Welche fiskalischen Folgen hat der demo
grafische Wandel? Welche Konsequen
zen ergeben sich aus dem krisenbeding
ten Anstieg des Schuldenstandes in vielen Ländern und den Veränderungen der Haushaltslage am aktuellen Rand? Das sind Fragen, die nicht nur auf nationaler Ebene sondern auch auf europäischer und internationaler Ebene intensiv diskutiert werden.
Dahinter steht die Erkenntnis, dass es nicht mehr lange dauert, bis die gebur
tenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Das gilt für die USA, wo die Zeit eines be
schleunigten Anstiegs der Fertilität („Ba
byboom“) bereits unmittelbar nach dem Jahr 1945 einsetzte, aber es gilt auch für Länder wie Deutschland, wo dies erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung
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geschah. Spätestens dann wird sich zei
gen, ob die von Land zu Land unterschied
lich ausgestalteten Systeme der sozialen Sicherung nur unter vergleichsweise gün
stigen Bedingungen funktionieren oder den Herausforderungen des demografi
schen Wandels gewachsen sind und sich auch unter verschlechterten wirtschaft
lichen Bedingungen bewähren.
Von daher ist es nur folgerichtig, dass der Blick auf weit in die Zukunft rei
chende Entwicklungen bei der haushalts
politischen Überwachung der EU-Mit
gliedstaaten im Laufe des letzten Jahr
zehnts an Bedeutung gewonnen hat. Aus
künfte über die potenzielle Entwicklung der Staatsausgaben in langfristiger Per
spektive sind zu einem selbstverständ
lichen Bestandteil der jährlich von den EU-Mitgliedstaaten vorzulegenden Stabi
litäts- und Konvergenzprogramme ge
worden. Darüber hinaus wächst die Zahl der Länder, die sich mit langfristigen Risi
ken für die öffentlichen Finanzen in eige
nen Tragfähigkeitsberichten ausein
andersetzen.
Die Untersuchungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zur Bevölkerungsalte
rung beruhen in aller Regel auf unabhän
gig voneinander durchgeführten Projek
tionen, die nationale Besonderheiten ver
gleichsweise gut abbilden, wegen unter
schiedlicher Annahmen und Methoden in den Ergebnissen allerdings nicht ohne weiteres vergleichbar sind. Abhilfe schaf
fen Modellrechnungen, die vom Wirt
schaftspolitischen Ausschuss der EU (über die von ihm eingesetzte „Ageing Working Group“ – AWG) und die Europäische Kom
mission (über deren Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen – DG ECFIN) im Abstand von drei bis vier Jahren bereitge
stellt werden. Nach dem jüngsten dazu er
arbeiteten Bericht (“Ageing Report 2009“)
wird der demografische Wandel die staat
lichen Ausgaben in den auf Veränderun
gen in der Altersstruktur der Bevölkerung besonders stark reagierenden Bereichen bei ansonsten unveränderten Bedingun
gen – in den meisten Mitgliedstaaten der EU insgesamt auf ein deutlich höheres Niveau als heute treiben. Der Belastungs
quotient, der die Ausgaben für die alters
abhängigen Budgetkomponenten im Ver
hältnis zum Bruttoinlandsprodukt be
schreibt, würde bis zum Jahr 2060 in der Gemeinschaft insgesamt um rund 4 ¾ Pro
zentpunkte steigen. Das ist eine Größen
ordnung, die in etwa auch dem für Deutschland errechneten Belastungszu
wachs entspricht und die – bei allen Unterschieden im Detail – zu den Ergeb
nissen der hier präsentierten Modellrech
nungen nicht im Widerspruch steht.
Insgesamt ist das Spektrum, das sich für die EU-Mitgliedstaaten ergibt, aller
dings sehr breit Nach den im Jahr 2009 auf Gemeinschaftsebene durchgeführten Rechnungen (siehe Tabelle 4) ergab sich für ein Drittel der Länder eine Zunahme der demografiebedingten Ausgaben um mehr als 7 Prozentpunkte, bei einem wei
teren Drittel fällt die Differenz mit einer Differenz von unter 4 Prozentpunkten we
sentlich moderater aus. Deutschland liegt mit seinem Ergebnis in der mittleren Gruppe.
Tabelle 4: Vergleich des Belastungsanstiegs in den EU-Mitgliedstaaten
Veränderung der altersabhängigen Ausgaben in Relation zum BIP (2007 bis 2060) von mehr als 7 %-Punkten zwischen 4 und 7 %-Punkten unter 4 %-Punkten
Luxemburg Belgien Bulgarien
Griechenland Finnland Schweden
Slowenien Tschechische Republik Portugal
Zypern Litauen Österreich
Malta Slowakei Frankreich
Rumänien Vereinigtes Königreich Dänemark
Niederlande Deutschland Italien
Spanien Ungarn Lettland
Irland Estland
Polen
Quelle: Ageing Report 2009, Rangfolge der Länder ergibt sich aus der Höhe des Anstiegs.
Selbst wenn die Auswirkungen des de
mografischen Wandels ausgeklammert werden, ist die gegenwärtige Haushalts
lage in der Mehrzahl der Mitgliedstaaten so schlecht, dass sich die Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen vergrößern, wenn es nicht alsbald zu ei
ner Besserung kommt. Das zeigt sich bei einer Zerlegung der auf europäischer Ebene für sämtliche Mitgliedstaaten der EU ermittelten Tragfähigkeitslücken. Der von der Kommission errechnete Anpas
sungsbedarf war für die EU-27 schon in den Rechnungen, die sie ihrem jüngsten Tragfähigkeitsbericht zugrunde gelegt hatte, etwa zur Hälfte auf die fiskalischen
Effekte der Bevölkerungsalterung, zur an
deren Hälfte aber auf die budgetäre Aus
gangslage im Jahr 2009 und den Aus
schluss weiterer Konsolidierungsschritte danach zurückzuführen. Für Deutschland hatte die Tragfähigkeitslücke S2 im dort beschriebenen „Baseline-Szenario“ deut
lich unter dem für die EU-27 ermittelten Durchschnitt von 6,5 % des BIP gelegen, nämlich bei 4,2 %, wovon der überwie
gende Teil auf demografiebedingten Ur
sachen zurückging und nur der kleinere Teil seinen Ursprung in der damaligen budgetären Ausgangsposition hatte (vgl.
Tabelle 5).7
7. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich im BMF-Monatsbericht, Ausgabe Dezember 2009 (www.bundesfinanzministerium.de).
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Tabelle 5: Internationaler Vergleich der Tragfähigkeitslücken – Ergebnisse von Berechnungen der EU-Kommission
Tragfähigkeitslücke (S2) in % des BIP davon ausgelöst durch…
… die Veränderung der ...die budgetäre
insgesamt alterungsbedingten
Ausgangsposition
Kosten Belgien
Bulgarien Tschechien Dänemark Deutschland Estland Griechenland Spanien Frankreich Irland
5,3 0,97,4 -0,2 4,2 1,0 14,111,8 5,6 15,0
-0,60,6 3,7 -1,6 0,9 1,12,6 6,1 3,8 8,3
4,81,5 3,7 1,4 3,3 11,5-0,1 5,7 1,8 6,7 Italien
Zypern Lettland Litauen Luxemburg Ungarn Malta Niederlande Österreich Polen
1,48,8 9,9 7,1 12,5 -0,17,0 6,9 4,7 3,2
-0,10,5 8,9 3,9 -0,4-1,6 1,4 1,9 1,6 4,4
1,58,3 1,0 3,2 12,91,5 5,7 5,0 3,1 -1,2
Portugal 5,5 3,7 1,9
Rumänien Slowenien Slowakei Finnland Schweden
Vereinigtes Königreich EU 27
9,1 12,2 7,4 4,0 12,41,8 6,5
4,3 3,9 4,5 -0,50,2 8,8 3,3
4,9 8,3 2,9 4,51,6 3,6 3,2 Quelle für Ursprungsdaten: Tragfähigkeitsbericht der EU-Kommission (Sustainability Report 2009)
Kommission bei den diesbezüglichen Ar
beiten ebenfalls angestellt. Unter der An
nahme, dass die bislang geltenden mittel
fristigen Haushaltsziele (medium-term objectives – MTO) bereits im Jahr 2015 von allen Mitgliedstaaten erreicht werden, kam es in den entsprechenden Rechnun
gen zu einer deutlichen Verbesserung der Ergebnisse. Die dann erreichten Verände
rungen in den strukturellen Finanzie
rungssalden würden den erwarteten An
stieg der demografiebedingten Lasten in der Wirkung auf die Tragfähigkeitslücken in der EU insgesamt annähernd ausglei
chen können. Allerdings hat das so be
schriebene “MTO Szenario“ auch für die Gewinnung von Tragfähigkeitsurteilen auf europäischer Ebene nicht mehr den gleichen Stellenwert wie in früheren dies
bezüglichen Untersuchungen. Das liegt vor allem daran, dass die verwendeten Zielgrößen für die mittelfristige Haus
haltskonsolidierung vor dem Ausbruch der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise formuliert wurden und in einigen Fällen unrealistisch hohe Abbauschritte impli
zieren.
Eine Überprüfung der Mittelfristziele steht nach den Vorschriften des Stabi
litäts- und Wachstumspaktes („Preventive Arm“) alle vier Jahre an, möglichst immer dann, wenn auf Gemeinschaftsebene neue langfristige Budgetprojektionen der AWG und darauf aufbauende Tragfähig
keitsanalysen der EU-Kommission vorlie
gen. Vorarbeiten dazu laufen bereits, Ex
perten der Mitgliedstaaten sind daran in
tensiv beteiligt. Die Ergebnisse der neuen Langfristrechnungen sollen dem Rat der Wirtschafts- und Finanzminister in der er
sten Jahreshälfte 2012 vorgestellt werden, ein neuer „Sustainability Report“ der EU-Kommission wird dann voraussichtlich im Oktober desselben Jahres erscheinen.
mission eine Beurteilung möglicher Lang
fristrisiken für die öffentlichen Finanzen weiter auch bei der jährlichen Prüfung der Stabilitäts- und Konvergenzpro
gramme, also im Zuge der haushaltpoliti
schen Überwachung der Mitgliedstaaten vornehmen. Was Deutschland betrifft, ha
ben ihre Rechnungen auf Basis des von der Bundesregierung im April 2011 vorge
legten Stabilitätsprogramms im Falle des Szenarios, das die Haushaltssituation des Jahres 2010 ohne Annahme weiterer Kon
solidierungsschritte fortschreibt, Tragfä
higkeitslücken von 4,5 % (S1) bzw. 5,0 % (S2) ergeben. Nach den Ergebnissen des alternativ berechneten Szenarios, bei dem – wie in den Modellrechnungen für den Tragfähigkeitsbericht des Bundesministe
riums der Finanzen – eine Realisierung der in das Programm eingestellten Haus
haltsziele unterstellt wird, verringern sich die ausgewiesenen Lücken deutlich. Der errechnete gesamtstaatliche Konsolidie
rungsbedarf liegt unter diesen Umstän
den gemessen am BIP bei 2,2 % für S1 und bei 2,8 % für S2. Das sind Werte, die sich für S1 und S2 innerhalb der in diesem Bericht aufgezeigten Spannen für die beiden Ba
sisvarianten T+ und T– bewegen, ihre Grö
ßenordnung erscheint aus heutiger Sicht plausibel.
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