Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 31–32|
6. August 2012 A 1537 INTERSEXUALITÄTLeben zwischen den Geschlechtern
Die Grünen wollen der Existenz von intersexuellen Menschen Rechnung tragen.
Bei der Geschlechtsangabe soll es mehr als nur zwei Antwortmöglichkeiten geben.
C
aster Semenya darf bei den Olympischen Spielen in London Ende Juli und Anfang Au- gust wieder laufen – als Frau. Das war nicht selbstverständlich. Denn nach ihrem Sieg bei der Weltmeis- terschaft 2009 wurde am weib - lichen Geschlecht der südafrika - nischen Leichtathletin öffentlich gezweifelt. Ein Jahr lang hatte sie keine Wettkämpfe bestreiten dürfen.Der Sport fordert klare Aussagen:
Start als Frau oder Start als Mann.
Doch nicht nur der Sport, son- dern auch das deutsche Personen- standsgesetz verlangt die Festle- gung auf ein Geschlecht. Innerhalb einer Woche nach der Geburt eines Kindes muss ein Häkchen gesetzt werden: männlich oder weiblich.
Doch bei intersexuellen Menschen ist diese Einordnung nicht hundert- prozentig möglich. Häufig wird sie dennoch vorgenommen.
Ethikrat: Kategorie „anderes“
Dabei sollten intersexuelle Men- schen oder deren Eltern nicht ge- zwungen werden, sich oder ihr Kind einer der beiden Kategorien zuzuordnen – so ist zumindest die Auffassung des Deutschen Ethikra- tes, der im März eine Stellungnah- me zum Thema „Intersexualität“
herausgab. Darin schlägt er vor, eine weitere Geschlechtskategorie, nämlich „anderes“, einzurichten (DÄ, Heft 10/2012).
Profitieren würden von einer sol- chen Lösung immerhin jährlich 150 bis 340 Kinder, die wissenschaft - lichen Studien zufolge in Deutsch- land zwischengeschlechtlich zur Welt kommen. Von schwerwiegenden Abweichungen der Geschlechtsent- wicklung sind in Deutschland nach Angaben der Bundesregierung etwa 8 000 bis 10 000 Menschen betrof- fen. Intersexuellen-Verbände gehen sogar noch von einer deutlich höhe- ren Zahl von Betroffenen aus. Bei
ihnen entsprechen Chromosomen, Gene, Hormonhaushalt, Keimdrü- sen und Geschlechtsorgane nicht übereinstimmend dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht.
In der Vergangenheit war dieses Thema ein Tabu, auch in der Medi- zin. „Man hörte so gut wie nie et- was über die Schicksale der Kinder, deren Geschlecht zur Geburt nicht bestimmbar war“, berichtete Dr.
med. Jörg Woweries, Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedi- zin, bei einer öffentlichen Anhö- rung im Bundestag Ende Juni. Viele Intersexuelle seien noch im frühen Kindesalter umoperiert worden – meist zu Mädchen. Dies habe oft gravierende Folgen.
Operationen zur Geschlechts- festlegung bei intersexuellen Kin- dern verstoßen gegen das Men- schenrecht auf körperliche Unver- sehrtheit und sollen deshalb künftig unterbunden werden. Darin waren sich die medizinischen und juris - tischen Experten sowie Vertreter von Selbsthilfevereinen bei der An - hörung einig. Weitgehend folgten sie der Stellungnahme des Ethikra- tes (Bundestagsdrucksache 17/9088).
Keine prophylaktischen OPs
Zur Diskussion stand ferner ein An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (17/5528). Darin fordern die Grünen unter anderem ein Ver- bot von prophylaktischen Operatio- nen von intersexuellen Kindern sowie eine Änderung der Allge - meinen Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz.Woweries plädierte dafür, auf ei- ne Geschlechtsfestlegung bis zur Volljährigkeit des betroffenen Kin- des zu verzichten. Eine ähnliche Regelung gebe es in den Nieder - landen. Hier könne man das Ge- schlecht ohne zeitliche Begrenzung offenlassen, ergänzte der Rechts- wissenschaftler Prof. Dr. Tobias Helms von der Universität Mar- burg. Die Einführung dieser Option sei „sinnvoll und einfach zu reali- sieren“. Die Etablierung der Ge- schlechtskategorie „anderes“, wie sie der Deutsche Ethikrat vor- schlägt, sei indes mit einer Reihe von rechtlichen Fragen und Folge- problemen bezüglich des Familien- und Abstammungsrechts behaftet.
Für verbesserte Beratungsange- bote für die Eltern intersexueller Kinder sprach sich Julia Marie Kriegler von der Elterngruppe der XY-Frauen aus. Eltern dürften nicht von Ärzten und Behörden zu einer Entscheidung gedrängt
werden.
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Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
„Intersexuell“:
Der Leichtathletik- Weltverband sperrte Semenya bis zum Abschluss von Tests und Behandlungen fast ein Jahr.
Foto: picture alliance