• Keine Ergebnisse gefunden

Die Mathematik in Göttingen unter den Nazis

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Die Mathematik in Göttingen unter den Nazis "

Copied!
6
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Die Mathematik in Göttingen unter den Nazis

von Saunders Mac Lane

Das Mathematische Institut in Göttingen im Jahre 1931 hatte eine herausragende Tradition: Gauß, lliemann, Dirichlet, Felix Klein, Minkowski und Hilbert. Es befand sich in einem neuen und großzügigen Gebäude (dank der Rockefeller Foundation, die auch für die Mathematik in Paris ein derartiges Gebäude bereitgestellt hatte). Die Bibliothek war geräumig und enthielt auch eine berühmte Truhe, in dem sich die explizite Konstruktion des 65537-Eckes mit Zirkel und Lineal befand. Der Lehrkörper war aus heutiger Sicht klein aber hervorragend, mit einem großen Anteil von jungen Dozenten.

Vor meinem Aufenthalt hatten viele amerikanische Mathematiker in Göttingen studiert (kurz zuvor H.B. Curry). Ich möchte hier meine eigenen Erfahrungen zusammenfassen, und dabei ausführlich aus einigen Briefen zitieren, die ich zu dieser Zeit (1933) geschrieben habe, da sie meine Reaktionen vor Ort festhalten. Im Jahre 1931- nachdem ich von Yale graduiert worden war und ein ziemlich enttäuschendes Jahr als ,,graduate student"

in Chicago verbracht hatte - suchte ich nach einem wirklich erstklassigen mathematischen Institut, in dem auch die mathematische Logik vertreten war. Ich fand beides in Göttingen.

Hilbert war schon emeritiert, aber er hielt noch ein- mal in der Woche eine Vorlesung über "Einführung in die Philosophie auf der Grundlage der modernen Wissenschaft". Sein Nachfolger Hermann Weyl hat- te ein breites Vorlesungsangebot über Differential- geometrie, algebraische Topologie und die Philoso- phie der Mathematik (über die ich eine Vorlesungs- ausarbeitung anfertigte). Aus seinem Seminar über die Darstellungstheorie von Gruppen lernte ich eine Menge (z.B. über den Nutzen der linearen Trans- formationen), aber ich versäumte seinem dringen- den Rat zu folgen, daß Algebraiker die Struktur von Lie-Algebren studieren sollten. Ich war auch nicht überzeugt von seiner Behauptung, daß in der Men- genlehre zu viel Sand war. Edmund Landau (Pro- fessor seit 1909) hielt Vorlesungen vor einer großen Zuhörerschaft, die wie üblich von ausgefeilter Klar- heit waren, und mit Assistenten, die für die Reini- gung der Rolltafeln zuständig waren. Richard Cou- rant, geschäftsführender Leiter des Instituts, instru- ierte und dirigierte die vielen Assistenten, die an dem Manuskript des Courant-Hilbert Buches arbeiteten. Gustav Herglotz vermittelte in seinen Vorlesungen beredt Einblicke in ein weites Feld von Gegenständen: Lie-Gruppen, Mechanik, geometrische Optik, Funk- tionen mit positivem Realteil. Felix Bernstein lehrte Statistik, er ging weg im Dezember 1932, bevor die Sintflut einbrach. Soweit die damaligen ordentlichen Professoren in Göttingen.

Zu den außerordentlichen Professoren (mit viel weniger öffentlichem Ansehen) gehörten Paul Ber- nays, Paul Hertz und Emmy Noether. Hertz hielt Vorlesungen über Kausalität und Physik (die berühmten physikalischen Institute mit Max Born, Robert Pohl und James Frank waren gleich neben- an). Paul Bernays arbeitete zusammen mit Hilbert über Logik und an der Vorbereitung des geplan- ten Hilbert-Bernays Buches "Grundlagen der Ma- thematik". Er hielt auch (mit weniger Begeisterung)

DMV Mitteilungen 2/96

die berühmte Felix-Klein-Vorlesung "Elementarma- thematik vom höheren Standpunkt", die vor allem für zukünftige Gymnasiallehrer gedacht war. Emmy Noether (die Hermann Weyl als mit ihm gleichberech- tigt ansah), hielt enthusiastische, aber obskure Vor- lesungen über ihre jeweiligen Forschungen (z.B. über Gruppendarstellungen und über Algebren). Zu ihren begeisterten Studenten gehörten Ernst Witt und Os- wald Teichmüller.

Es gab viele junge Privatdozenten und Assisten- ten, darunter Hans Lewy, von dem ich partielle Dif- ferentialgleichungen lernte, Otto Neugebauer (Ge- schichte der Mathematik) und Arnold Schmidt (Lo- gik), als auch Herbert Busemann, Werner Fenchel, Franz Rellich und Wilhelm Magnus. Oft gingen wir zu dem feinen Restaurant beim nahe gelegenen Bahn- hof, um gut zu essen und zu diskutieren. Es gab vie- le eifrige Studenten, darunter Gerhard Gentzen (Lo- gik), Fritz John, Peter Scherk, Olga Taussky und Ernst Witt. Zum gesellschaftlichen Leben gehörte ein einmaliger Tanzabend in der Wohnung von Profes- sor Weyl. Wer an einem Sonntag an der Villa von Edmund Landau klingelte, um seine Visitenkarte zu hinterlassen, konnte sicher sein, zu einer der folgen- den Landau-Parties eingeladen zu werden, die voll von Wettspielen waren. Einmal war G.H. Hardy von Landau eingeladen worden, daher ging Landau zum Zug, um ihn abzuholen. Hardy im Trenchcoat und mit dunkler Brille stieg aus dem Wagen aus. Landau stürzte sich auf ihn, um ihn nach den neuesten Er- gebnissen über seine "minor arcs" zu fragen, die er in der analytischen Zahlentheorie benutzte; Hardy ant- wortete zu Landaus Enttäuschung, daß er alles Inter- esse daran verloren hätte. Es stellte sich heraus, daß die dunkle Brille nicht Hardy verbarg, sondern einen Studenten von Landau, der ihm einen Streich spielen wollte.

Es gab viele andere Gäste. Paul Alexandroff kam, um die neuesten Konzepte aus der algebraischen To-

13

(2)

S. Mac Lane

pologie vorzustellen (wie in seinem Büchlein "Ein- fachste Grundbegriffe der Topologie"). Emil Artin kam aus Hamburg, um die verborgenen Schönheiten der Klassenkörper-Theorie zu erklären. Oswald Ve- blen sprach in einem der wöchentlichen Kolloquien über projektive Relativitätstheorie. Wie immer gab es vor dem Kolloquium Tee und eine Ausstellung der neuesten Hefte der Zeitschriften. Richard von Mi- ses war damals Professor in Berlin, dem langjährigen Rivalen der Mathematik in Göttingen. Er gab eine Abendvorlesung über seine gelegentlich etwas unkla- re Grundlegung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf dem Begriff des "Kollektivs". Die ganze Prominenz von Göttingen hörte zu, und dann rügten Hilbert, Bernays, Bernstein und andere öffentlich seinen An- satz. Kurz gesagt, neue Ideen wurden eindrucksvoll vorgestellt und diskutiert. Es gab viel persönlichen Kontakt; z.B. wohnte ich eine Zeit lang in Courants Haus, um ihn zur Vorbereitung seines geplanten Be- suchs in den USA mit der englischen Sprache vertraut zu machen.

So war das Mathematische Institut in Göttingen in den Jahren 1931-1932 ein dynamisches und erfolg- reiches Modell eines herausragenden mathematischen Zentrums.

Im Jahr 1931 war Deutschland massiven wirt- schaftlichen und politischen Problemen ausgesetzt.

Die große Depression hatte viel Arbeitslosigkeit ver- ursacht, und viele Deutsche erinnerten sich noch klar an die schmerzliche Inflation nach dem Krieg. Der deutsche Kanzler Brüning hatte keine sichere Mehr- heit im Reichstag, daher hatte er mit Notverordnun- gen zu regieren. Die Leute, die ich kannte, waren von diesen Dingen betroffen und hatten oft liberale oder leicht linke Einstellungen. Aber ich kann mich an nie- manden erinnern, der die Zukunft klar vorhersehen konnte. Ich kam in Deutschland zunächst in Berlin an, um die Sprache zu lernen und etwas Kultur ken- nen zu lernen (z.B. Bertolt Brecht und die Dreigro- schenoper). Die Kommunisten und Sozialdemokraten wetteiferten mit azisturmtruppen (der SA). Ich stu- dierte sorgfältig eine Broschüre: "Die 27 politischen Parteien in Deutschland"; der Weimarer Republik war es gelungen, die Politik schrecklich zu zersplit- tern. Nachdem ich mich in Göttingen niedergelassen hatte, konnte ich jeden Sonntag die jungen Studen- ten mit verbundenen Gesichtern sehen, sie kamen von den Mensuren der schlagenden Verbindungen. Viel- leicht hofften sie auf die allgemeine Bewunderung, die man den Professoren der Rechtswissenschaft mit ih- ren eindrucksvollen Schmissen entgegenbrachte. Ein- mal im Winter verteidigte ich einen Straßenbengel, der unklugerweise einen Schneeball auf einen Corps- studenten geworden hatte. Der Student forderte mich daraufhin heraus: "Ihre Karte bitte!" Ich hatte keine Visitenkarte dabei, und lehnte die Herausforderung

14

ab. Der Student antwortete: "Mit solchen Leuten ver- kehren wir nicht", und er tat es wirklich nicht: er be- gegnete mir oft auf der Straße mit wortloser Verach- tung. Vielleicht hatte ich Glück. Es wird erzählt, daß Georg Polya 1912 in Göttingen war und von einem Studenten herausgefordert wurde. Er lehnte ab, wor- aufhin ihn der Rektor anwies, die Universität zu ver- lassen. Es gelang mir zu bleiben, zu meinem großen Vorteil.

Im Jahr 1932 war die Politik in Deutschland tur- bulent. Mit Straßenschlachten in Berlin und an an- deren Stellen zwischen Sturmtrupps der Nazis und Kommunisten. Dann gab es im Januar 1933 eine Wahl, in der die Nazis gemeinsame Sache mit der Deutsch-Nationalen Partei (angeführt von von Pa- pen) machten; diese Nationalisten glaubten wahr- scheinlich, daß sie Hitler kontrollieren könnten; die gemeinsamen Stimmen reichten aus, um Hitler zum Reichskanzler zu machen. Seine Reden und sein Bild erschienen überall.

Am 12. Februar 1933 machte ich einen Besuch in Weimar. Nach der Ankunft ging ich zum Opern- haus, aber die Karten für den nächsten Tag waren alle ausverkauft (es war der 50. Todestag von Wagner).

Glücklicherweise gelang es mir am nächsten Vormit- tag, vor dem Opernhaus doch noch eine Eintrittskar- te zu bekommen; die erste Hälfte der Oper (natürlich Wagner) war hervorragend. In der Pause ging ich ins Foyer. Da, in etwa zehn Metern Entfernung, standen Hitler und Göring (leicht zu erkennen durch die Fo- tos in den Zeitungen). In dieser Zeit konnte ich die Anzeichen des Übels noch nicht ganz erkennen, eini- ge Monate später war das möglich. In späteren Jah- ren erinnerte ich mich lebendig an den Anblick von Hitler, aber ich glaubte, daß es später stattgefunden hatte, im Mai 1933. Daher schien es mir später die einmalige Gelegenheit gewesen zu sein, bei der ich (hätte ich eine Waffe bei mir gehabt) persönlich die Geschichte hätte ändern können.

Am 5. März 1933 veranstaltete die Regierungsko- alition eine neue Wahl, der große Anstrengungen der Propaganda vorausgingen. Das Ergebnis war eine viel größere Mehrheit für die Regierung. Die Auswirkun- gen sind beschrieben in zwei Briefen, die ich an meine Mutter richtete, einer datiert vom 10. März 1933 und der andere undatiert.

Der erste Brief (10.3.33) ist ein Lobpreis der Pro- paganda mit Hintergedanken. Ich hatte nie zuvor ge- sehen, wie offizielle Propaganda Meinungen ändern konnte. Zu der Zeit, als ich Deutschland im August verließ, fühlte ich mich durch die stetige Propagan- da derart irregeführt, daß ich nicht mehr wußte, was wirklich in der Welt vorging.

In dem zweiten, undatierten Brief erscheine ich beunruhigt durch den Gedanken, daß meine Briefe zensiert werden könnten. Ich glaube jetzt, daß die-

DMV Mitteilungen 2/96

(3)

DMV Mitteilungen 2/96 15

(4)

S. Mac Lane

se Besorgnis unberechtigt war, aber ich war etwas in Sorge wegen meines Exemplars von "Das Kapital";

ich erinnere mich, daß ich es sorgfältig in einer Schub- lade unter einigen Hemden versteckte. In der Tat, am 10. Mai 1933 gab es in Göttingen eine Buchverbren- nung. Etwa zu der Zeit war es nicht mehr erlaubt, daß meine Mutter mir Exemplare des "Literary Di- gest" schickte.

Nachdem ich diese Briefe geschrieben hatte, fuhr ich zu einem von Studenten organisierten Skiurlaub nach Österreich. Auf der Rückreise mit dem Zug (mit einem Gruppenfahrschein) hatten wir drei Stunden Aufenthalt in ürnberg. Es war der Tag, an dem Hit- ler einen friedlichen Boykott aller jüdischen Läden verordnet hatte. Ich ließ Skier und Gepäck im Zug, um etwas die Stadt zu erkunden. Da sah ich vor ei- nem großen Schuhgeschäft einen schäbig aussehen-.

den Mann, der in die Auslage guckte. Der Laden war geschlossen, aber trotzdem erspähte ihn die Polizei und stieß ihn sofort weg. Da ich angenommen hatte, daß der Boykott friedlich sein sollte, war ich neugie- rig und folgte ihm. Bald wurde ich auch festgenom- men. Der gewissenhafte Polizist nahm an, daß ich einer der angelsächsischen Reporter war, die Lügen über das Reich sammelten; er machte mir Vorwürfe.

Ich suchte ihm zu versichern, daß ich kein Reporter war, sondern nur ein Student. Er bemerkte daraufhin, daß er sich nicht in Angelegenheiten der Polizei ein- mischen würde, wenn er Besucher in den USA wäre.

Ich versuchte mein Bestes, ihm zu erklären, daß all meine Habseligkeiten dabei waren, mit dem Zug ab- zufahren. Er ließ mich gerade noch rechtzeitig los, daß ich meinen Zug erreichte. So kehrte ich nach Göttin- gen zurück in meine Wohnung in der Latzestraße 28, nicht weit vom Mathematischen Institut. Dort ver- sorgte mich meine Vermieterin regelmäßig mit abend- lichem Tee und Unterhaltung; ich bemerkte schnell, daß zwei Wochen Propaganda ihre leicht konservati- ven Ansichten in hitzige azigefolgschaft verwandelt hatten.

In Deutschland sind Professoren, Privat-Dozenten und Assistenten Staatsbeamte. Durch ein am 7.

April 1933 verkündetes Gesetz wurde angeordnet, daß "nicht-arische Beamte" in den Ruhestand zu ver- setzen seien. Ausnahmen waren "Altbeamte", die vor 1914 eingestellt worden waren und "Frontkämpfer".

Zusätzlich konnten Beamte, "die nach ihrer bisheri- gen politischen Betätigung nicht die Gewähr bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten", in den Ruhestand versetzt werden.

Die Auswirkungen im Mathematischen Institut waren drastisch. Courant, oether und Bernstein wurden sofort beurlaubt (am 25. April). Im Fall von Courant verschonte ihn sein Dienst im Ersten Welt- krieg nicht; offensichtlich machten ihn seine früher- en politischen Ansichten und sein weiter m~thema-

16

tischer Einfluß (geerbt von Felix Klein) unliebsam.

Nach seinem Ausscheiden wurde Neugebauer zum Geschäftsführer des Instituts gemacht. Aber er war es nur einen Tag, danach wurde auch er beurlaubt, an- scheinend wegen seiner politischen Sympathien, aber vielleicht auch nur, weil er es versäumt hatte, sei- nen Rasen zu mähen! Am 27. April wurden Bernays, Hertz und Lewy beurlaubt. Landau wurde angewie- sen, im folgenden Sommersemester keine Vorlesun- gen zu halten; er folgte dieser Anweisung. Daraufhin schrieb ich im Brief vom 3. Mai an meine Mutter:

So many professors and instructors have been fired or have left that the mathematics department is pretty thoroughly emasculated. It is rather hard on mathematics, and we have but the cold comfort that it is the best thing for the Volk.

Durch das folgende Sommersemester kämpfte man sich irgendwie durch. Viele Studenten, denen es möglich war, beeilten sich, ihre Examina zu machen.

Ich hatte den Betreuer meiner Dissertation (Paul Bernays) verloren; Hermann Weyl ersetzte ihn und ich mußte mich einer harten mündlichen Prüfung un- terziehen. Ich kam durch, aber in der Definition eines Hausdorff-Raums vergaß ich das Trennungsaxiom für Umgehungen, wagte ich jedoch nicht zu erwähnen, daß Weyl es selbst einmal in einem Buch vergessen hatte. Für eine andere mündliche Prüfung hörte ich eine Vorlesung über die Philosophie der Mathema- tik bei Professor Moritz Geiger. Obwohl er Jude und nicht Frontkämpfer war, blieb er diesen Sommer noch im Amt. Jedoch konnte ich in jeder Vorlesung seine nervöse Unruhe über die Zukunft bemerken- eine be- rechtigte Unruhe. Am 14. Juli schrieb ich an meine Mutter:

Just recently it has been proclaimed that the Ger- man revolution is now at an end; now things must proceed in evolution in a strictly legal fashion. That somehow gives the impression that up to the present everything has not proceeded in a strictly legal fash- ion, or at least that the SA (the Sturm Abteilung) has on occasion taken unto itself the rights and privileges of the police. How far that has happened I cannot very well tell.

Meine Verlobte, Dorothy Jones, war von New York nach Göttingen gekommen, um mir beim Ab- schluß meiner Dissertation zu helfen. Sie lernte viel von der politischen Situation kennen. Als wir zusam- men zum Standesamt gingen, um eine Heiratserlaub- nis zu bekommen, waren wir überrascht, dort meinen Kommilitonen Fritz John und seine Freundin Char- lotte zu treffen. Sie waren beunruhigt, daß wir sie dort entdeckten. Er war Jude, sie nicht; sie waren be- sorgt, schnell heiraten zu können, denn er fürchtete ein zukünftiges Gesetz, das solche Heiraten verbie- ten würde. Wir versprachen Vertraulichkeit; sie lu- den uns zu ihrem feierlichen Abend nach der Hoch-

DMV Mitteilungen 2/96

(5)

zeit ein. Unter den anderen Gästen war ein blonder Deutscher und seine offensichtlich jüdische Freundin.

Dorothy schrieb an meine Mutter: There is adventure amid romance in such a marriage.

Am 25. Juli schrieb ich an meine Mutter:

Politics continue to be as absorbing as ever. Fri- day night Dorothy and I went to a Nazi speech on the new order of things in the German universities. It turned out to be a most sensible speech. The speake1·

( a prominent Nazi professor in Berlin) did not de- mand that Wissenschaft be completely bound down by politics. He said that Wissenschaft should be in- dependent but not autonomaus . . . . After the meeting, we went downtown and drank coffee with my friend Gebhardt (whom we had met at the meeting). There again we discussed politics, the infiuence of Catholi- cism (blind obedience) upon Hitlerism, and so on far into the night. I have recently become impressed with the great variety of opinions within the Nazi move- ment. All Nazis do not think alike, even though it may externally seem as if they did!

(Zusatz im Jahre 1995: Ich erinnere mich nicht mehr an die Diskussion über den Katholizismus. Ich wußte damals sehr wenig über den deutschen Katho- lizismus und war ein großer Bewunderer der Toleranz meines Großvaters, der kraftvolle Predigten liebte.)

Meine mündliche Prüfung drohte noch- eine über geometrische Funktionentheorie mit diesem imponie- renden Professor Gustav Herglotz. Ich holte mir Rat bei meinen erfahrenen Freunden: Was sollte man tun?

Sie erinnerten mich, daß er es liebte zu dozieren. Das behielt ich während der Prüfung im Sinn:

Herglotz: Was ist das Erlanger Programm?

S.M.: Alles hängt von der Gruppe ab.

Herglotz: Was ist die Gruppe in der komplexen Analysis?

S.M.: Die konforme Gruppe.

Das war genug um Herglotz zu einem glänzenden Vortrag über geometrische Funktionentheorie aus der Sicht der konformen Gruppe zu bewegen. Damit war meine Promotion geschafft.

Aber für das Mathematische Institut gab es wei- tere Verluste. Hermann Weyl war kein Jude, aber sei- ne Frau; das bedeutete, daß ihre zwei Söhne als sol- che gezählt wurden. Daher verließ Hermann Weyl am Ende des Sommersemesters 1933 Göttingen und ging als Professor ans Institute for Advanced Study nach Princeton. Alles zusammen waren es 1933 achtzehn Mathematiker, die den Lehrkörper des Mathemati- schen Instituts in Göttingen verließen oder daraus vertrieben wurden. Das schloß Landau ein: Er wurde nicht offiziell entlassen, aber als er im Winterseme- ster 1933 seine Vorlesung wieder begann, organisier- ten die Studenten einen vollständigen Boykott. Dar- aufhin gab er auf und ging in den Ruhestand nach Berlin.

DMV Mitteilungen 2/96

Die Mathematik an der Universität Berlin war auch ernsthaft zerschlagen. Dort gingen 23 Mitglie- der des Lehrkörpers (darunter Alfred Brauer, Hans Freudenthal, D.H. Neumann und Richard von Mises).

Die speziellen (und oft weniger umfangreichen) Wir- kungen an anderen deutschen Universitäten wurden von Maximilian Pinl sorgfältig zusammengestellt. Ei- ne detaillierte Analyse der Situation in Göttingen wurde von N. Schappacher als Teil eines Buches über Göttingen unter den Nazis zusammengestellt.

Ein Beobachter hat die Wirkung auf die Mathe- matik in den folgenden Worten zusammengefaßt:

Within a few weeks this action would scatter to the winds everything that had been created over so many decades. One of the greatest tragedies expe- rienced by human culture since the time of the Re- naissance was taking place - a tragedy which a few years before would have seemed an impossibility un- der twentieth century conditions.

Es gab Versuche, die Mathematik in Göttingen wieder aufzubauen. Der bedeutende Algebraiker Hel- mut Hasse wurde Professor und Direktor des Insti- tuts; in der zurückliegenden Periode hatte er sich schwer getan mit mehreren Mathematikern, die en- thusiastische Nazis waren: Oswald Teichmüller, Wer- ner Weber und Erhard Tornier. Tornier war kurze Zeit Mitdirektor des Instituts. Bei einer Gelegenheit hoffte er, Hasse als Direktor entfernen zu können.

Tornier war der Partei gefällig. Zum Beispiel schrieb er später in der damals neuen Zeitschrift Deutsche Mathematik 1936 Band 1 Seite 2f:

... Auch die reine Mathematik nämlich hat reale Objekte - wer das wegdiskutieren will, ist ebenso Ver- treter jüdisch-liberalistischen Denkens wie jeder phi- losophische Solipsist ...

Jede Theorie der reinen Mathematik hat Lebensrecht, die wirklich imstande ist, konkrete Fragen, die sich auf reale Objekte wie ganze Zahlen oder geometri- sche Gebilde beziehen, zu beantworten, oder wenig- stens dem Aufbau dazu befähigter Theorien zu die- nen. Andernfalls ist sie entweder ein unvollendeter Anfang, nämlich wenn weiterer Ausbau ihr dazu ver- helfen kann, oder aber sie ist ein Dokument jüdisch- liberalistischer Vernebelung, entsprungen dem Intel- lekt wurzelloser Artisten, die durch Jonglieren mit objektfremden Definitionen sich und ihrem gedanken- losen Stammpublikum mathematische Schöpferkraft vorgaukeln, ...

Diese Art zu fragen wird meiner Ansicht nach am einfachsten ermöglichen, das uns ganz Wesensfrem- de vom Arteigenen zu trennen und in Zukunft ohne Abirrung deutsche Mathematik zu treiben.

Schließlich waren die vier Professorenstellen in Göttingen wieder besetzt (Hasse, Herglotz, Kaluza, Siegel). Aber selbst mit Carl Ludwig Siegel war der frühere Ruhm nicht wiederhergestellt.

17

(6)

S. Mac Lane

Zu einer bestimmten Zeit hoffte Hasse, seinen Einfluß bei den Autoritäten verstärken zu können.

Wie sein Schwiegersohn Martin Kneser berichtet, be- warb er sich um die Mitgliedschaft in der NSDAP, aber es stellte sich heraus, daß eine seiner Ur- urgroßmütter jüdisch war. Über seine Bewerbung wurde bis nach dem Krieg nicht entschieden. Nach dem Krieg wurde Hasse im Zug der Entnazifizierung entlassen. Seither wurde das Göttinger Mathemati- sche Institut schrittweise wieder aufgebaut. Es ist nun eines von mehreren solchen Instituten an deut- schen Universitäten, und es ist nicht gelungen, die ursprüngliche herausragende Stellung wieder zu er- langen.

Als Dorothy und ich im August 1933 Göttingen verließen, trug ich mit mir in einem Schatzkästchen ein wenig von dem Glanz des früheren Göttingen als einzigartig herausragendem mathematischen In- stituts. Ich trauerte um den Verlust, aber nicht nur um der Wissenschaft willen. Ich sah den Holocaust nicht vorher, aber ich war mir der Macht der staat- lichen Propaganda bewußt und es war mir Bange vor den Aussichten auf einen Weltkrieg, dessen Ver- hinderung außerhalb meiner Kräfte stand. Nun im Rückblick ist die gesamte Entwicklung ein schlüssi- ger Beweis für den Schaden, der dem akademischen und mathematischen Leben zugefügt wurde durch Unterwürfigkeit unter Populismen, politischen Druck und verordnete politische Prinzipien.

Literatur

[1] S. MAC LA E (1981), Mathematics at the Univer-

Stehend: Paul Bernays, Hans Lewy (?), 0. F. G. Schil- ling, Schwertfager (?). Die nach rechts sehende Dame könnte Ol- ga Taussky sein, dann Erna Barrow, Emmy Noether (fast verdeckt), Paul Alexandroff (?), (?). Sitzend im Vordergrund:

Ernst Witt, (?), Mac Lane (?), (?), (?).

sity of Göttingen, 1931-1933, in Emmy Noether, A Tribute to Her Life and Work, (J. K. Bre- wer and M. K. Smith, eds.), Marcel-Dekker, New York, 1981, pp65-78.

[2] __ , Mathematics at the University of Chicago, in A Century of Mathematics in America, Vol. II, Amer. Math. Soc., Providence, RI, pp. 128-151.

[3] M. Pinl, Kollegen in einer dunklen Zeit, Jahres- her. Deutsch. Math.-Verein. 71 (1969), 167-288;

(1970/71), 165-189; 73 (1971/72), 153-208; 75 (1973/74), 160-208.

[4] N. Schappacher und E. Scholz, Oswald Teichmüller - Leben und Werke, Jahresber.

Deutsch. Math.-Verein. 94 (1992), 1-35.

[5] N. Schappacher, Das Mathematische Institut der Universität Göttingen 1929-1950, Die Universität Göttingen unter dem ationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250-Jährigen Geschich- te. München K. G. Saur, 1987, S. 345-373.

(Aus den Notices der AMS, Vol 42, No. 10, Oktober 95, mit Genehmigung von Autor und Herausgeber übersetzt von G. Fischer. Der Autor dankt Professor Sanford Segal für mehrere Verbesserungen.)

Adresse des Autors:

Prof. Sanders Mac Lane The University of Chicago Department of Mathematics 5734 University Avenue

Chicago, Illinois 60637-1546 / USA

Die freundlichen Hügel in der Nähe von Göttingen waren für Ausflüge wie geschaffen. Eines Tages, während ihrer Vorlesung, bemerkte Prof. Noether mit Widerwillen, daß das Mathematische Institut zu ihrer nächsten Vorlesung wegen Ferien geschlossen sein würde. Um die mathematische Forschung vor dieser bedauerlichen Unterbrechung zu bewahren, schlug sie einen Ausflug zum Caje. von Kerstlingeröderfeld vor. Also traffen wir uns alle diesem Tag am Eingang des Instituts - Noether, Paul Bernays, Ernst Witt usw. Nach einer guten Wanderung tranken wir Kaffee, unterhielten uns über Algebra und wanderten zurück, zu unser aller Gewinn. Es gab noch einige solcher Ausflüge, z.B. anlaßlieh des Besuchs von Oswald Veblen. Das obige Foto (freundlicherweise von Martin Kneser zur Verfügung gestellt), mit einigen unsicheren Identifizierungen (war ich wirklich. da?), könnte dies belegen.

18 DMV Mitteilungen 2/96

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

 Hudal  gründete  die  „Assistenza  Austriaca“,  die   österreichische  Vertretung  der  Päpstlichen  Hilfskommission..  Er  beschaffte  vielen

Die Bezeichnung Agoraphobie wird häufig mit Platzangst gleichge- setzt, doch sie ist nicht als Angst vor engen Räumen definiert, sondern als Angst vor bestimmten Situationen,

Sie sind Schmerzmittel oder Hustenstiller, aber auch gegen Durchfall wirksam.. Opioide können

Wirst du dich jetzt nicht mehr gegen Nazis outen, wo die Marburger Polizei Antifaschistische

Die Wörter können auch im Wörterbuch nachgeschaut werden um zu sehen, ob es dieses Wort tatsächlich gibt und natürlich auch um den Umgang mit dem Wörterbuch zu üben. Es

Verschlechterung durch Wasserkraftanlagen geben!" Durch die Erweiterung des ÖBB-Kraftwerks Spullersee, würden dem Tiroler Flussjuwel Lech 24 Millionen Kubikmeter Wasser pro

Das ÖBB-Kraftwerk Spullersee bedeutet einen schwerwiegenden Eingriff in das sensible Ökosystem Lech mit katastrophalen Folgen für das Wildflusssystem und

Obwohl selbst die naturschutzfachlichen Sachverständigen der Tiroler Landesregierung von einer „hohen Eingriffserheblichkeit“ durch das ÖBB-Kraftwerk Spullersee in das