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Archiv "Leben mit Behinderungen: „Man ist nicht nur Patient, sondern auch ein Teil der Gesellschaft“" (29.05.2009)

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A1098 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 22⏐⏐29. Mai 2009

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ür Marita Boos-Waidosch kam die Einführung einer Po- lio-Impfung Ende der 50er-Jahre zu spät. Sie erkrankte bereits 1955 im Alter von zwei Jahren an dem Virus und ist seitdem auf einen Rollstuhl angewiesen. Damals lebte sie in

„einem Dorf an der Mosel, wo alles hochwassersicher gebaut ist. Das heißt: Ärzte sind dort generell nur über Stufen zu erreichen“, erinnert sie sich. Die Probleme, denen sich ein körperlich behinderter Mensch gegenübersieht, kennt sie aus eige- ner Erfahrung. „Ich hatte gehofft, wenn ich mit meiner Familie nach Mainz ziehe, meine Tochter war damals sechs Jahre alt, dann würde das besser werden.“

Doch hat beispielsweise in der Innenstadt von Mainz kein Kinder- arzt eine barrierefreie Praxis. Lebhaft erinnert sie sich, wie ihre Tochter wegen eines Krupp-Hustens zum Arzt musste. Ihr blieb nichts anderes übrig blieb, als vor der Praxis zu warten und das Kind allein die Trep- pe hinaufzuschicken. Auf dem Land war ihr Kinderarzt entgegenkom- mender. „Er sagte: ,Ich komme Tag und Nacht vorbei‘, was nicht selbst- verständlich ist“, erzählt sie. „Das habe ich hier in Mainz noch nicht er- lebt.“ Bei einer anderen Gelegenheit musste sie selbst im Hausflur eines Lungenspezialisten behandelt wer- den – drei Stufen vor der Praxis machten es ihr unmöglich, in den Untersuchungsraum zu kommen.

Heute ist Marita Boos-Waidosch ehrenamtliche Beauftragte der Stadt Mainz für die Belange von Menschen mit Behinderungen und kämpft un- ter anderem dafür, dass mehr Praxen barrierefrei gestaltet werden. „Das Recht auf freie Arztwahl, von dem

jeder selbstverständlich ausgeht – das haben Menschen mit Behinde- rungen definitiv nicht“, stellt sie fest. „Und wir haben es trotz un- glaublicher Bemühungen immer noch nicht.“

Barrieren abbauen

Barrierefreiheit ist jedoch nicht nur bei Arztbesuchen ein Problem. Eine Bäckerei, eine Apotheke oder ein Theater sollten Menschen mit Be- hinderungen ebenso zugänglich sein wie Nichtbehinderten. So richtete sie als Behindertenbeauf- tragte eine entsprechende Anlauf- stelle ein: Behinderte Ingenieure und Architekten beraten hier unent- geltlich, was bei einem barrierefrei- en Bau zu beachten ist. „Wir sind auf der stadtpolitischen Ebene über- all beteiligt“, ergänzt Boos-Wai- dosch, wodurch Mainz heute bun- desweit am besten mit behinderten- gerechten Toiletten, Bussen und Blindenleitsystemen ausgestattet ist.

Doch ebenso wichtig ist es, behin- derte Menschen zu informieren, wo sie problemlos ihre Brötchen kau- fen, ihre Medikamente abholen oder einen Arzt besuchen können. Das Sozialdezernat der Stadt Mainz gibt hierzu einen Stadtplan mit einer Liste heraus mit allen barrierefrei zugänglichen Parkplätzen, Geschäf- ten, Ärzten, Anwälten et cetera. Al- lerdings ist diese Liste mittlerweile fast zehn Jahre alt; aktuelle Infor- mationen findet man auf der Inter- netseite der Stadt Mainz.

Marita Boos-Waidoschs Engage- ment beschränkt sich nicht nur auf die Stadt Mainz. Schon seit den 70er-Jahren ist sie in Selbsthilfe- organisationen aktiv. Im Jahr 2007 wird sie Behindertenbeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz. Das Amt muss sie nach kurzer Zeit aus ge- sundheitlichen Gründen wieder auf- geben. Doch sie setzt sich auch heu- te noch für eine konkrete Zielver- einbarung mit der Landesärztekam- LEBEN MIT BEHINDERUNGEN

„Man ist nicht nur Patient, sondern auch ein Teil der Gesellschaft“

Marita Boos-Waidosch ist Behindertenbeauftragte der Stadt Mainz und selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie erzählt davon, was es heißt, sich seinen Arzt nach dem Treppenhaus aussuchen zu müssen, und was am ärztlichen Umgang mit Behinderten zu verbessern ist.

Fotos:Eberhard Hahne

Marita Boos- Waidoschist ehren- amtliche Behinderten- beauftragte der Stadt Mainz. Sie ist selbst seit ihrem zweiten Lebensjahr auf einen Rollstuhl angewiesen.

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A1100 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 22⏐⏐29. Mai 2009

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mer und der Kassenärztlichen Verei- nigung Rheinland-Pfalz ein. Grund- lage dieser Vereinbarung ist das Bundesgleichstellungsgesetz zur Herstellung gleichwertiger Lebens- bedingungen für Menschen mit Be- hinderungen. Ziel ist es, eine Daten- bank aufzubauen, in der barriere- freie Praxen verzeichnet sind. Dar- über hinaus sollen Ärzte besser über Barrierefreiheit informiert werden, sowie eine entsprechende Bau- beratung eingerichtet werden. Doch trotz fünfjähriger Bemühungen wurde die Zielvereinbarung bisher nicht unterschrieben. „Die Landes- zahnärztekammer und die Psycho- therapeuten würden zustimmen“, sagt Boos-Waidosch, „nur mit der Ärztekammer Rheinland-Pfalz ha- ben wir Schwierigkeiten.“ Über die Hintergründe des Zögerns seitens der Ärztekammer kann sie nur spe- kulieren. Die Ärztekammer Rhein- land-Pfalz war bisher nicht einmal bereit, die Stufe vor ihrem Gebäude zu entfernen. „Es wäre ein Klacks diese Stufe zu beseitigen“, klagt Boos-Waidosch. „Aber sie machen es nicht.“ Einige Ärzte sind aller- dings auch sehr aufgeschlossen:

„Die kommen dann in der Baubera- tung zu mir und sagen: ,Frau Wai- dosch, ich ziehe jetzt um, und jetzt wird es richtig gemacht‘.“

Soziale Aspekte beachten Dabei steht bisher die Beseitigung physischer Barrieren im Vorder- grund. „Ich würde es mir noch viel weitgehender wünschen“, sagt die Behindertenbeauftragte. Denn auch für Menschen mit geistigen Behin- derungen oder Lern- und Sprach- störungen müssten Barrieren abge- baut werden. Für sie blieben die Er- klärungen eines Arztes, aber auch von Fachleuten aus anderen Bran- chen, wie Anwälte oder Verwal- tungsbeamte, meist unverständlich.

Dass man mit Menschen mit Be- hinderungen auch anders umgehen kann als hierzulande, lernt Marita Boos-Waidosch auf ihren vielen Reisen ins Ausland kennen. Ein Jahr lebte sie in Boston, USA, und mach- te dort unterschiedliche Erfahrun- gen. „Bei einem Unfall habe ich mir ein Bein gebrochen“, erinnert sich Boos-Waidosch. „Da wurde man

dann als Behinderter mit dem Gips nach Hause entlassen.“ Andererseits können dort Frauen mit Behinde- rungen Krankenschwester werden.

Das sei hierzulande nicht möglich.

Besonders positiv beschreibt sie die andere Sichtweise der Ärzte auf Menschen mit Behinderungen. „In den USA gibt es in der Fortbildung einen eigenen Studiengang zur so-

zialen Sicht auf Behinderungen“, erzählt sie. „Ich war dort mit meiner dreijährigen Tochter in einer Klinik – sie hatte sich auf dem Spielplatz einen Zahn ausgeschlagen – und wurde dort als Mutter direkt ernst genommen.“ In Deutschland fühle sie sich hingegen als Mutter von den Kinderärzten schlecht behandelt.

„Ein bisschen nach dem Motto ,Wie kannst du nur‘.“

Generell beklagt Marita Boos- Waidosch die „zu medizinische“

Sichtweise deutscher Ärzte. Sie sollten eher bereit sein, auch die so- zialen Aspekte einer Behinderung zu beachten. „Das Medizinische ist ein Teil – den darf man aber nicht als entmündigend begreifen“, sagt sie.

Denn selbst Routineuntersuchungen sind bei Menschen mit Behinderun- gen oft schwierig. Schon den Roll- stuhl zu verlassen und auf dem Be- handlungsstuhl Platz zu nehmen, wie es etwa beim Zahnarzt oder Gynäkologen erforderlich ist, schaf-

fen viele Betroffene nicht alleine.

Darüber hinaus sind viele medizi- nische Geräte nicht auf die Be- dürfnisse behinderter Menschen einstellbar. „Aufgrund schlechter Blutwerte musste ich eine Magen- darmspiegelung machen“, erinnert sich Boos-Waidosch. Doch durch die Verkrümmung ihres Körpers konnte diese nicht von der Seite aus vorgenommen werden, die das Gerät vorsah. Die ganze Untersu- chung wurde spiegelverkehrt durch- geführt. „Dazu gehört auch, in einem hohen Maß, mir, also der Patientin, die Angst zu nehmen.“

Eines ihrer verstörendsten Erleb- nisse hatte sie als 21-Jährige. Boos- Waidosch hatte damals die Chance, als Mitglied einer deutschen Dele- gation nach Teheran, Iran, zu fahren.

Lediglich die notwendigen Impfun- gen fehlten noch. Doch der zu- ständige Amtsarzt weigerte sich.

„Das würde er nicht machen. Je- mand wie ich bräuchte nicht in so ein Land zu reisen“, erinnert sich Boos-Waidosch an den Vorfall. „Für mich als Landpomeranze ging erst- mal eine Welt unter.“ Erst später er- fährt sie von einer Bekannten, dass sie auch ein anderer Amtsarzt imp- fen kann. Noch heute ist sie wütend über dieses Verhalten. „Man ist nämlich nicht nur Patient, sondern auch ein Teil der Gesellschaft.“

Was sich Marita Boos-Waidosch von den Ärzten wünscht? Einen offe- neren Blick für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen, der über das Medizinische hinausgeht.

Denn trotz aller Errungenschaften ist eine Behinderung nicht wegthera- pierbar. „Man muss auch damit leben und darf die Behinderung nicht im- mer in den Vordergrund stellen.“

Umso wichtiger ist es für sie, dass man sich auf die Dinge konzen- triert, die man kann und nicht nur das im Fokus behält, wozu man nicht in der Lage ist. „Dazu gehört erstmal ein Elternhaus, das dich re- spektiert und dir die Grundlage dafür gibt“, sagt Marita Boos-Wai- drosch. Doch dafür bräuchten Eltern, bei deren Kindern eine Behinderung diagnostiziert werde, Vorbilder und Ärzte, die sich auch in die sozialen Aspekte einfühlen könnten. I Dr. rer. nat. Marc Meißner

Das Recht auf freie Arztwahl, von

dem jeder selbstverständlich aus-

geht – das haben Menschen mit

Behinderungen definitiv nicht.

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