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Trend: Schulische Integration und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf

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VHN, 84. Jg., S. 57 –59 (2015) DOI 10.2378/vhn2015.art06d

© Ernst Reinhardt Verlag

Schulische Integration und

Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf

Martin Venetz

Hochschule für Heilpädagogik Zürich

TREND

Die Frage, ob die schulische Integration von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf zu ihrem Wohle gereicht, wird nach wie vor sehr kontrovers diskutiert. Um eine Antwort darauf geben zu können, ist zuerst zu klären, was unter Kindeswohl eigentlich zu verstehen ist. Eine grundlegende Differenzie- rung bezieht sich auf die Unterscheidung zwi- schen „objektivem Wohlbefinden“ und „subjek- tivem Wohlbefinden“, wie sie beispielsweise in der dritten internationalen UNICEF-Vergleichs- studie (2013) vorgenommen wird: Das objekti- ve Wohlbefinden setzt sich aus fünf Dimen- sionen zusammen (materielles Wohlbefinden, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und Risiken, Wohnen und Umwelt), die nicht nur die jetzigen Lebensumstände, sondern auch Entwicklungsperspektiven – das Wohlergehen – in den Blick nehmen. Im Gegensatz dazu be- zieht sich das subjektive Wohlbefinden, das selbst wahrgenommene Ausmaß an Zufrieden- heit oder, allgemeiner formuliert, an positiver Befindlichkeit, viel stärker auf das Hier und Jetzt. Die eingangs aufgeworfene Frage wäre demnach sowohl aus einer Außen- (objektives Wohlbefinden) als auch aus einer Innenper- spektive (subjektives Wohlbefinden) zu klären.

Obwohl die Befundlage zum objektiven Wohl- befinden von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf in der Integration bzw. Separation in der Schweiz eher schmal ist und somit (noch) keine abschließende Ant-

wort zulässt, seien zwei – für das objektive Wohlbefinden – bedeutsame Erkenntnisse aus aktuellen, größeren Studien herausgegriffen:

Eine im Rahmen des in den 1980er-Jahren initiierten Forschungsprogramms INTSEP um Urs Haeberlin an der Universität Freiburg/

Schweiz durchgeführte Untersuchung hat er- geben, dass Schülerinnen und Schüler mit Schulleistungsschwächen, die integrativ be- schult worden sind, anspruchsvollere nachob- ligatorische Ausbildungsgänge absolvieren und ihnen der Einstieg ins Erwerbsleben deutlich besser gelingt (Eckhart u. a. 2011). Ergebnisse von Müller u. a. (2012) zu Effekten der Klas- senzusammensetzung werden dahingehend diskutiert, dass integrative Schulungsformen möglicherweise einen positiven Effekt auf Ver- haltenskompetenzen von Jugendlichen mit För- derbedarf im emotional-sozialen Bereich ha- ben könnten.

Wie sieht nun die Innenperspektive – das sub- jektive Wohlbefinden – von Kindern und Ju- gendlichen mit besonderem Förderbedarf in der Integration bzw. Separation aus? Hierzu muss die Bemerkung vorangeschickt werden, dass das subjektive (emotionale) Wohlbefinden in der Schule eine wesentliche pädagogische Zielvorstellung darstellt und in den Leitgedan- ken von Schulen einen zentralen Stellenwert einnimmt. So ist beispielsweise im Leitbild ei- ner Primarschule zu lesen: „Unsere Schule ist ein Ort, wo ich mich wohlfühle.“ Für Haeber-

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MARTIN VENETZ

Schulische Integration und Wohlbefinden TREND

lin u. a. (1989, 13) ist das subjektive Wohlbefin- den von Kindern und Jugendlichen mit beson- derem Förderbedarf in der Schule gar einer der

„zuverlässigsten Indikatoren für gelingende oder misslingende pädagogische Integration“.

Die empirische Befundlage für die Schweiz hierzu ist sehr dürftig und zudem wenig kon- sistent. Während Haeberlin u. a. (1991) im Rah- men ihrer INTSEP-Studie zum Schluss kom- men, dass die schulische Integration von Kin- dern und Jugendlichen mit Lernbehinderungen ihrem subjektiven Wohlbefinden in der Schule abträglich ist, sind in der Studie von Venetz u. a. (2012) keine bedeutsamen Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern mit und ohne Schulleistungsschwächen in Regelklassen festzustellen. (Lernende mit Verhaltensauffäl- ligkeiten fühlen sich in der Schule – unabhän- gig von der Schulungsform – emotional gene- rell weniger wohl.)

In den bisherigen Ausführungen zum subjek- tiven Wohlbefinden sind zwei bedeutsame Dif- ferenzierungen noch nicht angesprochen wor- den. Die erste betrifft den Unterschied zwi- schen dem habituellen und dem aktuellen Wohlbefinden, das heißt zwischen der überdau- ernden Grundstimmung (in der Schule) auf der einen und dem aktuellen Befinden in einer konkreten (Unterrichts-)Situation auf der an- deren Seite. Dass diese beiden Aspekte nicht dasselbe sind, ist offensichtlich: Auch Schüle- rinnen und Schüler, die sich im Allgemeinen in der Schule sehr wohl fühlen, langweilen sich ab und an im Unterricht oder sind unzufrieden.

Umgekehrt lassen sich auch Kinder und Ju- gendliche, die nicht gerne zur Schule gehen, für bestimmte Lerninhalte leicht begeistern. Das aktuelle Wohlbefinden resultiert also immer aus dem Zusammenspiel von Person und Si- tuation sowie deren Interaktion. Es fluktuiert über die Zeit viel stärker als das habituelle Wohlbefinden. Die zweite Differenzierung ist grundsätzlicher und beruht auf der Einsicht, dass Wohlbefinden nicht nur Befindenszustän- de positiv erlebter Deaktivierung wie „ausge-

glichen“, „unbesorgt“ oder „entspannt“ um- fasst, sondern auch solche positiv erlebter Ak- tivierung wie „begeistert“, „interessiert“ oder

„hoch konzentriert“. Für ein ganzheitliches Verständnis aktuellen Wohlbefindens sind des- halb beide Formen positiven Erlebens gleich- zeitig und gleichwertig zu berücksichtigen.

Über das aktuelle subjektive Wohlbefinden von integriert beschulten Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf weiß man bislang nur sehr wenig. Die Studie von Venetz u. a. (2012) zeigt, dass sich integriert beschulte Schülerinnen und Schüler mit Schul- leistungsschwächen aktiv und interessiert am Unterrichtsgeschehen beteiligen und nicht – wie immer wieder vermutet – völlig überfor- dert sind. Auch Lernende mit Verhaltensauf- fälligkeiten berichten im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und -schülern nicht über we- niger Befindenszustände positiver Aktivierung;

allerdings erleben sie mehr negative Befindens- zustände wie Stress, Ärger oder Nervosität.

Einen entscheidenden Einfluss auf das aktuel- le Wohlbefinden haben auch Gegebenheiten der jeweiligen Unterrichtssituation, was nicht zuletzt auf die Bedeutung der Unterrichtsge- staltung hinweist.

Die in knapper Form ausgeführten Gedanken machen vor allem eines klar: Obwohl viel über (die Bedeutung der Schulungsform für) das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf gesprochen wird, wissen wir eigentlich nur sehr wenig darüber.

Führt man sich die Bedeutung positiven Befin- dens – und zwar vor allem desjenigen, das mit hoher Aktivierung verknüpft ist – für ein erfülltes und glückliches Leben vor Augen (s. dazu beispielsweise die Metaanalyse von Lyubomirsky u. a. 2005), so wäre zu wünschen, dass sich auch die Heil- und Sonderpädagogik vermehrt mit dem aktuellen Wohlbefinden von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf in ihrem unmittelbaren Lebens- alltag beschäftigt.

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MARTIN VENETZ

Schulische Integration und Wohlbefinden TREND

Literatur

Eckhart, M.; Haeberlin, U.; Sahli Lozano, C.; Blanc, P. (2011): Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Bern: Haupt

Haeberlin, U.; Moser, U.; Bless, G.; Klaghofer, R.

(1989): Integration in die Schulkasse. Fragebo­

gen zur Erfassung von Dimensionen der In­

tegration von Schülern FDI 4 –6. Bern: Haupt Haeberlin, U.; Bless, G.; Moser, U.; Klaghofer, R.

(1991): Die Integration von Lernbehinderten.

Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäu­

schungen, Hoffnungen. Bern: Haupt

Lyubomirksy, S.; King, L.; Diener, E. (2005): The benefits of frequent positive affect: Does hap­

piness lead to success? In: Psychological Bulle­

tin 131, 803 –855. http://dx.doi.org/10.1037/00 33­2909.131.6.803

Müller, C. M.; Hofmann, V.; Studer, F. (2012): Lässt sich individuelles Problemverhalten durch das Niveau an Verhaltensschwierigkeiten unter den Mitschülern vorhersagen? Ergebnisse ei­

ner Querschnittsstudie und ihre Relevanz für

die Frage einer integrativen vs. separativen Beschulung verhaltensauffälliger Schüler. In:

Empirische Sonderpädagogik 4, 111 –128 UNICEF Office of Research (2013): Child well­

being in rich countries: A comparative overview (Innocenti Report Card 11). Florenz: UNICEF Of­

fice of Research

Venetz, M.; Tarnutzer, R.; Zurbriggen, C.; Sempert, W. (2012): Emotionales Erleben im Unterricht und schulbezogene Selbstbilder. Bern: SZH/

CSPS

Anschrift des Autors

Dr. phil. Martin Venetz

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HfH Schaffhauserstr. 239

Postfach 58 50 CH-8050 Zürich Tel.: +41 (0) 44 3 17 11 54 E-Mail: martin.venetz@hfh.ch

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