Embryonenschutz
Zu dem Kommentar „Englische Ver- führung“ von Norbert Jachertz in Heft 3/2001:
Unter falscher Flagge?
Mit scharfen Worten kriti- siert Jachertz die in der FAZ getätigte Meinungsäuße- rung zur Stammzellenfor- schung von Sewing, dem Chef des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärzte- kammer. Er habe nicht „die Meinung der verfassten Ärzteschaft“ wiedergegeben und „segele unter falscher Flagge“. Ziel der Forschung mit (pluri-, nicht toti-poten- ten!) humanen Stammzellen ist die Entwicklung von Therapien für bisher nicht behandelbare Krankheiten.
Dies ist wohl zunächst ein akzeptables, ja respektables Ansinnen eines Arztes. Das- selbe gilt für Konzepte des therapeutischen Klonens, mit dessen Hilfe klinisch dringend benötigtes Gewe-
be, keine Embryonen herge- stellt werden sollen. Eben- falls eine Absicht, die ein Vorsitzender des Wissen- schaftlichen Beirates der verfassten deutschen Ärzte- schaft wohl (auch öffent- lich) äußern darf, vielleicht sogar muss (?).
Gegen diese (zukünftigen) Heilmethoden, deren Erfor- schung unter Verwendung embryonaler Stammzellen in den USA, in England und Frankreich auch mittels the- rapeutischen Klonens mitt- lerweile politisch akzeptiert sind, steht das deutsche Em- bryonenschutzgesetz. Dieses spricht jeder befruchteten humanen Eizelle, gleich wel- chen Stadiums und wo im- mer sich diese befindet, den vollen Umfang der Men- schenwürde zu. Gleichzeitig verschreibt und implantiert die „verfasste deutsche Ärz- teschaft“ Millionen von Frauen Spiralen zur Kontra- zeption, die nichts anderes tun, als solche „Embryonen“
unter dem Schutz der gesell-
schaftlichen Akzeptanz zu töten. Gleichzeitig vollzieht die „verfasste deutsche Ärz- teschaft“ unter dem Schutz des Gesetzgebers jährlich über 200 000 Abtreibungen an Embryonen in weitaus fortgeschritteneren Entwick- lungsstadien.
Wer segelt hier unter fal- scher Flagge? Der Diskurs macht doch unmissverständ- lich deutlich, dass die Defini- tion der „Würde des Em- bryos“ dringend neu bedacht werden will. Eine abstufende Einschätzung des „moral sta- tus of the embryo“, wie von der Europäischen Kommissi- on definiert, stellt wohl die einzig intelligente und prak- tikable Lösung dar. Ein Um- denken in diese Richtung scheint dringend geboten und folgt nicht der „engli- schen Verführung“, sondern dem Stand der medizini- schen Wissenschaft. Auf der Insel wurde seit langem und sehr sorgfältig diskutiert, ob auf diese Weise (hoffentlich) verfügbare Behandlungsver-
fahren für englische Patien- ten in Großbritannien ent- wickelt werden sollen oder ob man sie importiert bezie- hungsweise Kranke im Aus- land behandeln lässt.
Prof. Dr. med. Axel Haverich, Klinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie, MHH, Carl-Neuberg- Straße 1, 30625 Hannover
Anmerkung (zugleich zu den Briefen von Sewing und Rittner in Heft 7):
Mein Kommentar „Englische Ver- führung“ kritisierte, dass Sewing als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer Auffassungen vertrat, die der Beschlusslage der verfassten Ärzteschaft nicht entsprechen. Als Vorsitzender eines offiziellen Gremiums der Bundesärztekammer hätte sich Sewing an die Beschlusslage halten oder deutlich machen müssen, dass er sich als Privatmann äußerte. Die verfasste Ärzteschaft ist ein eingeführter Begriff. Gemeint ist in diesem Fall die in Ärztekammern und in der Arbeitsgemeinschaft der Ärzte- kammern, nämlich der Bundes- ärztekammer, organisierte Ärzte- schaft; sie hat im Deutschen Ärztetag, der Hauptversammlung der Bundesärztekammer, eine aus demokratischen Wahlen hervorge- gangene oberste Repräsentanz. Der Deutsche Ärztetag hat sich bisher gegen therapeutisches Klonen und Embryonenforschung aus- gesprochen.Norbert Jachertz
Präventiv-Therapien
Zu dem Beitrag „Patienten müssen mehrstufig aufgeklärt werden“ von Prof. Dr. med. Dr. h. c. mult. Michael Berger und Prof. Dr. med. Ingrid Mühlhauser in Heft 6/2001:
Vor schmerzhaftem Erwachen
In „Des Kaisers neue Klei- der“ rief ein Kind: „Die sind ja alle nackt!“ – Selbst in hoch- karätigen wissenschaftlichen Gremien verschließt man im- mer noch die Augen vor der frustrierenden Datenlage vieler etablierter Therapien.
Besonders der Präventivme- dizin steht ein schmerzhaftes Erwachen bevor.
Dr. med. Gunter Frank, Schloßberg 2, 69117 Heidelberg
A
A 598
Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 10½½9. März 2001B R I E F E
Norwegen
Zu Meldungen über Kapazitäts- engpässe im Operationssektor Nor- wegens und einer „Patienten- brücke“ nach Deutschland:
Indirekt vom Personal subventioniert
. . . Wieso bedürfen norwegische Pati- enten der Behandlung im Ausland?
Norwegen zählt vor allem aufgrund seiner profitablen Öl- und Erdgasvorrä- te zu den reichsten Ländern der Welt mit einem statistisch höheren Lebens- standard und einer höheren durschnitt- lichen Lebenserwartung als Deutsch- land. Der Standard der medizinischen Versorgung ist sehr gut. Das öffentli- che Gesundheitswesen mit einer allge- meinen Pflichtversicherung ist, ähnlich wie in Großbritannien, traditionell re- striktiv, so müssen Zahnbehandlungen Erwachsener vollständig selbst gezahlt werden, es gibt eine vergleichsweise hohe Selbstbeteiligung, und die Ver- dienstmöglichkeiten für Ärzte sind be- grenzt. Aufgrund begrenzter Studien- kapazitäten besteht ein chronischer Ärztemangel, der durch Studierende im Ausland und durch ausländische Ärzte ausgeglichen wird. Noch ausgeprägter
ist der Bedarf an Krankenschwestern und Physiotherapeuten. Andererseits ist aber auch die Arbeitszufriedenheit hoch, bedingt durch eine relativ gerin- ge Überstundenbelastung, gute Fort- bildungsmöglichkeiten und hohe Ar- beitsplatzsicherheit. Für alle Berufs- gruppen gilt ein vergleichsweise guter Stellenschlüssel, der auch hier zu einer durchschnittlich geringeren Arbeitsbe- lastung im Vergleich zu deutschen Krankenhäusern führt. Krankenpflege und Physiotherapie sind Studienfächer und werden an Hochschulen vermittelt.
Überstunden sind begrenzt und wer- den angemessen bezahlt. Im Kranken- haus ist ein geregelter Dienstschluss keine Seltenheit, und das Recht hierauf wird allgemein anerkannt. Diese Si- tuation führte in der Vergangenheit zu langen Wartezeiten bei elektiven Ope- rationen, nicht selten müssen Patien- ten auf eine Hüft-TEP nach der Indikati- onsstellung über zwei bis drei Jahre warten. Im November 2000 befanden sich knapp 290 000 Patienten auf einer Warteliste für eine geplante Operation oder stationäre medizinische Behand- lung/Abklärung bei einer Gesamtbe- völkerungszahl von 4,4 Millionen! Im Gegensatz hierzu sind die deutschen Verhältnisse bekannt: das Gesund- heitswesen ermöglicht in der Praxis ei-
ne immer noch unbegrenzte Maximal- versorgung der Bevölkerung mit gerin- ger individueller Selbstbeteiligung un- ter dem Opfer einer hohen (unbezahl- ten) Überstundenbelastung für ärztli- ches Personal und berufsfremder „Ne- bentätigkeiten“ für das Pflegeperso- nal. Wartezeiten sind kaum akzeptiert, und eine Begrenzung medizinischer Leistungen steht bislang kaum ernst- haft zur Diskussion. Es gilt als Selbst- verständlichkeit, dass der Arzt auf- grund seiner moralisch-ethischen Ver- pflichtung praktisch immer erreichbar und zur Stelle ist. In dieser für das hie- sige Krankenhauspersonal zunehmend unerträglichen Situation erscheint die organisierte „Luxus“-Behandlung nor- wegischer Patienten wie ein Hohn. Die vom Personal indirekt subventionier- ten Selbstzahlerpreise in Deutschland scheinen trotz relativ hoher Transport- kosten eine Auslandsbehandlung für Norwegen attraktiv zu machen. Es bleibt zu hoffen, dass in den beteiligten deutschen Krankenhäusern zumindest die gesetzlich vorgeschriebenen Ar- beitszeitrichtlinien beachtet werden – eine angemessene Vergütung der Überstunden und Nachtdienste ist wohl kaum zu erwarten . . . Dr. med. Ole-A. Breithardt, Schurzelter Straße 514, 52074 Aachen