DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
D
a seit einigen Jahren abendlän- dische Künstlerinnen immer eindringlicher eigene und fremde Liebeserlebnisse mitteilen, suchten wir für den achten Weltkongreß für Sexologie, der vom 14. bis 20. Juni in Heidelberg stattfindet, nach einer Verbindung zwischen Wort und Bild der Frauen zum Thema „Liebe".Wir gewannen zunächst Dr. June Reinisch, Direktorin des „Kinsey Institute for Research in Sex, Gen- der und Reproduction" , für einen Bericht über die von ihr betreuten Sammlungen an Quellen und Ur- kunden, Schrifttum, Diapositiven, Filmen und last not least Kunstwer- ken. Dann erhielten wir von zwei Bildhauerinnen und vierzehn Male- rinnen Werke im Sinne des Unterti- tels einer unserer Kongreßveranstal- tungen „Woman in a Changing So- ciety". Wir lernten verschiedenarti- ge Ausdrucksformen schöpferischer Begabung kennen, die sich unab- hängig gemacht hatten von den ih- rem Geschlecht lange Zeit aufge- zwungenen Beschränkungen. Die unabhängig vom beherrschenden Vorbild alter und gegenwärtiger Meister ihnen verwandte Bildweisen als notwendige und eigene Aussage fanden und auch frei vom Vortrags- programm des diesjährigen Welt- kongresses erotische Themen künst- lerisch veranschaulichen. Diese Werke werden in der Heidelberger Stadthalle anläßlich des Sexologie- Kongresses zu sehen sein.
Geistesverwandt mit Salvadore Dali oder Joan Mirö komponieren jenseits der greifbaren Welt Barbara Ahlfeldt oder Martina Berthold. Im Gemälde „Ich bin doch keine vier- armige Shiva" werden weibliche und männliche Körperteile frei ver- teilt, zwei Eiformen und ein Mund wie eine Vagina senkrecht aufge- stellt und somit Erinnerungen an den dreiköpfigen und vierarmigen Shiva als Ardhanarishvara = „Halb männlich, halb weiblich" erweckt.
Martina Berthold verweiblicht den Namen des Gottes absichtlich falsch, um auszudrücken, daß man in der Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern törichterweise das vertraute Erlebnis gemeinsamer Lust nicht immer genügend betont.
Die Paarung im anatomischen, be-
Mona Lisa androgyn
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Erotische Frauenkunst beim Sexologie-Kongreß
Kohle-Pastell-Zeichnung „Mona Lisa" von Sybille Ruppert, Paris, 1984, 75 x 200 cm wußt aus dem Zusammenhang der Liebesszene gelösten Detail be- schreibt Madame Alph6. Man kennt Bilder von isolierten Teilen des Wei- bes aus vorgeschichtlichen Vulva- Symbolen und neuestens bei Judy Chicago und ihrer New Yorker Frauengruppe, solche des Mannes aus römischen oder indischen bron- zenen oder steinernen Kultgegen- ständen. Das Paar in der romanti- schen Verklärung einer erotischen Begegnung malen Roswit Balke und Brigitte Benkert.
Unaufdringlich dokumentieren zeitgenössische Malerinnen ihre Vertrautheit mit den Schöpfungen der Vergangenheit und der Fremde, wenn zum Beispiel Manet Eicher in
„Fetisch" ein Papua-Ritual von
Tänzern mit Penis-Futteral oder in
„Luxe, Calme et VolupW` Liebes- szenen von griechischen Vasen zi- tiert, oder wenn Sibylle Ruppert in ihren farbigen Kohlezeichnungen
„Mona Lisa" androgyn (und mögli- cherweise grundsätzlich richtig im Sinne der gegenwärtigen kunstge- schichtlichen Forschung), in Opera- tionssälen mit grausamem Auge und Griffel seziert und kongenial de Sade und einen der geistigen Väter des Surrealismus, Lautr6amont, illu- striert. Die Malerin Sibylle Ruppert schreckt mit geradezu chirurgischen Studien vor keiner Darstellung schwerer Verletzungen im Ge- schlechterkampf zurück, und wie die alten Meister läßt sie plötzlich über alles Unheil die Schönheit siegen:
„En hommage ä K.S.", gefeiert in zwei liebenswerten Frauenköpfen, die inmitten von Glaskugeln das ei- ne Mal angsterfüllt, das andere Mal friedvoll und wie erlöst einer verhee- renden Umwelt entrückt sind.
Vielleicht wird man sich auf dem Heidelberger Kongreß bei dem Vortrag „Sexual Victimization" an Horrorvisionen von Sibylle Ruppert in „Le Cri" oder „Le Voyeur" erin- nern und an die Selbstverstümme- lung des Phallos als Motorradraser in „La Vitesse". Von Liliane Csuka wird das männliche Glied mit dem Bild „Screw" unter Anspielung auf das Slang-Synonym der Schraube für Koitus verhöhnt, aber als Schalthe- bel in „Le levier de changement de vitesse" verherrlicht und schließlich im „Fluch der Technik" im Ge- schlechtsteil einer Kupplung als Zei- chen für die Verkümmerung der weiblichen Seele unter den selbst ge- schaffenen und geliebten Zwängen der „Modernen Zeiten" verletzt und bemitleidet. Ein Auto durch- bricht eine Hauswand und rast auf den Unterleib von Gudrun Maders
„Frau am Fenster" zu, die sehn- suchtsvoll auf eine unversehrte Landschaft mit dem unbeschwerten Spiel einer Pferdestärke blickt und wie die ebenfalls zu den „Grünen"
gehörende Martina Berthold eine Wiederkehr der Menschlichkeit vom
„Feminism" erhofft.
Dr. phil. Anke-Angelika Krickelberg-Pütz
Prof. Dr. phil. Klaus Fischer A-1678 (94) Dt. Ärztebl. 84, Heft 23, 4. Juni 1987