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Archiv "Erkannte Krankheit als einen Prozeß: Zum 200. Geburtstag von Johann Lucas Schönlein" (26.11.1993)

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MEDIZIN MEDIZINGESCHICHTE

Erkannte Krankheit als einen Prozeß

Zum 200. Geburtstag von Johann Lucas Schönlein

D

er 'berühmte Arzt Jo- hann Schönlein wurde vor zweihundert Jah- ren, am 30. November 1793, in Bamberg geboren. Sein Vater war von Beruf Seiler- meister; die Mutter, eine ge- borene Hümmer, brachte ab- strakte Begabung und eine Vorliebe für schöngeistige Bildung mit in die Familie Sie bestand darauf, daß das einzige Kind nicht Seiler wur- de wie der Vater, sondern einmal studieren sollte, denn Seiler war ein ungesunder Beruf: sie litten häufig an

„Seilerhusten", einer Form der Staublunge.

Von 1804 bis 1811 besuch- te der Knabe in Bamberg das Gymnasium; er bereitete sich auf ein naturwissenschaftli- ches Studium vor. 1811 bezog der junge Schönlein die Uni- versität Landshut. Er schrieb sich zunächst in der Philoso- phischen Fakultät ein — eine Naturwissenschaftliche gab es noch nicht — und besuchte Vorlesungen in Mineralogie, Botanik, Zoologie, Physik und Chemie. Er blieb nicht lange in Landshut, andert- halb Jahre; zuletzt hörte er auch schon Anatomie, gerade in diesem Fach hatte Lands- hut bedeutende Lehrer.

Zu Ostern 1813 bezog Schönlein die Alma Julia zu Würzburg, wo die Naturwis- senschaften und auch die Me- dizin großgeschrieben wur- den. Das Studium in Würz- burg bot dem angehenden Mediziner den unschätzbaren Vorteil, daß er hier die theo- retische Ausbildung an der Universität durch praktische Arbeit in den vielen Spitälern der Stadt vertiefen und er- gänzen konnte.

Die Naturwissenschaften waren seinerzeit noch sehr weit zurück; sie standen noch allzu nahe der Naturphiloso- phie, die das Wesen der Na- tur durch die Kraft des Gei- stes erschließen wollte. Noch wurde nicht verstanden, daß es zur wahren Erkenntnis der menschlichen wie der tieri- schen Natur der empirischen Untersuchung bedurfte. Nur langsam erlangten die Natur- wissenschaftler diese Ensicht:

„Die Medicin kann wahren Fortschritt nur dadurch ma- chen, dass die ganze Physik, Chemie und alle Naturwis- senschaften auf sie angewen- det und dass sie auf die ge- genwärthig erstiegene Höhe derselben und mit ihren glän- zenden Fortschritten in Übereinstimmung gebracht werde", so schrieb Schönleins Landshuter Lehrer Philipp von Walther, und in Würz- burg teilte der Anatom Ignaz von Döllinger voll und ganz diese Einstellung. Döllinger lehrte vergleichende Anato- mie und Physiologie, zwei nüchterne Fächer, wo es ohne praktische Forschung einfach keinen Fortschritt gab.

„Ich bin glücklich, den ge- netischen Gehirndemonstra- tionen Döllingers beizuwoh- nen", schrieb der Student Schönlein. Er untersuchte in Döllingers Labor etliche Ge- hirne, ausgereifte und solche von Embryonen; und er been- dete sein Studium 1816 mit ei- ner Doktorarbeit von der Hirn- metamotphose, darin behan- delte er die Entwicklung des Säugetiergehirns. Mit 140 Sei- ten war dies eine sehr umfang- reiche Arbeit, und bemer- kenswert war auch, daß Schönlein sie nicht auf Latein verfaßte, sondern in deut- scher Sprache. Erstmals setzte er hier noch zusätzlich „Lu- cas" zwischen Vor- und Fami- liennamen — es ist nicht sicher bekannt, mit welchem Recht.

Er war nun 22 Jahre alt und schon ein richtiger Dok- tor; allzuviel praktische Übung hatte er freilich noch nicht erworben. Schönlein ging daher für ein paar Mona- te an Krankenhäuser in Göt- tingen und München, um sich praktische Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben.

Schon im folgenden Jahr mel- dete er sich in Würzburg zur Habilitation an. Ende August

1817 hielt er an der Alma Ju- lia seine Probevorlesung, ei- nen Monat später war er Pri- vatdozent. Seine Vorlesungen erstreckten sich auf die ge- samte Innere Medizin.

Schönlein war anfangs noch der Naturphilosophie

Johann Lucas Schönlein, Photo um 1858

verhaftet, er begann sich bald davon zu lösen; vor allem aber war er es, der neue Me- thoden der Diagnostik in Würzburg einführte. Die Kunst des Abhorchens ver- mittels eines Stethoskops und des Beklopfens des Körpers hatte schon gegen 1760 der Wiener Arzt Leopold Auen- brugger entdeckt, doch war diese Neuerung bald in Ver- gessenheit geraten. 1819 ver- öffentlichte ein französischer Arzt diese Methoden, und Schönlein führte sie sogleich an seiner Klinik ein.

Er nahm zur Krankenvisite regelmäßig einen Schwarm Studenten mit — das war neu — und zeigte ihnen die Auskulta- tion und die Perkussion. Am Ende der Visite erörterte er mit ihnen Diagnose und Be- handlung der einzelnen Fälle.

Der Vater des berühmten Kli- nikers Adolf Kußmaul hat 1820 bei Schönlein studiert.

Adolf Kußmaul hat aus dessen

Aufzeichnungen in seinen Le- benserinnerungen hübsch und anschaulich zitiert.

Schönleins Leistungen als Kliniker wurden bald aner- kannt, in Würzburg und an- derswo. Bereits 1820 wurde der 26jährige zum ordentli- chen Professor ernannt. Kurz darauf erteilte ihm die Uni- versität Freiburg einen Ruf, den er aber ablehnte.

Schönlein war ein begab- ter Praktiker, der aber auch neue Einsichten gewann. Er zählt zu den ersten, die den Prozeßcharakter der Krank- heit erkannten. Er verstand, daß Fieber nicht eine Krank- heit ist, sondern eine Reakti- on des Körpers, ein Symptom.

Wichtiger noch, er begriff, daß die Medizin erst am An- fang stand. „Unsere Genera- tion möge erst das Material für das Wissen sammeln", schrieb er, „eine spätere wer- de es schon benutzen."

1827 nahm er sich eine Würzburgerin zur Frau, die Tochter eines unterfränki- schen Regierungsrates. Aus dieser Ehe gingen drei Kin- der hervor, zwei Töchter und ein Sohn. Bald wurde er Eh- renbürger der Stadt Würz- burg. Alles wies nach oben.

Würzburg war kurz zuvor erst bayerisch geworden. Im Königreich Bayern regierte seit 1825 König Ludwig I., und dieser junge Monarch blickte argwöhnisch nach Franken, wo man viel stärker republikanisch gesinnt war als in Altbayern. Vor allem Würzburgs Bürgermeister, Dr. Behr, ein Jurist, galt als gefährlicher Demagoge, ja als

„Demokrat". Auch ein junger Arzt, ein Schüler Schönleins, zählte zu seinen Gesinnungs- freunden, Dr. Eisenmann, Herausgeber einer Zeitung.

Als diese beiden ziemlich willkürlich verhaftet und zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilt wurden, sollte auch Schönlein von der Universität entlassen werden. Er war so unschuldig wie diese beiden.

Schönlein zog es vor zu flie- hen, und zwar nach Zürich, wo man ihm kurz zuvor eine Professur angeboten hatte.

Das war im Frühjahr 1833. I>

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 47, 26. November 1993 (79) A1-3169

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MEDIZIN MEDIZINGESCHICHTE

Schönlein hat im Laufe seines Lebens viele gekrönte Häupter behandelt; aber in Zürich wurde er eines Tages an das Bett eines deutschen Emigranten gerufen, der spä- ter einmal sehr berühmt wer- den sollte: der Dichter Georg Büchner, Naturwissenschaft- ler und junger Hochschulleh- rer wie Schönlein. Büchner erlag im Februar 1837 dem

„Nervenfieber" (Fleckfieber).

„Nervenfieber" und „Erb- grind" waren damals noch weitverbreitete Krankheiten, und Schönlein hat sich in sei- nen Züricher Tagen ausgiebig damit beschäftigt. Der Erb- grind (Favus) zeigt sich in schwefelgelben, bröckligen, schüsselförmigen Schilden auf dem behaarten Kopf; hervor- gerufen wird er durch einen Fadenpilz, und diesen Pilz hat Schönlein 1839 entdeckt. Er trägt bis heute seinen Namen, Achorion schoenleinii; er hat damit als erster einen Mikro- organismus als den Erreger ei- ner menschlichen Krankheit identifiziert. Das gab der jun- gen Bakteriologie wichtige Im- pulse.

Darüber hinaus sind noch einige andere botanische Ent- deckungen nach ihm benannt, nämlich einige Farnkräuter:

Crepidopteris schoenleinii und Taeniopterius schoenlei- nii. Etliche Jahre später hat er dann in Berlin mit seinem Kollegen Eduard Henoch ein Krankheitsbild erstmals be- schrieben, das man heute als Schönlein-Henoch-Syndrom in jedem klinischen Wörter- buch nachschlagen kann.

Anfang Mai 1840 folgte Schönlein einem Ruf nach Berlin. Bedeutende Medizi- ner des 19. Jahrhunderts zählten dort zu seinen Schü- lern, darunter Hermann Helmholtz (der Erfinder des Augenspiegels), der Patholo- ge Rudolf Virchow, der Inter- nist Salomon Neumann, der Physiologe Emil du Bois-Rey- mond, der Chirurg Theodor Billroth.

Als Schönlein in Berlin eintraf, hatte er bereits einen so klangvollen Namen, daß ihn die Hohenzollern sogleich zu ihrem Leibarzt machten.

Schönlein behandelte vor al- lem die beiden Monarchen Friedrich Wilhelm III. und IV. Der letztgenannte König war geisteskrank; eine Bluts- verwandte von ihm, Marie von Preußen, die Gemahlin des bayerischen Königs Maxi- milian II., brachte diese Anla- ge mit ins bayerische Königs- haus — von den beiden Söh- nen aus dieser Ehe endete der eine im Irrenhaus, der an- dere ertrank im Starnberger See.

König Friedrich Wilhelm IV. war geisteskrank; aber ei- ne Kamarilla am preußischen

Hof wollte ihn für gesund er- klären lassen, damit sie an seiner Statt die Geschäfte führen konnte. Schönlein machte dieses Spiel nicht mit, er sagte klipp und klar, wie es um den König stand. 1858 übernahm Wilhelm I. die Re- gentschaft, 1861 auch den Thron. Er war Schönlein für sein aufrichtiges Urteil so dankbar, daß er ihn nach des- sen Pensionierung in seinem Bamberger Haus besuchte.

Schönlein war nicht nur Leibarzt, er war zuallererst Universitätslehrer. Sein Schü- ler Virchow, der eine kleine Biographie über Schönleins Leben schrieb, sagt darin, Schönlein habe großen Wert darauf gelegt, „dass jeder Einzelne durch eigene Beob- achtung den Verlauf der Krankheit verfolgen (und) wirkliche Erfahrungen sam- meln konnte. Für ihn war die Klinik nicht bloß eine Art der Vorlesung, mit Demonstra- tionen verbunden, sondern praktische Leitung des ange- henden Arztes."

Schönlein wurde als aka- demischer Lehrer berühmt,

nicht jedoch als medizinischer Schriftsteller, denn er hat nur sehr wenig veröffentlicht.

Aber er hat Studenten er- laubt, seine Vorlesungen und Fallbeispiele mitzuschreiben, und daraus ist ein Buch ge- worden, mit etwas mehr als 40 Krankengeschichten, die heute nur noch der historisch Interessierte mit Gewinn le- sen wird. Seine Fallbeispiele zeigen, wie jung die Patienten damals waren — im Kranken- haus die Mehrzahl unter drei- ßig —, wie kläglich ihre Le- bensumstände — und wie früh der Tod zu ihnen kam.

Johann Schönlein bekam von der Not wenig zu spüren, er war ein wohlhabender Arzt, ein berühmter Hoch- schullehrer. Er wohnte mit seiner Familie am Tiergarten, etwas außerhalb der großen Stadt, in einer Villa. Aber er scheute sich auch nicht, sei- nen alten Freund Eisenmann im Gefängnis zu besuchen, wenn er wieder einmal im Fränkischen zu Besuch war.

Schönlein führte ein rei- ches, erfülltes Leben, hohe Ehrungen wurden ihm zuteil.

Er erhielt eine Vielzahl von Orden und Auszeichnungen, selbst den persönlichen Adel, den er allerdings ablehnte.

Aber von Schicksalsschlägen war auch dieses Leben nicht verschont: Innerhalb eines einzigen Jahres verlor er zu- erst seine Frau, dann seine Mutter; seine Frau war gera- de 46 Jahre alt. Weitaus hefti- ger noch war der Schlag, als sein knapp 22jähriger Sohn in Westafrika auf einer For- schungsreise tödlich verun- glückte. Das war im Januar 1856. Drei Jahre blieb Schön- lein noch in Berlin, dann

nahm er Abschied und zog sich in seine fränkische Hei- mat zurück, nach Bamberg.

Seine beiden Töchter gingen mit ihm, sie führten ihm den Haushalt.

Rudolf Virchow, der den umgekehrten Weg gegangen war, von Berlin nach Würz- burg und zurück nach Berlin, schrieb über den Tagesablauf seines alten Lehrers: „Mor- gens nach dem Kaffe, oder vielmehr Thee, las er Zeitun- gen, darunter einige Berliner.

Cigarren rauchte er im Gan- zen drei den Tag und die sehr leicht, denn er vertrug die schweren nicht mehr. Besu- che machte er im Winter äus- serst selten, er fürchtete die sehr warmen Zimmer; im Sommer kamen viele Fremde ihn zu consultiren, die er dann in der Regel besuchte.

Er fuhr alle Tage in den The- resienhain, wo er bei gutem Wetter eine kleine Strecke zu Fuss ging. Kaum vier Wochen vor seinem Tode brachte er als Merkwürdigkeit eine blü- hende Schlüsselblume mit nach Hause."

Das war im Winter 1864, im Januar. Er war nicht ei- gentlich krank; aber sein nach innen wachsender Kropf machte ihm zu schaffen. Das Atmen wurde beschwerlicher;

er pflegte von sich zu sagen, er keuche wie eine Lokomoti- ve. Noch am 22. Januar war er im Lesezimmer der Harmo- nie, Besuchern fiel sein blas- ses und niedergeschlagenes Aussehen auf. Den Ball in seinem Hause tags darauf ließ er absagen. „Mir ist es wie je- nem, von dem man erzählt, die Wände seiner Wohnung hätten sich immer mehr ver- engert, bis sie ihn endlich er- drückten", vertraute er einem Kollegen an. Bis zum Nach- mittag dieses 23. hielt er sich aufrecht, dann legte er sich zu Bett, verweigerte die Arznei und sagte: „Plaget doch den alten Mann nicht mehr." Er nahm die letzten Sakramente und verstarb am späten Abend.

Dr. Manfred Vasold Jarezöd 15a

83109 Großkarolinenfeld

„Jeder einzelne konnte durch eigene Beobach- tung den Verlauf der Krankheit verfolgen und wirkliche Erfahrungen sammeln. Für ihn war die Klinik nicht bloß eine Art der Vorlesung, mit De- monstrationen verbunden, sondern praktische Lei- tung des angehenden Arztes."

(Virchow über Schönlein)

A1-3170 (80) Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 47, 26. November 1993

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