ausfällen kommt.

Der weitere Aufbau des Berichts ist wie folgt: Kapitel 2 zeigt die Ergebnisse der aktualisierten Modellrechnungen zur Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen.

Die Resultate für den Zeitraum 2010 bis 2060 verdeutlichen – unter bestimmten Annahmen – wie groß der politische Handlungsbedarf zur Sicherung der Trag­

fähigkeit bereits heute ist. Kapitel 3 legt die bereits erfolgten Reformen der Bundesregierung dar und zeigt weitere politische Handlungsoptionen auf. Neben der Finanzpolitik im engeren Sinne (vgl.

Kapitel 3.2) beeinflussen auch die Ent­

scheidungen in vielen anderen Politikbe­

reichen die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen (vgl. Kapitel 3.3). Kapitel 4 schließt den Bericht mit einem Fazit ab.

4. Ein im Auftrag des BMF erstelltes Gutachten hat gezeigt, dass sich das Ausmaß der aus dem Klima­

wandel entstehenden fiskalischen Belastungen kaum zuverlässig abschätzen lässt (Ecologic Institut/

Infras (2009): „Klimawandel: Welche Belastungen entstehen für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen?“).

(19)

II. Modellrechnungen zur langfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen

2.1 Erläuterungen zur Methodik

2.1.1 Messkonzept

Bei der Entwicklung von Indikatoren, mit denen die Tragfähigkeit der gegenwärti­

gen Finanzpolitik geprüft werden kann, hat es in einschlägigen Untersuchungen zwei Entwicklungsstränge gegeben, die über einige Jahre getrennt verfolgt wur­

den. Einerseits wurden Maßstäbe entwi­

ckelt, die sich bei der Ermittlung erst künftig entstehender Zahlungsverpflich­

tungen des Staates eng an gängige Ver­

fahren der Planung und Analyse der lau­

fenden Haushaltspolitik und damit an die gewohnte Messung expliziter öffentlicher Verschuldung anlehnen (so die ursprüng­

lichen Arbeiten der OECD). Andererseits wurden Ansätze mit mehr theoretischer Fundierung konzipiert, deren Ziel zu­

nächst vor allem in der Messung von Be­

lastungs- und Verteilungseffekten fiskali­

scher Maßnahmen auf der Mikroebene bestand (Konzept der Generationenbilan­

zierung).

Inzwischen sind allerdings längst An­

sätze entstanden, die Elemente beider Entwicklungsstränge in sich vereinen.

Dazu zählen vor allem die von der EU- Kommission bei der Prüfung der Stabi­

litäts- und Konvergenzprogramme der Mitgliedstaaten genutzten Verfahren und die dort ermittelten „Sustainability Gaps“.

Was Deutschland betrifft, haben sie im er­

sten Tragfähigkeitsbericht des BMF eine frühe Verwendung gefunden. Sie wurden zuletzt auch vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaft­

lichen Entwicklung im Rahmen seiner ei­

genen Arbeiten auf diesem Gebiet einge­

setzt.

Die folgenden Ausführungen bezie­

hen sich auf die Ergebnisse eines vom BMF vergebenen und von Prof. Martin Werding, Ruhr-Universität Bochum, in Kooperation mit ifo, München, bearbeite­

ten Forschungsauftrags. Der Abschlussbe­

richt dazu wird in zeitlicher Nähe zum Tragfähigkeitsbericht veröffentlicht und enthält eine detaillierte Beschreibung sämtlicher hier vorgestellter Modellrech­

nungen.

Das grundsätzliche Vorgehen hat sich gegenüber dem Zweiten Tragfähigkeits­

bericht des BMF nicht verändert, der Zeit­

horizont wurde in Anpassung an die jüng­

sten Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes aber bis in das Jahr 2060 ausgedehnt. Die Gutachter

(20)

S e i t e 1 8 M o d e l l r e c h n u n g e n z u r l a n g f r i s t i g e n T r a g f ä h i g k e i t d e r ö f f e n t l i c h e n F i n a n z e n

analysieren auf der Grundlage von An­

nahmen über die demografische Entwick­

lung und einer damit konsistenten ge­

samtwirtschaftlichen Entwicklung, wel­

chen Verlauf die öffentlichen Ausgaben (am BIP gemessen) in den Bereichen neh­

men könnten, die von Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung vor­

aussichtlich besonders betroffen sein wer­

den. Die Ausgaben der gesetzlichen Ren­

tenversicherung, gefolgt von den Ausga­

ben der gesetzlichen Krankenversiche­

rung, haben darunter das höchste Ge­

wicht, aber auch die Ausgaben der ande­

ren Zweige der Sozialversicherung und die Beamtenversorgung, sowie die staat­

lichen Bildungsausgaben und der Famili­

enleistungsausgleich werden mit Blick auf demografisch bedingte Änderungen untersucht. Unter der Annahme konstan­

ter Quoten für alle übrigen Ausgabenbe­

reiche und einer ebenfalls konstanten Ein­

nahmenquote werden daraus Projektio­

nen für die Staatsquote, die gesamtstaat­

lichen Finanzierungssalden und den Schuldenstand abgeleitet und die Ergeb­

nisse zu Indikatoren für die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in Deutschland zusammengefasst.

2.1.2 Tragfähigkeitsindikato­

ren der EU-Kommission („sustainability gaps“)

Für die Operationalisierung des Tragfä­

higkeitsziels und für die Abschätzung er­

forderlicher Maßnahmen zur Sicherung der langfristigen Solidität der öffent­

lichen Finanzen gibt es unterschiedliche Möglichkeiten. Bei der haushaltspoliti­

schen Überwachung der EU-Mitgliedstaa­

ten stützen sich der Rat der Wirtschafts­

und Finanzminister und die Europäische Kommission wie das BMF auf Indikatoren,

die neben der Summe der bisher aufge­

laufenen Defizite auch künftig zu erwar­

tende Belastungen einbeziehen. Das ge­

schieht einmal im Jahr bei der Prüfung der Stabilitäts- und Konvergenzpro­

gramme jedes einzelnen Landes, außer­

dem in einer Querschnittsuntersuchung für sämtliche Mitgliedstaaten im jährlich vorgelegten „Public Finance Report“ und in einem nur diesem Thema gewidmeten Tragfähigkeitsbericht, den die Kommis­

sion immer dann ausarbeitet, wenn auf Gemeinschaftsebene neue Modellrech­

nungen zu den Auswirkungen der Bevöl­

kerungsalterung auf die Staatsfinanzen vorliegen. Der jüngste derartige Bericht der Kommission („Sustainability Report“) stammt aus dem Jahr 2009.

Erläuterung der Kennziffern

Zur Einschätzung etwaiger Risiken für die langfristige Tragfähigkeit der öffent­

lichen Finanzen weist die Kommission re­

gelmäßig zwei Indikatoren aus: In einem Fall (Tragfähigkeitslücke S1) wird bis zum Ende des Projektzeitraums in sämt­

lichen Mitgliedstaaten ein Erreichen des Maastricht-Kriteriums für die Schulden­

standsquote (60% in Relation zum BIP) ver­

langt. Im anderen Fall (Tragfähigkeitslü­

cke S2) wird gefordert, dass der Staat sei­

nen expliziten wie impliziten Verbind­

lichkeiten auf Dauer nachkommen kann.

Wird die vorab festgelegte Bedingung - bei Einrechnung der budgetären Effekte der Bevölkerungsalterung - nicht erfüllt, entstehen Tragfähigkeitslücken. Sie be­

schreiben das Ausmaß der notwendigen Anpassung in Form einer Verringerung der sich andernfalls einstellenden Defizit­

quoten (genauer in einer Verbesserung der strukturellen Primärsalden). Weitere Darstellungsformen sind möglich und werden von der EU-Kommission auch ge­

nutzt. Zum Beispiel wird über eine Zerle­

(21)

Komponenten aufgezeigt, welcher Teil der Lücke schon in der gegenwärtigen Haushaltslage angelegt ist und welcher Teil erst im Laufe der Zeit über die Zu­

nahme der alterungsbedingten Ausgaben entsteht.

Die Indikatoren legen damit Hand­

lungsbedarfe offen. Spezifische politische Handlungsanweisungen ergeben sich aus den so errechneten Werten nicht: Er­

reicht werden kann ein Schließen der Tragfähigkeitslücken grundsätzlich so­

wohl über eine Verringerung des Anteils der öffentlichen Ausgaben am BIP als auch über eine Steigerung des Anteils der öffentlichen Einnahmen. Zudem bleibt of­

fen, welche Maßnahmen zu welchem Zeit­

punkt ergriffen werden sollten, damit es zu den notwendigen Änderungen auf der Ausgabenseite und/oder Einnahmenseite kommt.

Die am Ende der Rechnungen ausge­

wiesenen Kennziffern lassen leicht ver­

gessen, dass dahinter extrem lang ange­

legte Projektionen mit entsprechend ho­

hen Unwägbarkeiten stehen. Sie werden stark von den zuvor getroffenen Annah­

men gesteuert. Das zeigt sich bei entspre­

chenden Sensitivitätsanalysen. Daher ist Vorsicht bei der Interpretation der nume­

rischen Ergebnisse angebracht. Das gilt erst recht, wenn die Ungleichgewichte in den öffentlichen Haushalten nicht wie im Falle S1 und S2 in einer periodischen

„Stromgröße“ sondern als einmalige „Be­

standsgröße“ ausgewiesen werden. Das ist zum Beispiel bei der Kalkulation einer im­

pliziten Staatschuld der Fall, die sich aus der Addition der Barwerte künftig anfal­

lender Defizite ergibt. Deren Höhe ist vom jeweils unterstellten Zins- bzw. Diskontie­

rungssatz wesentlich stärker abhängig als die auf Gemeinschaftsebene üblicher­

weise genutzten Indikatoren, die etwa er­

forderliche Anpassungen in Form einer

Primärsaldos ausweisen. Das hat auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seiner diesjährigen Frühjahrsexpertise so gesehen.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Resultate derartiger Rechnungen in der augenblicklichen Situation mit be­

sonderen Unsicherheiten behaftet sind.

Einerseits lässt sich die strukturelle Aus­

gangsposition der öffentlichen Haushalte derzeit nur schwer korrekt beurteilen. So­

fern die vor dem Hintergrund der Finanz­

markt- und Wirtschaftskrise getroffenen befristeten Maßnahmen nicht vollständig aus den strukturellen Haushalten heraus­

gefiltert worden sind, könnte das Tragfä­

higkeitsrisiko überschätzt worden sein.

Andererseits könnten die Wachstums­

möglichkeiten der Volkswirtschaften auf längere Sicht stärker Schaden genommen haben als bisher angenommen. In diesem Fall würden die Tragfähigkeitsrisiken unterschätzt. Auch das spricht dafür, in entsprechenden Analysen mit unter­

schiedlichen Szenarien zu arbeiten, die solche Unwägbarkeiten veranschaulichen können. In den Modellrechnungen für Deutschland, die diesem Tragfähigkeits­

bericht zugrunde liegen, ist genau das ge­

schehen.

(22)

S e i t e 2 0 M o d e l l r e c h n u n g e n z u r l a n g f r i s t i g e n T r a g f ä h i g k e i t d e r ö f f e n t l i c h e n F i n a n z e n

2.2 Annahmen der Modell­

rechnungen

Die beiden Basisvarianten, die für Zwecke des BMF-Tragfähigkeitsberichts konzi­

piert wurden, beruhen auf divergieren­

den Annahmen zur langfristigen Entwick­

lung in den Bereichen Demografie, Ar­

beitsmarkt und sonstige gesamtwirt­

schaftliche Entwicklung. Hinsichtlich ih­

rer Konsequenzen für die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sind diese Annahmen einerseits von ei­

nem gewissen durchgängigen Pessi­

mismus („Variante T–“), andererseits von einem gewissen durchgängigen Opti­

mismus („Variante T+“) getragen. So wer­

den in Variante T+ zum Beispiel hinsicht­

lich der demografischen Entwicklung eine höhere Geburtenrate und eine grö­

ßere Zuwanderung unterstellt als in Vari­

ante T–. Ausgangsjahr ist das Jahr 2010, für das bei der Durchführung der Rech­

nungen für die meisten relevanten Grö­

ßen bereits Ist-Daten oder zumindest ver­

lässliche Schätzwerte vorlagen.5 Berück­

sichtigt wurden außerdem einschlägige Eckdaten der mittelfristigen Finanzpla­

nung der Bundesregierung mit dem End­

jahr 2015.

Einen Überblick über sämtliche An­

nahmen, sowohl in Variante T– als auch in Variante T+, gibt Tabelle 1. Die unter­

schiedlichen Projektionen zur demografi­

schen Entwicklung wirken sich unter an­

derem spürbar auf den Altenquotient aus:

Während der Quotient in Variante T– von 31,2 im Jahr 2010 über 50,5 im Jahr 2030 auf 68,5 im Jahr 2060 steigt, verläuft der Anstieg in Variante T+ deutlich gedämpf­

ter – hier erreicht der Altenquotient im Jahr 2060 einen Wert von 54,9. Die An­

nahmen zur Erwerbslosenquote gehen in Variante T– von einer vergleichsweise ho­

hen strukturellen Arbeitslosigkeit in Höhe von 5,8 % über den gesamten Projektions­

zeitraum aus, während in Variante T+

eine deutlich günstigere Entwicklung der Erwerbslosenquote angenommen wird (Rückgang bis auf 3,4 % im Jahr 2060). Zu­

sammen genommen wirken sich die An­

nahmen zur demografischen Entwick­

lung, zur Höhe der Erwerbsbeteiligung und zur Erwerbslosigkeit unmittelbar auf die Anzahl der Erwerbstätigen aus: In Va­

riante T– sinkt die Zahl der Erwerbstäti­

gen von 40,5 Mio. Personen im Jahr 2010 über 36,1 Mio. Personen im Jahr 2030 auf 29,2 Mio. Personen im Jahr 2060. In Vari­

ante T+ ergibt sich dagegen ein deutlich langsamerer Rückgang, mit 38,8 Mio. er­

werbstätigen Personen im Jahr 2030 und 35,7 Mio. erwerbstätigen Personen im Jahr 2060.

5. Für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) lagen die Ergebnisse des Statistischen Bun­

desamtes vom Jahresanfang 2011 zugrunde. Die große VGR-Revision, deren Ergebnisse das Statistische Bundesamt zum 1. September 2011 veröffentlichte, ist demzufolge hier nicht berücksichtigt.

Tabelle rechts:

a) Angaben für 2010 basieren auf Ist-Daten aus der amtlichen Statistik (die bei der Erstellung der Projektionen teilweise noch als Bevölkerungsvorausschätzung: Statistisches Bundesamt (2009).

b) Personen im Alter 65+ je 100 Personen im Alter 15-64.

c) In % aller Erwerbspersonen; international standardisierte Definition.

d) Reale Wachstumsraten (jahresdurchschnittliche Werte im vorangegangenen 10-Jahres-Zeitraum).

Quelle: Werding/ifo 2011

(23)

Tabelle 1:

a) Annahmen für die Projektionen (Variante „T-“)

2010 a) 2020 2030 2040 2050 2060 Demografie:

Wohnbevölkerung (Mio.) 81,6 80,2 78,2 75,2 71,4 66,9

Altenquotient b) 31,2 37,0 50,5 60,0 64,3 68,5

Arbeitsmarkt:

Erwerbsbeteiligung (%)

- Frauen (15-64) 74,5 76,3 76,9 78,8 79,7 80,5

- Männer (15-64) 83,8 84,1 84,3 85,5 85,8 86,5

Erwerbspersonen (Mio.) 43,3 42,0 38,2 35,5 33,4 30,9

Erwerbstätige (Mio.) 40,5 39,7 31,6 33,6 31,5 29,2

Registrierte Arbeitslose (Mio.) 3,2 2,8 2,5 2,3 2,2 2,0

Erwerbslosenquote c) (%) 6,8 5,8 5,8 5,8 5,8 5,8

Gesamtwirtschaft:

Arbeitsproduktivität d) (%) 0,5 1,5 1,7 1,5 1,4 1,4

Bruttoinlandsprodukt d) (%) 0,9 1,3 0,7 0,8 0,8 0,6

BIP pro Kopf d) (%) 0,9 1,5 1,0 1,2 1,3 1,3

b) Annahmen für die Projektionen (Variante „T+“)

2010 a) 2020 2030 2040 2050 2060 Demografie:

Wohnbevölkerung (Mio.) 81,6 80,8 80,2 78,8 76,7 74,5

Altenquotient b) 31,2 36,1 47,5 53,5 54,0 54,9

Arbeitsmarkt:

Erwerbsbeteiligung (%)

- Frauen (15-64) 74,5 76,6 77,9 79,4 80,1 80,9

- Männer (15-64) 83,8 84,8 85,7 86,2 86,6 87,2

Erwerbspersonen (Mio.) 43,3 42,7 40,2 38,5 37,9 36,8

Erwerbstätige (Mio.) 40,5 40,8 38,8 37,3 36,7 35,7

Registr. Arbeitslose (Mio.) 3,2 2,3 1,7 1,5 1,5 1,4

Erwerbslosenquote c) (%) 6,8 4,7 3,7 3,4 3,4 3,4

Gesamtwirtschaft:

Arbeitsproduktivität d) (%) 0,5 1,6 1,9 1,8 1,7 1,7

Bruttoinlandsprodukt d) (%) 0,9 1,6 1,4 1,4 1,5 1,4

BIP pro Kopf d) (%) 0,9 1,7 1,5 1,6 1,8 1,7

(24)

S e i t e 2 2 M o d e l l r e c h n u n g e n z u r l a n g f r i s t i g e n T r a g f ä h i g k e i t d e r ö f f e n t l i c h e n F i n a n z e n

Als Rechtsstand lagen den beiden Ba­

sisvarianten die zu Jahresbeginn 2011 gel­

tenden gesetzlichen Rahmenbedingun­

gen für alle einzeln erfassten Bereiche der öffentlichen Finanzen zugrunde, ein­

schließlich darin bereits geregelter, je­

doch erst während des Projektionszei­

traums wirksam werdender Änderungen.

Vorgaben für die Entwicklung des ge­

samtstaatlichen Defizits oder der gesamt­

staatlichen Verschuldung in Form spezifi­

scher Haushaltsregeln wurden jenseits des Zeithorizonts der mittelfristigen Fi­

nanzplanung nicht gemacht. Andernfalls würden langfristig entstehende Belastun­

gen – wie sie sich aus den Folgen des de­

mografischen Wandels aber auch als Kon­

sequenz einer ungünstigen Haushaltslage am aktuellen Rand und einer dadurch zu­

nehmenden Staatsverschuldung ergeben könnten – eher verschleiert als aufge­

deckt.

Zusammen genommen beschreiben die beiden Varianten einen Korridor mög­

licher künftiger Entwicklungen, ohne dass die dahinter stehenden Szenarien als extrem erscheinen. Wie schwierig das ins­

besondere bei den Annahmen über die künftige Entwicklung der strukturellen Arbeitslosigkeit sein kann, hat sich schon bei den in der Vergangenheit durchge­

führten Untersuchungen gezeigt. Unter dem Eindruck der Finanzmarkt- und Wirt­

schaftskrise zum Beispiel hatten sich bei vielen Beobachtern die Erwartungen für einen langfristigen Abbau der Unterbe­

schäftigung in Deutschland gravierend verschlechtert und diese hatten eine ad-hoc durchgeführte Aktualisierung der Modellrechnungen aus dem Zweiten Tragfähigkeitsbericht, deren wichtigste Ergebnisse das BMF der Öffentlichkeit im vergangenen Jahr ebenfalls bekannt ge­

macht hat, wesentlich geprägt. Die an­

schließende rasche Erholung, die nicht al­

lein konjunkturellen Faktoren geschuldet

sein dürfte, lässt einen Rückgang gemäß der unter günstigen Bedingungen in der Variante T+ schon im Vorgängerbericht erwarteten Größenordnung dagegen durchaus wieder möglich erscheinen, zu­

gleich wurde die ungünstige Variante T–

in dieser Hinsicht weniger pessimistisch angelegt. Dafür spricht nicht zuletzt die zu erwartende Knappheit beim Faktor Ar­

beit, die zur weiteren Integration von Er­

werbslosen in den Arbeitsmarkt führen sollte. Unter diesen Umständen wäre von dieser Seite nicht nur mit verringerten Transferleistungen und einer deutlichen Verminderung des Drucks auf die öffent­

lichen Haushalte zu rechnen. Auch das ge­

samtwirtschaftliche Wachstum fiele auf­

grund der dann höheren Beschäftigung günstiger aus.

Der Entwicklungspfad für das Bruttoin­

landsprodukt wurde in beiden Basisvari­

anten erneut nicht exogen vorgegeben, sondern wie in den vorherigen Projektio­

nen aus einer Produktionsfunktion abge­

leitet. Die Bandbreite der sich dann ab­

zeichnenden Entwicklung für das gesamt­

wirtschaftliche Produktionspotential spie­

gelt Abbildung 4 wider. Bei einem Blick zurück ist der Einbruch der gesamtwirt­

schaftlichen Produktion im Jahr 2009 cha­

rakteristisch. Ein Anschluss an das vor der Krise erreichte Produktionsniveau wurde in Deutschland anders als in vielen ande­

ren betroffenen Volkswirtschaften inzwi­

schen aber bereits wieder erreicht. Gemes­

sen am Stand des Jahres 2005 kann lang­

fristig in der günstigen Variante (T+) mehr als eine Verdoppelung der gesamt­

wirtschaftlichen Leistung erzielt werden.

In der ungünstigen Variante (T–) ergibt sich dagegen kaum mehr als eine Steige­

rung um die Hälfte, die sich überwiegend aus dem unterstellten Produktivitätsfort­

schritt speist.

(25)

(Indexwerte 2005 = 100; 1991-2060)

225

200

175

150

125

100

75

1990 1995 2000 2005 2010 2015

Variante T+

Variante T–

Variante T- Variante T+

Quelle: Werding/ifo 2011

2.3 Ergebnisse

2.3.1 Basisvarianten

Die grundsätzlichen Verfahren zur Fort­

schreibung der öffentlichen Finanzen ha­

ben sich in den Modellrechnungen im Vergleich zum Vorgängerbericht nicht geändert. Die Projektionen beruhen bei allen Budgetkomponenten auf dem bei Erstellung der Rechnungen geltenden Rechtsstand und nutzen die Kenntnis al­

ters- und geschlechtsspezifischer Ausga­

benprofile für die langfristige Fortschrei­

bung der Entwicklung in den einzelnen Ausgabenbereichen. Sie berücksichtigen hinsichtlich der demografischen und ma­

kroökonomischen Entwicklung zugleich die in Abschnitt 2.2 beschriebenen An­

nahmen und führen im Vergleich zu den früheren Rechnungen zu folgenden Er­

gebnissen:

reales BIP (2005 = 100)

217,8

161,1

2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060

> Die infolge der Krise sich einstel­

lende Schrumpfung der gesamtwirt­

schaftlichen Produktion, die bei einem Blick auf die Entwicklung des BIP in der jüngeren Vergangenheit inzwischen so deutlich erkennbar ist (vgl. Abbil­

dung 4), war zum Zeitpunkt der Erstel­

lung der Rechnungen für den Vorgän­

gerbericht nicht erwartet worden. Auf der anderen Seite sind die Staatsausga­

ben in keinem der hier betrachteten Bereiche entsprechend zurückgegan­

gen. Daher zeigt sich in praktisch allen Feldern ein charakteristischer Sprung im Niveau der Ausgaben in Relation zum laufenden BIP, dessen langfristige Effekte durch die seither eingetretene gesamtwirtschaftliche Entwicklung allerdings wieder leicht gedämpft wer­

den. Abgesehen davon entsprechen vor allem die projizierten Verläufe der Ausgaben der gesetzlichen Renten­

(26)

S e i t e 2 4 M o d e l l r e c h n u n g e n z u r l a n g f r i s t i g e n T r a g f ä h i g k e i t d e r ö f f e n t l i c h e n F i n a n z e n

versicherung sowie der gesetzlichen Krankenversicherung weitestgehend den Resultaten der Projektionen für den Zweiten Tragfähigkeitsbericht.

> Im Bereich der Beamtenversor­

gung und der sozialen Pflegeversi­

cherung führen zwischenzeitliche Rechtsänderungen, die bei den frühe­

ren Projektionen im Rahmen der Basis- varianten noch nicht berücksichtigt wurden, bei den Ausgaben jeweils zu einer verringerten langfristigen Auf­

wärtsdynamik. Besonders ausgeprägt sind diese Effekte bei der Pflegeversi­

cherung. Sie sind langfristig aber auch mit einer deutlichen Reduktion des Sicherungsniveaus dieses Systems ver­

bunden.

> Bei den Leistungen der Arbeitslo­

senversicherung und der Grundsi­

cherung für Arbeitsuchende machen sich kurz- bis mittelfristig noch die Auswirkungen der Krise auf die Arbeitsmarktentwicklung bemerkbar.

Langfristig wirken sich zudem die ge­

änderten Regelungen zur Anpassung der Leistungen der Grundsicherung aus.

> Die projizierten Verläufe der öffent­

lichen Ausgaben für Bildung und Kin­

derbetreuung sowie für den Famili­

enleistungsausgleich erhöhen sich gegenüber den Projektionen zum Zweiten Tragfähigkeitsbericht eben­

falls jeweils leicht. Im Falle der Bil­

dungsausgaben liegt dies vor allem an einer Berücksichtigung aktualisierter Daten am aktuellen Rand, nach denen diese zuletzt schon stärker gestiegen sind als zuvor unterstellt wurde. Auch die Ausgaben für den Familienleis­

tungsausgleich sind zwischenzeitlich gezielt erhöht worden.

Werden die Ergebnisse der Rechnun­

gen zusammengeführt und gleichzeitig um den so genannten Verrechnungsver­

kehr – also Zahlungen zwischen den Teil­

budgets – bereinigt, so nimmt die Ent­

wicklung der demografieabhängigen Ausgaben in der Summe den in Abbildung 5 dargestellten Verlauf: Die von der demo­

grafischen Entwicklung besonders abhän­

gigen Ausgaben belaufen sich danach im Basisjahr (2010) in allen hier erfassten Be­

reichen auf 28,5 % des BIP und entspre­

chen damit rund 61 % aller öffentlichen Ausgaben. Es wird erwartet, dass diese Quote – nach ihrem deutlichen Anstieg im Zuge der jüngsten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise – im Zeithorizont der hier berücksichtigten Mittelfristprojek­

tion der Bundesregierung bis 2015 auf rund 27,6 % zurückgeht. In der pessimisti­

scheren Basisvariante „T–“ beginnt die Ausgabenquote danach allerdings rasch wieder zu steigen, und zwar insbesondere im Zeitraum bis 2035, mit verringertem Tempo jedoch weiter bis 2060. Sie erreicht bis zum Ende des Projektionszeitraums dann 34,5 %. In der optimistischeren Basis- variante „T+“ ergibt sich eine deutlich ge­

ringere, langfristige Dynamik der Ausga­

benquote, durch die sie in dieser Variante bis 2060 lediglich auf 30,3 % steigt. Die projizierte Zunahme der Ausgabenquote gegenüber 2010 beläuft sich je nach Vari­

ante somit auf 1,8 bis 6,0 Prozentpunkte, gegenüber 2015 sogar auf 2,7 bis 6,9 Pro­

zentpunkte. Hält man rechnerisch alle an­

deren öffentlichen Ausgaben in Relation zum laufenden BIP konstant, würde sich daraus ein langfristiger Anstieg der ge­

samtstaatlichen Ausgabenquote von zu­

letzt (2010) ca. 46,7 % auf Werte von 48,5 % bis 52,7 % des BIP ergeben.

(27)

Abbildung 5: Aggregierte Ausgabenquoten (2000-2060)

In%desBIP

40%

38%

36%

34%

32%

30%

28%

26%

24%

22%

20%

2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060 Variante T–

Variante T+

Niveauim Jahre2010

Die aggregierte Ausgabenquote basiert auf den konsolidierten Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, der Beamtenversorgung, der gesetzlichen Krankenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Grundversicherung für Ar­

beitsuchende sowie der staatlichen Ausgaben für Bildungseinrichtungen (inkl. Kinderbetreu­

ung) und den Familienleistungsausgleich.

Quelle:Werding/ifo2011

Gestützt auf die für die einzelnen Bud­

getkomponenten durchgeführten Belas­

tungsrechnungen und ausgehend von den Vorgaben der mittelfristigen Finanz­

planung wurden von den Gutachtern langfristige Projektionen auch für die Ent­

wicklung von Defizit und Schuldenstand erstellt und anschließend unter Tragfä­

higkeitsaspekten analysiert. Dabei ist von Bedeutung, dass sich die unterstellte bud­

getäre Ausgangsposition im Vergleich zu den Annahmen im Zweiten Tragfähig­

keitsbericht verschlechtert hat, denn die

Primärsalden am Ende des mittelfristigen Projektionszeitraum (hier das Jahr 2015) bilden jeweils die Basis für die Fortschrei­

bung der langfristigen fiskalischen Ent­

wicklung. Zur Identifikation möglicher Probleme für die Tragfähigkeit der öffent­

lichen Finanzen wurde in den untersuch­

ten Basis-Szenarien unterstellt, dass es in Zukunft weder zu Strukturreformen („no policy change“) noch zu einer weiteren (über den Zeithorizont der mittelfristigen Finanzplanung hinausreichenden) Haus­

haltskonsolidierung kommt.

(28)

S e i t e 2 6 M o d e l l r e c h n u n g e n z u r l a n g f r i s t i g e n T r a g f ä h i g k e i t d e r ö f f e n t l i c h e n F i n a n z e n

Unter diesen Annahmen würde die Kombination von ungünstiger Ausgangs­

lage und alterungsbedingtem Ausgaben­

anstieg dazu führen, dass die staatliche Schuldenquote in beiden Varianten am Ende stetig ansteigt – wenn auch in unter­

schiedlichem Tempo (Abbildung 6). Aus­

gehend von einem Niveau in Höhe von rund 84 % in Relation zum BIP im Jahr 2010 führt die Fortschreibung in der optimisti­

schen Variante zunächst zu einem Absin­

ken der Schuldenstandsquote, bevor es in etwa ab dem Jahr 2030 zu einem stetigen Anstieg der Schuldenstandsquote bis auf rund 100 % in Relation zum BIP kommt. In der pessimistischen Variante ergibt die Fortschreibung dagegen einen sehr viel steileren Anstieg der Schuldenstands­

quote – im Jahr 2060 wird hier ein Wert von rund 300 % in Relation zum BIP er­

reicht.

Abbildung 6: Rechnerische Fortschreibung der Schuldenstands­

quote unter Vernachlässigung der Wirkung von rechtlichen Schranken (2000-2060)

In%desBIP

0% 50% 100% 150% 200% 250% 300% 350%

Variante T+

Variante T–

2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 2035 2040 2045 2050 2055 2060

Quelle:Werding/ifo2011

(29)

Vorsicht geboten: Die Werte sind nicht als Prognosen zu verstehen, sondern als eine rein rechnerische Fortschreibung. Sie ver­

anschaulichen die hypothetische Ent­

wicklung der staatlichen Finanzen unter der Annahme, dass die bisherige Politik unverändert beibehalten wird. In diesem Zusammenhang wird auch das Einhalten rechtlicher Schranken (Schuldenregel, Eu­

ropäischer Stabilitäts- und Wachstum­

spakt, Finanzierung der Systeme der sozi­

alen Sicherung) bewusst vernachlässigt.

Dies geschieht mit der Absicht, den Hand­

lungsbedarf offen zu legen, der zur lang­

fristigen Sicherung solider Staatsfinanzen besteht. Langfristige Belastungen in den öffentlichen Haushalten wären nicht mehr zu erkennen, wenn rechtliche Ver­

schuldungsschranken in den Modellrech­

nungen per Annahme eingehalten wür­

den. Eine Darstellung der Schulden­

standsquote unter der Bedingung, dass die rechtlichen Schranken eingehalten werden, findet sich in Kapitel 3.2.1, Abbil­

dung 11.

Während im Jahr 2008 ein Erfolg im Bemühen um einen langfristig tragfähi­

gen Zustand trotz der demografisch be­

dingten Belastungen in greifbare Nähe gerückt zu sein schien, haben die Finanz­

markt- und Wirtschaftskrise mit ihren un­

mittelbaren Auswirkungen einerseits und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung an­

dererseits den Abstand von diesem Ziel über eine Erhöhung der Schuldenstands­

quote, die bis in das Jahr 2010 hinein

ßert. Der danach folgende Rückgang ist nicht von Dauer, weil langfristig in beiden Varianten der demografiebedingte Aus­

gabenanstieg zu wirken beginnt, die Ein­

nahmenquote aber annahmegemäß kon­

stant bleibt.

Die Resultate der Berechnungen zur Höhe der Tragfähigkeitslücken für alle drei von den Gutachtern ermittelten Indi­

katoren werden in Abbildung 7 zu­

sammengefasst. Der Bildung von Korrido­

ren bei den zuvor beschriebenen Projek­

tionen entspricht die Darstellung von Spannen für das Ausmaß der erforder­

lichen Budgetkorrektur. Im Falle des Indi­

kators S2 zum Beispiel läge die ermittelte Tragfähigkeitslücke unter günstigen Be­

dingungen (Variante T+) bei nicht mehr als 0,9 % des BIP, bei Annahme ungünsti­

ger Bedingungen (Variante T–) aber deut­

lich darüber, nämlich bei etwa 3,8 % des BIP. Die Ergebnisse für alle drei hier be­

rechneten Kennziffern liegen bei einem Wert über Null, sie weisen in ihrer Ge­

samtheit also eindeutig Tragfähigkeitslü­

cken aus.6 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Ergebnisse der Modellrechnun­

gen eine Realisierung der Ziele der mittel­

fristigen Finanzplanung – und auch ein Erreichen der dahinter stehenden Eck­

werte der gesamtwirtschaftlichen Ent­

wicklung – voraussetzen. Wird die mittel­

fristig angestrebte Konsolidierung nicht erreicht, macht sich das aufgrund der ver­

gleichsweise ungünstigeren Ausgangs­

lage unmittelbar in den langfristigen Budgetrechnungen negativ bemerkbar.

6. Anmerkung: Bei der Definition der Kennziffer S1 hat es im Laufe der Zeit eine Änderung gegeben.

Während zunächst ein Schuldenstand zum Maßstab genommen wurde, der sich bei einem über den gesamten Projektionszeitraum ausgeglichenen Budget errechnete und damit von Land zu Land unterschiedlich ausfallen konnte, liegt der Definition mit dem Maastricht-Ziel nun ein für alle Mitgliedstaaten gleicher Wert zu Grunde. Ifo weist aus Gründen der Kontinuität zusätzlich zum neuen S1 in seinem Gutachten auch noch die Ergebnisse einer Rechnung nach alter Abgrenzung aus und ersetzt die auf EU-Ebene entwickelten Begriffe durch jeweils eigene Bezeichnungen. In diesem Bericht greifen wir aus Gründen der internationalen Vergleichbarkeit weiter auf die Kürzel S1 und S2 zurück, auch wenn sich der als Zielgröße verwendete Schuldenstand gegenüber den älte­

ren – noch im ersten Tragfähigkeitsbericht verwendeten Rechnungen – geändert hat.

(30)

S e i t e 2 8 M o d e l l r e c h n u n g e n z u r l a n g f r i s t i g e n T r a g f ä h i g k e i t d e r ö f f e n t l i c h e n F i n a n z e n

0,89 1,16

0,61

0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4 4,5

S1 neu

S1 alt

S2 2,80

3,22

3,83

Abbildung 7: Ergebnisse der Berechnungen zu langfristigen Tragfähigkeitslücken

%

Erforderliche Erhöhungen des primären Finanzierungssaldos (in Prozent des BIP) bei Verwendung unterschiedlicher Messkonzepte. Prüfung der Tragfähigkeit geschieht anhand von drei unterschied­

lichen Kriterien:

Tragfähigkeitslücke S1 neu: Erreichen eines Schuldenstandes von 60% des BIP im Jahr 2060.

Tragfähigkeitslücke S1 alt: Erreichen desselben Schuldenstandes wie bei einem von 2011 bis 2060 stets ausgeglichenen Budget.

Tragfähigkeitslücke S2: Einhalten der intertemporalen Budgetbeschränkung des Staates.

Das Feststellen von Tragfähigkeit setzt hier voraus, dass auf Dauer alle öffentlichen Ausgaben sowie der Schuldenstand der Ausgangs­

periode durch öffentliche Einnahmen gedeckt werden.

Eingetragen sind in allen drei Fällen die Ergebnisse der Basisvarianten, die einen "mittleren Korridor"

möglicher Entwicklungen begrenzen.

Quelle:Werding/ifo2011

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