Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 31–32|
6. August 2012 A 1521N
och ist kein Gerichtsurteil gesprochen, noch ermittelt die Staatsanwaltschaft: zurzeit gegen zwei Ärzte der Universitätsklinik Göttingen, denen vorgeworfen wird, durch Fälschung von Krankenakten eigenen Patienten einen Vorteil auf der Warteliste für eine Leber verschafft zu haben. Und zwar in großem Stil, sollten sich die derzeitigen Erkenntnisse der Überwachungskommission bei der Bundesärztekam- mer bestätigen. Bei mehr als 20 Patienten, die an der Abteilung Transplantationschirurgie der Uniklinik eine postmortale Leber erhalten hatten, sind Auffälligkeiten festgestellt worden, darunter zwei, die aus Ländern au- ßerhalb des Eurotransplantbereichs stammen.Die Akten über die gesamte Zeit, in der der für die Transplantationen verantwortliche Chirurg tätig war, sind noch gar nicht geprüft. Aber schon jetzt erschüttert das Ausmaß, in dem in Göttingen anscheinend manipuliert worden ist, Öffentlichkeit, Ärzteschaft und Politik. Denn Organtransplantation ist für eine Verletzung ethischer Werte extrem störanfällig: Sie ist wie kein anderes Gebiet der Medizin auf die altruistische Einstellung und Ak- zeptanz der Bevölkerung angewiesen. Die Bereitschaft, Organe zu spenden, ist für die Akzeptanz ein sensibler Messfühler, und sie wird wesentlich davon beeinflusst, inwieweit von Chancengleichheit ausgegangen wird.
Die „Spitze eines Eisbergs“, wie teilweise in der Öf- fentlichkeit spekuliert wird, sind die Vorgänge in Göt- tingen sicher nicht. Dazu sind nicht nur Strukturen und Prozessabläufe in der Transplantationsmedizin schon jetzt zu stark ausgeprägt, sondern auch die Sozialkon- trolle der Ärzteschaft. Schwieriger zu beantworten ist derzeit die Frage, inwiefern es sich im Göttinger Fall
„nur“ um ein oder zwei schwarze Schafe mit kriminel- ler Energie handelt oder ob es nicht Randbereiche in der Transplantationsmedizin gibt, die ein „schleichen- des Hineingehen in dieses Desaster“ begünstigt haben könnten, wie andere meinen. Unter dem hohen Druck, dem sich Transplantationsmediziner durch Organman- gel und durch den vielen Schwerkranken drohenden Tod auf der Warteliste ausgesetzt sehen, hätten sich sol-
che Randbereiche ausgebildet in Form einer „für eigene Patienten günstigen Befundung unter Ausschöpfung des medizinisch Machbaren“, sagt ein Arzt. Um Ein- heitlichkeit zu gewährleisten, wären generelle Prüfun- gen der Indikation durch von der Transplantation unab- hängige Mediziner ebenso denkbar wie unangemeldete stichprobenhafte Audits externer Gutachter. „Es gilt, Strukturen bei der Bundesärztekammer so auszubauen, dass sie Kontrollfunktionen wahrnehmen kann, die durch die gerade in Kraft getretene Novellierung des Transplantationsgesetzes gestärkt wurden“, sagt Prof.
Dr. med. Hartmut Schmidt, Universitätsklinik Münster.
Normverletzungen sollten offengelegt werden und absichtliche Verstöße gegen Regeln erkennbare Konse- quenzen haben. Schließlich wäre es sinnvoll, teilweise schwierige, immer wieder kontrovers diskutierte As- pekte transparent zu machen wie die Frage, welche Zentren wie viele Patienten aus einem Land außerhalb von Eurotransplant auf die Warteliste aufnehmen.
Wenn Behandlungen durch Kooperationsverträge mit den Herkunftsländern abgesichert und mit einer Rezi- prozität verbunden wären, also einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen der Zahl transplantierter Patienten und den an Eurotransplant vermittelten Spenderorga- nen, könnte sich die Akzeptanz innerhalb und außer- halb der Ärzteschaft erhöhen.
TRANSPLANTATIONSSKANDAL IN GÖTTINGEN
Mehr Transparenz und Kontrolle
Nicola Siegmund-Schultze
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze Medizin- und Wissenschaftsjournalistin