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3. Regeln folgen und Sprache spielen

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3. Regeln folgen und Sprache spielen

In diesem Kapitel werde ich Ryles Kritik am Intellektualismus in einen größeren Zusammenhang stellen. Denn sein Regressargument hat große Ähnlichkeit mit dem Regelregressargument, das durch den späten Ludwig Wittgenstein prominent geworden ist. Ich werde es als das klassische Problem des Regelfolgens vorstellen und erörtern. Damit tritt zugleich der Begriff der Regel in den Fokus der Diskussion. Wittgensteins Überlegungen zu diesem Begriff umfassen zusätzlich ein Argument gegen den semantischen Konventionalismus. Dies werde ich in der Lesart Saul Kripkes als das moderne Problem des Regelfolgens vorstellen und erörtern. Diese beiden Aspekte grenzen den Gegenstand dieser Arbeit systematisch ein. Ziel der Diskussion des Problems des Regelfolgens ist die Verortung des Themas in einem sprachlich-semantischen Zusammenhang.

Dadurch soll es möglich werden, die These vom Primat des Könnens durch eine Rückführung von Wissen auf sprachliche Fähigkeiten zu belegen. Die Bestimmung von Wissen als Können stellt sich damit als eine Reaktion auf die beiden Probleme des Regelfolgens dar. Während der Intellektualist vor allem mit dem klassischen Teil des Problemkomplexes konfrontiert ist, muss der Anti-Intellektualist zudem eine Lösung des modernen Teils finden.

3.1 Regressive Erklärungsmodelle – Homunkulismus

Ryles Regressargument ist weder einzigartig noch vollkommen neu.

Es lässt sich einer bestimmten Klasse von Argumenten zuordnen und steht mit seiner Kernaussage in einer längeren Tradition. Dabei handelt es sich um Reaktionen auf ein bestimmtes Erklärungsmodell, das sich insbesondere in der Psychologie, in den Kognitionswissenschaften und in der neueren Philosophie des Geistes findet. Seine Kritiker bezeichnen das Modell auch als „Instanzenmodell der Psyche“ oder als „Homunku- lismus“.64 Obwohl es in sehr unterschiedlichen Formulierungen vorkommt, hat es eine weitgehend einheitliche Grundstruktur. Stets werden zu

64 Vgl. auch zu den folgenden Beispielen Keil (2003).

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erklärende Aspekte eines intelligenten oder geistbegabten Wesens nach innen projiziert und an spezialisierte Instanzen delegiert.65 Es wird auf eine untergeordnete Erklärungsebene gewechselt, um dort den Sitz eines bestimmten Vermögens zu verorten, das sich auf der ursprünglichen Betrachtungsebene manifestiert. So werden beispielsweise perzeptive oder kognitive Leistungen einer Person dadurch erklärt, dass ein Teil oder ein Subsystem in ihm diese Leistungen hervorbringt. Dem Subsystem wird dadurch insgeheim unterstellt, dass es entscheidende Eigenschaften und Fähigkeiten mit dem Gesamtsystem teilt. Als eine innere Miniatur verfolgt es konkrete Ziele und Strategien und übt auf das Gesamtsystem maßgeblichen Einfluss aus.

Ein Beispiel für einen Homunkulismus ist die Erklärung der Funktionsweisen der visuellen Wahrnehmung durch die Annahme eines invertierten Netzhautbildes. Nach dieser Erklärung wird die Netzhautreizung für eine eigene bildhafte Repräsentation gehalten.

Dadurch wird sie zu etwas gemacht, das selbst wieder betrachtet werden kann. Vertreter dieser Auffassung behaupten also, dass sich im Kopf einer sehenden Person eine Art zweites Augenpaar befindet, das von hinten die Netzhaut betrachtet.66 Das vom Auge Gesehene wird im Innern wiederum so gesehen, wie bereits das Auge seine Umgebung gesehen hat. Ein anderes Beispiel für einen Homunkulismus ist Platons Erklärung der Seele.67 In seinem Gleichnis vom Seelenwagen beschreibt er die Seele als etwas, das sich aus zwei Pferden und einem Wagenlenker zusammensetzt.

Die Arbeitsweise der Seele versteht er im Allgemeinen analog der Arbeitsweise der beseelten Person selbst. Ihr wohnt eine weitere Person in Form eines Wagenlenkers inne, die die verschiedenen Seelenteile zusammenhält und beeinflusst. Dasselbe Erklärungsmodell ist es letztlich auch, das Ryle als Dogma vom „Geist in der Maschine“ kritisiert.68 Auch dieser Erklärung des mentalen Apparats des Menschen liegt die

65 Zu der prinzipiellen Möglichkeit „externer Homunkuli“ vgl. ebd., 91. Am Beispiel des Computermodells des Gehirns zeigt G. Keil, dass es auch Projektionen „nach außen“ gibt.

66 Die Rede von einem „zweiten Augenpaar“ lässt sich auch durch einen unverfänglicheren Ausdruck wie z. B. „visuelles System“ ersetzen.

67 Vgl. Platon (1994b), 246b - d u. 253d - 254e.

68 Vgl. Ryle (1949), 32 ff.

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Vorstellung zugrunde, dass sich die Person miniaturisiert im Innern wiederfindet. Das „Dogma“ besagt, dass die innere Instantiierung der Person für eine kognitive Leistung verantwortlich ist, die sich in deren äußerem Erscheinungsbild ablesen lässt.

Das homunkulistische Erklärungsmodell ist allerdings mit einem bedeutenden Problem konfrontiert. Denn wer von ihm Gebrauch macht, begeht einen Fehlschluss.69 Dieser besteht darin, dass dieselben Prädikate, die auf die jeweilige Fähigkeit des Gesamtsystems zutreffen sollen, auch auf das Subsystem angewendet werden. Dadurch gerät die Erklärung in einen Regress. Durch die Annahme eines Subsystems wird nichts erklärt.

Das Problem wird nur hinausgeschoben. Denn der Schritt vom Gesamt- zum Subsystem lässt sich ja bezogen auf das Subsystem erneut durchführen. Ihm wird dann erneut ein Subsystem eingeschrieben und diesem ein weiteres und so fort ad infinitum. Somit bleibt das Modell die Erklärung letztlich schuldig. Was als „little man in the brain“70 oder als

„Geist in der Maschine“ bestenfalls eine Sprachkonvention sein kann, verdichtet sich zu einer unhaltbaren Hypothese. So auch die Behauptung des epistemologischen Intellektualismus, Können sei eine Unterart von Wissen. Wie gesehen weist Ryle die Reduktion von Können auf Wissen aufgrund desselben regressiven Charakters zurück, den alle Erklärungen dieser Art aufweisen. Er weist dem Intellektualisten nach, dass er im epistemischen Subjekt dieselbe Fähigkeit voraussetzt, die er an ihm eigentlich erklären will.

Homunkulistischen Erklärungen liegt also die Struktur einer fortlaufenden Miniaturisierung zugrunde. Doch es geht dabei um mehr als um eine formale Wiederholungsstruktur. Die Annahme eines Subsystems soll eine bestimmte Leistung oder Fähigkeit erklären. Dabei wird davon ausgegangen, dass das jeweilige Subsystem ein Adressat von Anweisungen ist.71 Es ist in der Lage, Aufgaben zu lösen und Entscheidungen zu fällen.

Kurz, es ist eine Instanz, die sich gemäß bestimmten Regeln verhalten kann. Wenn etwa die Wahrnehmungstheoretikerin behauptet, dass unser visuelles System beim Sehen Bilder auf der Netzhaut interpretiert, dann

69 Vgl. z. B. Kenny (1991).

70 Vgl. Dennett (1969), 51, 87, 99 u. 190.

71 Vgl. Keil (2003), 103.

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muss sie zugleich annehmen, dass dieses System gemäß bestimmten Kriterien vorgeht. Wenn Platon sagt, dass ein Wagenlenker die Seele steuert, dann muss er zugleich annehmen, dass dieser bestimmten Anweisungen folgt. Und wenn der Intellektualist behauptet, dass Wissen Können steuert, dann muss er zugleich annehmen, dass die Auswahl der einzelnen Wissensportionen gemäß bestimmten Regeln erfolgt.

Das Befolgen von Regeln, so lässt sich festhalten, ist das, was allen Varianten des homunkulistischen Erklärungsmodells zugrunde liegt. Indem sie mit Regeln in Zusammenhang stehen, erhalten die fraglichen Leistungen oder Fähigkeiten ihre spezifische Qualität. Somit lässt sich der Begriff der Regel als der funktionalen Kern des erwähnten Erklärungsmodells bezeichnen. Der Regressvorwurf betrifft eine Unschlüssigkeit, die ebenfalls alle Varianten dieses Modells betrifft. Und zusammengenommen ergeben die beiden Aspekte das Argument vom Regress der Regeln oder einfach das Regelregressargument.72 Es bringt auf den Punkt, weshalb alle Erklärungen, die diesem Modell entsprechen, auf dieselbe Weise unzulänglich sind. Für sich betrachtet scheint jede eine ganz eigene Variante des Regressvorwurfs hervorzurufen. Durch ihr individuelles Thema scheint auch eine individuelle Kritik nötig. Letztlich lassen sich die Beispiele aber auf einen gemeinsamen Nenner bringen und als Varianten desselben Arguments identifizieren.

3.2 Wittgenstein und das Problem des Regelfolgens

Die Hauptquelle für das Regelregressargument ist Ludwig Wittgensteins Spätphilosophie, insbesondere seine Philosophischen Unter- suchungen und Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik.73 In der Geschichte der Philosophie vor Wittgenstein ist das Problem des Regelfolgens jedoch nicht unbekannt. So zeigt Lewis Carroll beispielsweise in dem kurzen Aufsatz „What the Tortoise said to Achilles“, dass die Einführung eines Konditionals als zusätzliche Prämisse in einem deduktiven Schluss zu einem Regress führt.74 Immanuel Kant ist mit dem

72 Vgl. z. B. Blackburn (1984), Kap. 2, Haugeland (1998b), Brandom (1994), Kap. 1, Glüer (2002) o. Esfeld (2002), Kap. 3.

73 Vgl. Wittgenstein (1984d) u. Wittgenstein (1984a).

74 Vgl. Carroll (1895). Vgl. hierzu ausführlich Kap. 5.12.

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Problem ebenfalls vertraut. In seiner Kritik der reinen Vernunft formuliert er das besagte Argument, allerdings ohne dass es zu programmatischer Geltung kommt.75 Das Thema kann letztlich bis zu Platon zurückverfolgt werden.76 Seine Bekanntheit und sein dialektisches Gewicht erlangt es allerdings erst durch Wittgensteins Erörterungen und einige prominente Deutungen.

Auch Ryle liefert eine Version dieses Arguments. Gelegentlich bringt er in seiner Kritik des Intellektualismus die Rede direkt auf den Begriff der Regel.77 Den Vertretern der „intellektualistischen Legende“ wirft er diesbezüglich eine falsche Interpretation vor. Das Missverständnis liegt für ihn darin, dass sie für Fälle von Können ein explizites Wissen von Regeln annehmen, was in besagten Regress führt. Er dagegen hält es für unwesentlich, ob jemand, der intelligent oder gekonnt handelt, ausdrücklich an die Regeln denkt, die er befolgt. Sie müssen ihm nicht einmal bekannt sein. Vielmehr folge er ihnen, „without thinking about them“.78 Dies liest sich wie eine nicht-metaphorische Formulierung des bekannten Satzes Wittgensteins: „Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge ihr blind.“79 Der Begriff des blinden Regelfolgens kann daher als ein gemeinsamer Titel sowohl für Ryles als auch für Wittgensteins Gegenentwurf zum Intellektualismus gelten. Der Weg dahin ist bei Wittgenstein jedoch ein etwas anderer. Wie ich im Folgenden zeigen werde, geht seine Diskussion des Problems des Regelfolgens über Ryles Emanzipationsbemühungen für den Begriff des Könnens und des intelligenten Handelns noch hinaus.

Die wichtigsten Ergebnisse, zu denen Wittgensteins Diskussion des Problems des Regelfolgens führt, lassen sich durch zwei Schlagworte fixieren. Das eine ist das „Regelregressargument“, das andere der

75 Vgl. Kant (1998), B 171 f.

76 Das ist jedenfalls die Lesart W. Wielands. Vgl. Wieland (1982), 224 ff., 252 ff. u.

291 ff.

77 Ryle redet sowohl von „Regeln“ als auch von „regulativen Propositionen“,

„Maximen“ oder „Imperativen“. Vgl. Ryle (1949), 29 ff. u. 46 ff. „Knowing-how“

oder Können lässt sich somit auch als das Befolgen von Regeln oder das Anwenden von Kriterien auffassen.

78 ebd., 47.

79 Wittgenstein (1984d), § 219.

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„Bedeutungsskeptizismus“.80 Der erste Ausdruck fand bereits mehrfach Erwähnung. Er steht für das, was ich als klassisches Problem des Regelfolgens bezeichnen werde. Klassisch ist das Problem deshalb, weil es, wie gesehen, in der Geschichte der Philosophie auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Die Rede vom „Bedeutungsskeptizismus“ ist eher jüngeren Datums und geht unmittelbar auf Wittgenstein zurück. Ich werde es daher das moderne Problem des Regelfolgens nennen. In Ergänzung zum klassischen Problem stellt es eine neue Erkenntnis dar. Wittgenstein thematisiert also nicht nur ein altbekanntes Problem neu. Er leistet dazu auch einen originären Beitrag. Bevor ich die Besonderheiten und Gemeinsamkeiten der beiden Problemkomplexe erläutere, bedarf es jedoch einiger grundlegender Festlegungen hinsichtlich des Begriffs der Regel.

3.3 Sprache und Regeln

Bei Wittgenstein gibt es keine genaue Definition des Regelbegriffs.

Für ihn trifft er auf Dinge zu, die nicht alle ein gemeinsames Merkmal, dafür aber „Familienähnlichkeiten“ aufweisen.81 Dennoch hat er einen zentralen Stellenwert in seinen späteren Arbeiten. Das gilt insbesondere für Regeln, die in Spielen und mathematischen Operationen vorkommen. Und nicht zuletzt zielen seine Überlegungen auf die Anwendung im Bereich der Sprache ab. So ist auch das epistemologische Problem des Verhältnisses von Wissen und Können, für Wittgenstein mehr noch als für Ryle, ein sprachliches, welches auf dem Begriff der Regel fußt. Eine Grundannahme ist dabei, dass Sprache ein System von Wörtern und Sätzen ist, deren Gebrauch bestimmten, wenn auch nicht festen oder exakten Regeln unterliegt.82 Wie die Teilnehmer eines Spiels, befolgen Sprecher Regeln, ohne die dieses System nicht denkbar ist.

Die mathematischen Beispiele dienen Wittgenstein dazu, allgemeine logische Strukturmerkmale von Regeln herauszustellen und zu erörtern. So

80 Die Charakterisierung des Problems als eine Form des Skeptizismus geht auf S.

Kripke zurück. Vgl. Kripke (1982).

81 Vgl. Baker/Hacker (1985), 43. Zum Begriff der Familienähnlichkeit vgl.

Wittgenstein (1984d), §§ 66 f.

82 Vgl. Wittgenstein (1984a), 330, Wittgenstein (1984b), 48 ff. u. Wittgenstein (1984d), §§ 81 f.

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wird ersichtlich, dass ein wesentliches Merkmale ihre allgemeine Gültigkeit ist. Regeln zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie wiederholt und prinzipiell unbegrenzt oft angewendet werden können.

Insofern dies vor allem für mathematische Rechenanweisungen gilt, sind sie paradigmatisch. Sprachliche Regeln begreift Wittgenstein dagegen häufig auch als „grammatische Regeln“. Sie bestimmen, wie sprachliche Ausdrücke korrekt verwendet werden – und das in jedem der unendlichen Fälle ihrer Anwendung. Regeln, die unser sprachliches Handeln betreffen, sorgen dafür, dass unseren Wörtern und Sätzen eine spezifische Bedeutung zukommt. Wittgenstein ist der Überzeugung, dass Sprachgebrauch und Bedeutung in einer explikativen Relation zueinander stehen. Er vertritt die Auffassung, dass die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks durch ihren Gebrauch konstituiert wird.83 Was unsere Wörter bedeuten, hängt demnach davon ab, wie wir sie verwenden. Und dies wiederum ist bestimmt durch Regeln. Diese Auffassung wird auch als Gebrauchstheorie der Bedeutung bezeichnet und diskutiert. Ich will das kurz erklären.84

Zum großen Teil verwenden wir die natürliche Sprache, um Prädikate auf Dinge, Ereignisse, Vorkommnisse oder ähnliches anzuwenden. Damit legen wir fest, dass etwas von einem bestimmten Typ oder einer bestimmten Art ist. Wenn wir ein Prädikat auf bestimmte Dinge anwenden, klassifizieren wir diese und unterscheiden sie von denjenigen, auf die wir es nicht anwenden. Kurz gesagt, wir subsumieren ein logisches Subjekt unter ein Prädikat. Was das Prädikat bedeutet, verstehen wir als den dazugehörigen Begriff. Ein Prädikat drückt also immer einen Begriff aus.85 Sagen wir etwa „Dies ist ein Apfel“, so legen wir fest, dass es bestimmte Dinge in der Welt gibt, die unter den Begriff „Apfel“ fallen, und dass das, was wir mit „dies“ meinen, dazugehört. Wie kommt es nun aber, dass wir das Wort „Apfel“ korrekterweise nur dann verwenden, wenn von Äpfeln die Rede ist? Anders gefragt: Wie kommt es, dass der Ausdruck „Apfel“

dann, wenn wir ihn gebrauchen, auch Apfel bedeutet?

Gemäß der Gebrauchstheorie der Bedeutung heißt, die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks zu kennen, zu wissen, wie dieser Ausdruck

83 Vgl. Wittgenstein (1984d), §§ 30, 43, 80, 138 f., 197, 556 u. 561, Wittgenstein (1984b), 20 u. Wittgenstein (1984f), 61 f.

84 Vgl. hierzu ausführlich Kap. 5.1 ff.

85 Vgl. Bieri (1982), 3 f. u. Horwich (1998a), 44.

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in verschiedenen sprachlichen Situationen verwendet werden kann.

Wesentlich für Sprache sind konkrete „Sprachspiele“, in denen wir Worte verwenden und damit sprachliche Akte (Spielzüge) in einem sozialen Raum ausführen.86 Innerhalb der sprachlichen Gemeinschaft bestimmen Regeln, was der korrekte Gebrauch eines Wortes ist. Nun können wir jemandem beispielsweise die Bedeutung des Wortes „Apfel“ erklären, indem wir ihm Gegenstände vorführen, die wir als Äpfel charakterisieren, und andere, denen wir das Prädikat nicht zusprechen. Wir erklären also anhand von Beispielen die Regel, nach der das Prädikat verwendet wird.

Zweifellos lernen wir die Bedeutung einiger Wörter durch diese Methode der hinweisenden Definition. Zum Teil lässt sich der Spracherwerb durch einen derartigen Prozess der Konditionierung verständlich machen.

Dennoch ist die Gebrauchstheorie gerade als Kritik einer solchen gegenständlichen oder mentalistischen Bedeutungstheorie zu verstehen.87

Auf den ersten Blick klingt es recht plausibel, dass ein Ausdruck seine Bedeutung einem Gegenstand verdankt, auf den er sich bezieht. Für Ausdrücke wie „König von Frankreich“ oder „Durchschnittsalter“ finden sich zwar keine konkreten, materiellen Gegenstände. Das lässt sich aber damit erklären, dass sie sich auf mentale oder abstrakte Gegenstände beziehen. Dennoch ist hier Kritik abgebracht. Nehmen wir einmal an, wir wollen den Ausdruck „Apfel“ durch eine hinweisende Definition einführen. Wir zeigen auf etwas und sagen dabei „Dies ist ein Apfel“.

Jemand, dem wir allein diese Definition geben, kann genau genommen nicht wissen, was das Wort bedeuten soll. Denn ihm ist nicht klar, ob

„Apfel“ eine bestimmte Farbe, eine bestimmte Form oder einen ganz anderen Aspekt des Gegenstandes herausgreift. Indem er Bedeutung mit Referenz verwechselt, bleibt dies offen.88

Ohne Vorkenntnis oder Erklärung sinnvoller Verwendungszusammen- hänge lässt sich die Bedeutung von „Apfel“ nicht vermitteln. Wenn wir glauben, dass Wörter in der Praxis häufig durch den Hinweis auf Gegenstände eingeführt werden, so nur deswegen, weil derartige Verwendungszusammenhänge bereits vorhanden sind. Worauf es daher

86 Zum Begriff des Sprachspiels vgl. z. B. Wittgenstein (1984d), §§ 7 u. 23.

87 Vgl. ebd., §§ 1 ff. u. 28 ff.

88 Vgl. hierzu erneut Anm. 10.

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ankommt, ist zu wissen, wie man von dem jeweiligen Wort Gebrauch macht.89 Wenn eine hinweisende Definition hierzu beiträgt, dann nur insofern, als sie den Gebrauch des Wortes vorführt. Grundlegender als das schlichte Benennen von Gegenständen und das Definieren von Begriffen ist der Umgang mit Wörtern in Übereinstimmung mit den entsprechenden Regeln.

Wenn in diesem Sinne von Regelfolgen die Rede ist, so ist eine genauere Verständigung darüber notwendig, welche Art von Regeln hier überhaupt gemeint ist. In den folgenden Abschnitten werde ich daher einige wichtige Unterscheidungen und Spezifizierungen einführen. Das Ziel ist, Regeln, die für den korrekten Gebrauch sprachlicher Ausdrücke und dadurch für deren Bedeutung verantwortlich sind, als handlungs- leitende und konstitutive Regeln zu bestimmen. Dies werde ich später dahingehend präzisieren, dass sich die Bedeutung eines Ausdrucks durch den inferentiellen Ort der Äußerung, in der er Verwendung findet, bestimmt.90 Insofern müssen bedeutungsbestimmende Regeln letztlich als Inferenzregeln verstanden werden. Eine Regel legt demnach fest, was eine gültige und zulässige Inferenz ist.

3.4 Regeln und Normen

Wir kennen Regeln und Normen der unterschiedlichsten Art. Es gibt Spielregeln, gesetzliche Regeln, Verkehrsregeln, Regeln des Anstands etc.

Regeln kommen typischerweise dann ins Spiel, wenn wir Akte oder Performanzen beschreiben und beurteilen. Von Normen ist dagegen häufig im Zusammenhang mit Standards oder Klassifizierungen die Rede. So gibt es beispielsweise Qualitätsnormen für Lebensmittel, Abgasnormen für Kraftfahrzeuge oder DIN-Normen für diverse Baustoffe, elektrische Geräte oder die Größe von Papierbögen. Normen kommen also vermehrt dann zum Einsatz, wenn es darum geht, Dinge zu sortieren und in bestimmte Klassen einzuteilen. Eine strikte Unterscheidung von Regeln und Normen ist jedoch nicht sinnvoll. Denn ein bestimmtes Verhalten kann ebenso gut von der gängigen Norm abweichen, wie es eine Regel verletzen kann.

89 Vgl. Wittgenstein (1984d), § 29.

90 Vgl. Kap. 5.

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Durch Normen kann ebenso gut geregelt werden, wie durch Regeln normiert werden kann. Die beiden Ausdrücke lassen sich also grundsätzlich synonym behandeln.

Wie die Beispiele zeigen, lassen sich Normen oder Regeln einerseits auf Gegenstände und andererseits auf Handlungen beziehen.91 Eine erste allgemeine Unterscheidung ist also die zwischen Gegenstandsnormen und Handlungsnormen. Mit Hilfe von Gegenstandsnormen lässt sich beispielsweise feststellen, was in Bezug auf bestimmte Dinge oder Fälle normal ist. So ist es die Regel, dass es in den Alpen im Winter schneit, dass Jungen stärker sind als Mädchen oder dass Frauen älter werden als Männer. Andererseits legen Gegenstandsnormen Standards fest, die bestimmte Dinge erfüllen müssen. So dürfen Eier der Güteklasse A ein bestimmtes Alter nicht überschreiten, Papierbögen vom Format DIN A4 müssen eine bestimmte Größe haben, und Fahrzeuge, die die Euro-5-Norm erfüllen sollen, müssen einen bestimmten Grenzwert für Schadstoffe unterschreiten. Schließlich dienen Gegenstandsnormen noch dazu, ideale Eigenschaften für bestimmte Dinge festzulegen. Sie bestimmen, was der Idealfall ist. So legen sie beispielsweise fest, was ein idealer Ehemann, ein gelungener Urlaub oder der ideale Staat ist.

Durch Gegenstandsnormen lassen sich aber auch Handlungen klassifizieren. Dadurch werden diese als in Übereinstimmung mit bestimmten Normen oder Regeln beschreibbar.92 So können wir beispielsweise festlegen, was ein idealer Startsprung beim Schwimmen ist.

Oder wir können feststellen, dass die Startsprünge männlicher Schwimmer normalerweise weiter sind als die weiblicher. Hier deutet sich aber bereits an, was ich später als das moderne Problem des Regelfolgens erörtern werde.93 Denn durch bloßes Übereinstimmen mit Regeln qualifizieren sich Handlungen noch nicht als tatsächlich regelgeleitet oder normativ.

Grundsätzlich lassen sich für jede gegebene Reihe von Beispielen im Nachhinein immer irgendwelche Regelmäßigkeiten finden, die aber keine Auskunft darüber geben, wie in Zukunft gehandelt werden soll.

91 Vgl. auch für das Folgende Schnädelbach (1992), 83 ff.

92 Vgl. Wittgenstein (1984d), § 224 u. Wittgenstein (1984a), 344.

93 Vgl. Kap. 3.6.

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Im Unterschied zu Gegenstandsnormen dienen Handlungsnormen im engeren Sinne dazu, das Handeln zu leiten. Sie sagen uns, was wir tun oder unterlassen sollen. Handlungsnormen haben also präskriptiven Charakter.94 Sie kennzeichnen bestimmte Handlungen als geboten, verboten oder erlaubt und ermöglichen damit eine Unterscheidung in korrekt und inkorrekt. Entscheidend ist dabei allerdings, dass inkorrektes Vorgehen grundsätzlich auch möglich ist. Ein Ge- oder Verbot ist sinnlos, wenn ihm nicht auch zuwidergehandelt werden kann. Denn grundsätzlich schließt der Begriff der Handlung das Anderskönnen und die Möglichkeit des Unterlassens sowie des Scheiterns mit ein.95 Das bringt bereits der römische Rechtsgrundsatz „ultra posse nemo obligatur“ zum Ausdruck, der sich durch die Formel „Sollen impliziert Können“ übersetzen lässt.

Verletzbarkeit ist also eine notwendige Bedingung für Präskriptionen.

Wie bezieht sich all dies nun auf Sprache? Zunächst einmal ist Sprache hier als eine Art Praxis von Interesse. Insofern der Sprach- gebrauch eine Form des Handelns ist, kommen also Gegenstandsnormen nicht in Frage. Um die Klassifikation oder Standardisierung von Sprache geht es bestenfalls in dem Sinne, als sich sprachliche Handlungen in korrekt oder inkorrekt gemäß einer Norm sortieren lassen. Dies hat aber immer zum Ziel, korrekte Handlungen zu erlauben oder zu gebieten und inkorrekte zu verbieten. Bei Regeln, die den Sprachgebrauch betreffen, handelt es sich also grundsätzlich um Handlungsnormen.

Sprachliche Regeln sind dafür verantwortlich, dass ein Ausdruck wie

„Apfel“, wenn wir ihn richtig verwenden, auch Apfel bedeutet. Von daher kann man sie auch als semantische Regeln bezeichnen. Wie ich noch genauer darlegen werde, beziehen diese sich jedoch weniger auf einzelne Ausdrücke, als auf vollständige Sätze.96 Denn mit der Gebrauchstheorie der Bedeutung geht die Idee vom Primat des Propositionalen einher.

Danach ist die kleinste, sinnvolle sprachliche Einheit der vollständige Satz.

Ausdrücke haben also nur im Satzzusammenhang eine Bedeutung. So gesehen besteht zwischen semantischen Regeln auf der einen Seite und

94 Vgl. von Wright (1963), 7 f.

95 Vgl. Janich (1992), 15, Keil (2000), 139 u. Keil (2007), 10. P. Janich charakterisiert Handlungen dadurch, dass man zu ihnen auffordern kann, dass sie unterlassen werden können und dass sie ge- und misslingen können.

96 Vgl. Kap. 4.3 u. 5.1 ff.

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grammatischen oder syntaktischen Regeln auf der anderen kein grundsätzlicher Unterschied.97 Letzteren geht es vordergründig zwar um die Beziehung von Zeichen oder Ausdrücke zueinander sowie um die Wohlgeformtheit von Sätzen. Wenn Bedeutung jedoch nur im Satzzusammenhang möglich ist, dann sind sie dabei ebenso maßgeblich.

Der Grundgedanke der Gebrauchstheorie der Bedeutung ist der, dass es für bedeutsame Ausdrücke Bedingungen der korrekten Verwendung gibt. Semantische Regeln sagen uns, was mit einem Ausdruck getan werden soll, damit er eine bestimmte Bedeutung hat. Ihre handlungs- leitende Kraft liegt in der Unterscheidung der richtigen Verwendung sprachlicher Ausdrücke von der falschen. So verstanden ist der semantisch richtige Gebrauch zugleich der gebotene und der semantisch falsche der verbotene. Präskriptionen führen einerseits zu genau dieser Dichotomie von richtig und falsch. Andererseits haben sie dadurch die normative Kraft, einem Sprecher zu sagen, was er tun soll. Dies scheint also der gesuchte Typ Regel zu sein, der im Sprachgebrauch für die Bestimmung von Bedeutung sorgt.

Gegen diese Auffassung gibt es jedoch einen Einwand.98 Er richtet sich gegen die Annahme, mit Hilfe von präskriptiven Regeln lasse sich tatsächlich der korrekte von dem inkorrekten Gebrauch eines Ausdrucks unterscheiden. Vielmehr führe dieses Verständnis von Regel bezogen auf Bedeutung zur Einebnung der Dichotomie von richtig und falsch. Jeder inkorrekte Gebrauch eines Ausdrucks, so der Einwand, muss nämlich genau genommen entweder als Bedeutungswandel oder als deren Verlust verstanden werden. Das führt letztlich zum Verschwinden von seman- tischer Inkorrektheit und damit von Bedeutung überhaupt. Soll eine Regel beispielsweise die Bedeutung des Ausdrucks „Apfel“ bestimmen, dann muss sie uns sagen, wie wir ihn verwenden sollen. Das heißt, dass nur eine Verwendung in Übereinstimmung mit der entsprechenden Regel eine bedeutsame Verwendung des Ausdrucks ist. Umgekehrt heißt das aber auch, dass dies für eine inkorrekte Verwendung nicht gilt. Inkorrekt verwendet hat der Ausdruck „Apfel“ keine oder eine andere Bedeutung.

97 Vgl. auch Sellars (1953), 335 f.

98 Vgl. Glüer (1999a), 121 ff., Glüer (2000), 458 ff. u. Tietz (2003), 74.

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Nun kann es aber verschiedene Gründe dafür geben, dass jemand einen Ausdruck auf eine inkorrekte Weise verwendet. So kann es sich um einen empirischen Irrtum, eine Lüge oder auch um Ironie handeln. Obwohl jemand also den Ausdruck „Apfel“ durchaus mit der Bedeutung Apfel verwendet, kann es sich dennoch um eine inkorrekte Verwendung handeln.

Das Modell, in dem semantische Regeln als Präskriptionen aufgefasst werden, erlaubt allerdings keine zugleich bedeutsame und inkorrekte Verwendung eines Ausdrucks. Inkorrekt heißt immer ohne Bedeutung. So gesehen sind semantische Regeln nicht verletzbar. Verletzbarkeit aber macht den Einsatz von Präskriptionen überhaupt erst sinnvoll. Es scheint also nicht angemessen, semantische Regeln als Präskriptionen aufzufassen.

Es gibt zwei Möglichkeiten, diesem Einwand auszuweichen. Beide laufen letztlich darauf hinaus, bedeutungsbestimmende Regeln nicht als Präskriptionen aufzufassen. Zunächst kann man sich darauf konzentrieren, die Dichotomie von semantisch korrekt und inkorrekt wiederherzustellen.

Dazu ist es hilfreich, eine Präzisierung dessen vorzunehmen, was dabei eigentlich unterschieden wird. Genau genommen kommen in dem erwähnten Beispiel nämlich verschiedene Formen von Korrektheit vor.99 Einerseits ist davon die Rede, dass der Ausdruck „Apfel“ insofern korrekt oder inkorrekt gebraucht wird, als er Apfel bedeutet oder nicht. Ein inkorrekter Gebrauch ist in diesem Fall ein semantischer oder auch linguistischer Fehler. So ist der Gebrauch von „Apfel“ in einem Satz wie

„Ein Apfel ist häufig lustlos und niedergeschlagen.“ semantisch falsch.

Andererseits wird die Möglichkeit eingefordert, sich beim Gebrauch dieses Ausdrucks bewusst oder unbewusst zu irren. In diesem Fall ist die Verwendung des Ausdrucks „Apfel“ inkorrekt im Sinne von unwahr. Dies ist ein empirischer Irrtum. Der Satz „Alle Äpfel sind rot.“ beispielsweise ist offensichtlich empirisch nicht korrekt. Semantische und empirische Korrektheit sollten daher klar voneinander unterschieden werden.

Wittgenstein ist hier sehr präzise. Hinsichtlich der Verwendung sprachlicher Ausdrücke unterscheidet er nicht einfach zwischen richtig und falsch. Grundlegender als die Unterscheidung zwischen Wahrheit und

99 Vgl. auch Glock (2000), 438 ff.

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Falschheit ist für ihn die zwischen Sinn und Unsinn.100 Weil hier aber durchaus ein Zusammenhang besteht, kann es zu der Einschätzung kommen, bei der Gebrauchstheorie gehe letztlich die Möglichkeit semantischer Inkorrektheit verloren. Werden die beiden Beurteilungs- ebenen jedoch unterschieden, dann ist empirische Inkorrektheit nicht automatisch gleichbedeutend mit Bedeutungsverlust. Ein Sprecher kann sich sehr wohl mit semantischen Regeln in Einklang befinden, ohne dabei jedoch etwas Wahres zu sagen. Oder wie Wilfrid Sellars es ausdrückt:

„[O]rdinary empirical statements can be correctly made without being true.“101 Der Gebrauch eines Ausdrucks ist sinnvoll, wenn er semantischen Regeln folgt. Sinnvoll und zugleich wahr ist er aber erst, wenn der Sprecher weder irrt, lügt noch ironisiert. Empirische Irrtümer, Lügen oder Ironie können grammatisch und semantisch korrekt sein. Die Frage nach Wahrheit oder Falschheit kann sich aber erst stellen, wenn die fraglichen Äußerungen den sprachlichen Regeln genügen, das heißt, wenn sie sinnvoll sind.

Das führt zu der zweiten Möglichkeit, dem Einwand zu begegnen. Sie besteht darin, ihn zwar zu akzeptieren, aber als verfehlt auszuweisen. Das ist im Grunde auch das, was die Präzisierung von semantischer Korrektheit bedeutet. Von den zwei verschiedenen Arten von Korrektheit im Sprachgebrauch können wir auf zwei verschiedene Arten von Regeln schließen. Mit Hilfe von Präskriptionen lässt sich die Bedeutung sprachlicher Äußerungen nicht bestimmen. Sie sind nicht in einem semantisch relevanten Sinne verletzbar. Daher können sie zwar der Überprüfung von empirischer, nicht aber von semantischer Korrektheit dienen. Mittels Präskriptionen lassen sich wahre von falschen Äußerungen nur dann unterscheiden, wenn diese sinnvoll beziehungsweise bedeutsam sind. Es muss also einen Typ Regel geben, der unabhängig von empirischer über semantische Korrektheit befinden. Dafür bieten sich

„konstitutive Regeln“ an.102

Konstitutive Regeln sind, wie Präskriptionen auch, Handlungsnormen.

Ihr spezifisches Verhältnis zu Handlungen ist aber ein anderes. Sie sind

100 Vgl. Wittgenstein (1984c), 126 f. u. Wittgenstein (1984d), 49, 511. Vgl. ebenso Ryle (1937/38), 194 u. 200 f. Ryle spricht von „sinnvollen“ und „absurden“ Sätzen.

101 Sellars (1963a), 166.

102 Vgl. Searle (1969), 33 ff. u. Searle (1995), 27 f.

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Spielregeln weitaus ähnlicher als strikten Ge- oder Verboten. Sie schreiben nicht vor, was man tun soll. Das heißt, sie fordern keine bestimmten Handlungen. Vielmehr sagen sie, was es heißt, Handlungen einer bestimmten Art auszuführen. So legen sie beispielsweise fest, wie ein bestimmtes Spiel zu spielen oder darin einen Zug zu machen ist. In diesem Sinne sind sie für das jeweilige Spiel konstitutiv. Ohne Spielregeln würden die jeweiligen Handlungen nicht als Spielzüge gelten. Ohne die Regeln des Schachs etwa könnte das Umherschieben von Figuren auf einem Feld mit 32 dunkeln und 32 hellen Feldern nicht als Schachspielen bezeichnet werden. Und ohne die Rochaderegel könnte ein bestimmter Zug im Schach nicht als Rochade identifiziert werden. Man kann also sagen, dass eine Handlung, die unter eine konstitutive Regel fällt, generell dadurch bestimmt ist, dass sie von dieser Regel logisch abhängig ist.103 Das ist bei Präskriptionen anders. Sie haben keinen Einfluss auf die Identität bestimmter Handlungen. Die Regel etwa, dass man in Deutschland mit dem Auto auf der rechten Straßenseite fahren soll, ist nicht konstitutiv für die Handlung des Autofahrens als solcher.104

Ein solches konstitutives Verständnis von Regeln verbirgt sich auch hinter Wittgensteins Unterscheidung von Sinn und Unsinn sowie dem Begriff des „Sprachspiels“.105 Demnach sind sprachliche Handlungen vergleichbar mit den Zügen in einem Spiel. Und wie für jedes Spiel sind auch für Sprachspiele Regeln konstitutiv. Fehler oder Inkorrektheiten haben somit andere Konsequenzen als Verstöße gegen Präskriptionen. Wer gegen die Spielregeln verstößt, beendet im Grunde das Spiel, oder zumindest spielt er etwas anderes.106 Bezogen auf den Sprachgebrauch bedeutet die Missachtung von Regeln das Ende des sinnvollen Sprechens.

Wer etwa behauptet: „Samstag liegt im Bett.“, sagt nicht etwas (empirisch)

103 Vgl. Searle (1969), 34.

104 Zu diesem Beispiel vgl. Searle (1995), 27. J. Searle unterscheidet „konstitutive“

von „regulativen Regeln“. Handlungen, die unter regulative Regeln fallen, sind von diesen logisch unabhängig. Typischerweise haben regulative Regeln die Form von Imperativen. Vgl. Searle (1969), 34. Ich verzichte hier auf eine eigene Diskussion möglicher Unterschiede zwischen Präskriptionen und regulative Regeln.

105 Vgl. Wittgenstein (1984d), §§ 7 u. 23, Wittgenstein (1984a), 88 f. u. Wittgenstein (1984c), 184.

106 Vgl. Wittgenstein (1984c), 184 f.

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Falsches.107 Seine Äußerung ist vielmehr absurd und unsinnig. Sie werden von einer Gemeinschaft überhaupt nicht mehr als Bestandteil ihrer Sprache angesehen. In einer Sprache, in der der Satz „Samstag liegt im Bett.“

zulässig ist, bedeutet entweder „Samstag“ oder „Bett“ etwas anderes als im Deutschen. Wer Unsinn redet, befindet sich somit außerhalb der Sprache, die er zu sprechen meint. So gesehen sind semantische Inkorrektheiten tatsächlich eher unsinnig als falsch. In gewisser Hinsicht ist hier die Rede von Bedeutungsverlust legitim. Denn streng genommen entscheiden konstitutive Regeln nicht darüber, ob etwas die richtige oder falsche Bedeutung hat, sondern darüber ob etwas überhaupt Bedeutung hat oder nicht.

Es scheint also, als wäre der semantisch richtige Gebrauch zwar durchaus der gebotene, der semantisch falsche aber nicht der verbotene.

Daraus lassen sich Bedenken ableiten, was die Normativität konstitutiver Regeln generell und semantischer Regeln insbesondere anbelangt.108 In zweierlei Hinsicht scheinen sie überhaupt nicht handlungsleitend sein zu können. Denn zunächst einmal sind sie typischerweise rein deskriptiver Natur. Paradigmatische Fälle konstitutiver Regeln sind Spielregeln. Diese haben zumeist die Form von Beschreibungen oder Definitionen. So lautet beispielsweise die Rochaderegel im Schach:

Die ‚Rochade’ ist ein Zug des Königs und eines gleichfarbigen Turmes auf der gleichen Reihe. (…) Der König wird von seinem Ursprungsfeld um zwei Felder in Richtung des Turmes hin versetzt, dann wird dieser Turm auf das Feld gesetzt, das der König soeben überquert hat.109

Man kann daher fragen, wie uns Regeln, die in typischen Fällen deskriptiv statt präskriptiv sind, überhaupt sagen können, wie wir handeln sollen?

Andererseits kommen die jeweiligen Handlungsweisen (Spielzüge) durch konstitutive Regeln überhaupt erst in die Welt. Wie können sie dann aber

107 Dieses Beispiel verdanke ich Ryle. Vgl. Ryle (1937/38), 194 u. 201.

108 Vgl. z. B. Searle (1969), 34, Glüer (1999b), 193 ff., Glüer (2000), 463 ff. o. Tietz (2003), 85 ff. Für eine ausführliche Diskussion der Normativität von Inferenzregeln vgl. Kap. 5.8 ff.

109 FIDE-Schachregeln (2005), § 3.8.

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richtig und vor allem falsch sein? Ist es nicht paradox, dass etwas inkorrekt oder verboten sein soll, was es eigentlich gar nicht gibt?

Ich halte diese Bedenken für unbegründet. Dass konstitutive Regeln zumeist die Form von Beschreibungen oder Definitionen haben, beweist nicht, dass sie keine normative Kraft haben. Schließlich gibt es durchaus einen normativen Gebrauch von Beschreibungen und Definitionen, so wie es auch einen nicht-normativen Gebrauch normativer Ausdrücke gibt.

Wäre dies nicht so, dann müsste es einer Vielzahl von Paragraphen der verschiedensten Rechtsordnungen ebenfalls an Normativität fehlen. Diese dienen jedoch sehr wohl dazu, Handlungen zu ge- oder verbieten. So lautet beispielsweise Paragraph 108 Absatz 1 des BGB:

Schließt der Minderjährige einen Vertrag ohne die erforderliche Einwilligung des gesetzlichen Vertreters, so hängt die Wirksamkeit des Vertrags von der Genehmigung des Vertreters ab.110

Das heiß, ein Minderjähriger soll ohne Einwilligung des gesetzlichen Vertreters keine Verträge abschließen. In Analogie dazu lässt sich der folgende deskriptive Satz verstehen: „‚Samstag liegt im Bett.’ ist kein gültiger Satz der deutschen Sprache.“ Er drückt das Gebot aus, den Satz

„Samstag liegt im Bett.“ nicht zu äußern, wenn damit ein gültiger Satz der deutschen Sprache zum Ausdruck kommen soll.

Verstöße gegen konstitutive oder semantische Regeln sind etwas anderes als Verstöße gegen Präskriptionen. Daher dürfen die entsprechen- den Inkorrektheiten nicht verwechselt werden. Daraus aber abzuleiten, erstere seien nicht normativ, setzt voraus, dass es Normativität nur in Form von Präskriptionen geben kann. Das ist aber keineswegs der Fall.

Präskriptionen mögen der „Prototyp des Normativen schlechthin“ sein.111 Sie sind aber sicher nicht die einzig mögliche Form genuin normativer Regeln. Konstitutive Regeln sind in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar.

Das zeigt sich unter anderem daran, dass gegen sie natürlich auch verstoßen werden kann. Wer einen Turm diagonal über das Schachbrett bewegt oder wer sich mit dem Fußball jenseits der Seitenauslinie begibt, begeht einen Regelverstoß. Sein Handeln ist inkorrekt und wird

110 Köhler (2001), 22.

111 Vgl. Glüer (2000), 457.

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sanktioniert. Wenn auch die entsprechenden Regeln einerseits dazu beitragen, dass es Schach oder Fußball überhaupt erst gibt, so ermöglichen sie andererseits dennoch die Unterscheidung von korrekt und inkorrekt im jeweiligen Spiel.

Gleiches gilt für semantische Regeln. Auch sie ermöglichen eine Unterscheidung von korrekt und inkorrekt, was der Unterscheidung einer sinnvollen von einer unsinnigen Verwendung eines Ausdrucks gleichkommt. Semantische Regeln unterscheiden sprachliche Handlungen, bei denen ein Ausdruck richtig, nämlich mit einer bestimmten Bedeutung verwendet wird, von solchen, die andere Handlungen sind. Handlungen, in denen der Ausdruck mit dieser Bedeutung verwendet wird, sind Äußerungen sinnvoller Sätze. Es sind korrekte sprachliche Handlungen.

Der Versuch jedoch, den Ausdruck mit ebendieser Bedeutung unter Missachtung der entsprechenden Regeln zu verwenden, führt zu einem unsinnigen Satz. Was dabei herauskommt, ist eine inkorrekte sprachliche Handlung.

Konstitutive Regeln haben handlungsleitende Kraft, wenn auch in einem anderen Sinn als Präskriptionen. Weder sind sie bloße Beschreibungen von Handlungen, noch schreiben sie konkrete, einzelne Handlungen vor. Treffender ist, dass sie Handlungen determinieren.112 Sie sagen nicht einfach, wie eine Handlung eines bestimmten Typs ausgeführt wird. Sie ordnen an, wie diese Handlung richtig ausgeführt wird. Und sie tun dies, anders als Regelmäßigkeiten, nicht mit Blick auf eine vorliegende Reihe von Beispielen. Konstitutive Regeln sagen uns, was wir in Zukunft tun müssen, um eine Handlung eines bestimmten Typs richtig auszuführen.113 Die Schachgebotsregel etwa gibt an, wie man im Schach den gegnerischen König korrekterweise angreift. Und die Rochaderegel legt fest, wie eine Rochade richtig durchgeführt wird. Wer also versucht, sich durch eine Rochade einem Schachgebot zu entziehen, handelt inkorrekt, da er gegen die Rochaderegel verstößt.114 Dies gilt sowohl für

112 Vgl. von Wright 1963, 6.

113 Eine eingehende Diskussion dieses Punktes erfolgt in Kap. 3.6.

114 Vgl. FIDE-Schachregeln (2005), § 3.8 2a: „Die Rochade ist vorübergehend verhindert, wenn das Standfeld des Königs oder das Feld das er überqueren muss, oder sein Zielfeld von einer oder mehreren gegnerischen Figuren angegriffen wird (…).“

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das gegenwärtige als auch für jedes weitere Spiel, das künftig gespielt werden wird.

Entsprechend sind auch die Auskünfte, die konstitutive Regeln über Bedeutungen geben, normativer Natur. Bedeutungsbestimmende Regeln sind zunächst einmal normativ in dem einfachen Sinne, dass sie normieren, was im Deutschen beispielsweise als „Apfel“, als „Samstag“ oder als

„Bett“ gilt.115 Sie legen fest, wie diese Ausdrücke verwendet werden müssen, um korrekterweise die entsprechende Bedeutung zu haben. Das betrifft zum einen die innere Struktur der Sätze, in denen sie vorkommen, sowie ihre Beziehung zu anderen Ausdrücken. Während beispielsweise der Ausdruck „Apfel“ in dem Satz „Dieser Apfel stammt aus Opas Garten.“

korrekt verwendet wird, ist die Verwendung von „Samstag“ in „Samstag liegt im Bett.“ inkorrekt. Denn im zweiten Fall wird ein Gattungsname unerlaubterweise als ein Eigenname verwendet. Werden die grammati- schen Regeln nicht eingehalten, so ergeben sich unsinnige Sätze ohne korrekte Bedeutung. Zwischen grammatischen und semantischen Regeln verläuft also keine scharfe Grenze. Beide sind konstitutiv für Bedeutung.

Dass ein Ausdruck die korrekte Bedeutung hat, liegt zum anderen an der Relation der Sätze zueinander. Auch in dieser Hinsicht ist der Sprachgebrauch bedeutungsbestimmenden Regeln unterworfen. Die Verwendung von „Samstag“ in einem Satz wie „Samstag liegt im Bett.“ ist auch deshalb inkorrekt, weil dies einfach kein gültiger Zug im Sprachspiel ist. Mit ihm lässt sich buchstäblich nichts anfangen. Wenn der Sprachgebrauch in seiner grundlegendsten Form eine Aneinanderreihung von Schlussfolgerungen ist, dann hat dieser Satz schlichtweg keine Konsequenz.116 Ausdrücke wie „Apfel“ oder „Samstag“ finden in Aussagen Verwendung, die prinzipiell immer in Folgerungsbeziehungen zu anderen Aussagen stehen. Sie sind immer Voraussetzungen und Folgen weiterer Aussagen. Insofern ist ein Zug im Sprachspiel immer ein Schluss von einer Aussage auf eine andere. Aus den Möglichkeiten, die sich dabei ergeben, bestimmt sich ihre Bedeutung. Anders gesagt heißt, die Bedeutung eines Ausdrucks zu kennen, die inferentiellen Beziehungen der Aussagen zu beherrschen, in denen er vorkommt. Insofern ist es treffender,

115 Vgl. Glock (2000), 445.

116 Für diese Auffassung argumentiere ich ausführlich in Kap. 5.

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semantische Regeln als Inferenz- oder Schlussregeln zu verstehen. Sie sind konstitutive Regeln, insofern inferentielle Beziehungen konstitutiv sind für den bedeutsamen Sprachgebrauch. Und sie sind zugleich normative Regeln, insofern sich mit ihrer Hilfe festlegen und überprüfen lässt, was eine gültige Schlussfolgerung ist und was nicht.

Dies ist das Verständnis von Regel, das den folgenden Überlegungen zugrunde liegt. Sprache ist ein System von Ausdrücken, deren Gebrauch Regeln unterworfen ist. Der Sprachgebrauch ist eine regelgeleitete Praxis, deren korrektes Beherrschen ein Können voraussetzt. Darin kommen aber nicht Präskriptionen, sondern konstitutive Regeln zum Einsatz. Sprachliche Regeln konstituieren den korrekten Sprachgebrauch und bestimmen so die Bedeutung der verwendeten Ausdrücke. Dabei kommt es grundsätzlich auf die innere Struktur eines Satzes, vor allem aber auf den inferentiellen Zusammenhang der Sätze untereinander an. Inferenzregeln legen fest, welches die Umstände und Folgen einer Äußerung sind. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Ausdrücke, die darin Verwendung finden. In den folgenden Abschnitten werde ich nun auf die angekündigten Problem- komplexe zurückkommen, die mit dem Begriff des Regelfolgens zusammenhängen. Es gilt, für sie eine befriedigende Lösung zu finden, soll Sprache als eine regelgeleitete Praxis verstanden werden. Davon hängt ab, ob und inwiefern Regeln bedeutungsbestimmend sind.

3.5 Das klassische Problem des Regelfolgens – Regelregress

Gemäß der Gebrauchstheorie der Bedeutung gibt eine Regel an, wann ein Ausdruck das bedeutet, was er nun einmal bedeutet. Wenn wir beispielsweise den Ausdruck „Apfel“ in einer Aussage wie „Dies ist ein Apfel.“ verwenden, dann folgen wir einer Regel, die uns sagt, auf welche Dinge dies zutrifft und auf welche nicht. Die Regel sagt uns, wann es korrekt oder inkorrekt ist, diesen Satz zu behaupten. Man kann nun fragen, wie sie das eigentlich macht. Und eine Antwort könnte lauten, dass es eine weitere Regel gibt, die uns das sagt. Man könnte behaupten, dass die folgende Anweisung diese Aufgabe übernimmt: „Sage nur dann von einem

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Ding X ‚Dies ist ein Apfel’, wenn X rund und rot ist.“117 Damit wird das Problem aber nicht gelöst. Für die Ausdrücke „rund“ und „rot“ stellt sich nämlich die gleiche Frage, die sich bereits für den Ausdruck „Apfel“

gestellt hat: Welche Regel bestimmt den korrekten Gebrauch dieser Ausdrücke? Wieder könnte man eine Regel derselben Form formulieren:

„Sage nur dann von einem Ding X, ‚Dies ist rund’, wenn X sich rollen lässt.“

Diese Antwort steuert geradewegs auf das klassische Problem des Regelfolgens zu. Denn statt zu einem befriedigenden Ergebnis führt sie zu einem Regress von Regeln. Der Locus classicus in Wittgensteins Diskussion dieses Problems ist der Paragraph 201 der Philosophischen Untersuchungen. Dort unterscheidet er zwischen dem Befolgen einer Regel und deren „Deutung“ oder „Interpretation“. Wer für die Anwendung einer Regel eine (weitere) Regel erstellt, verfasst eine Deutung. Er erstellt einen Regelausdruck oder eine Regelformulierung. Wer eine Regel befolgt, tut dies nicht notwendigerweise. Er bringt eine Regel zur Anwendung unabhängig davon, ob dafür eine Formulierung vorliegt oder nicht. Das eine sollte nun nicht leichtfertig mit dem anderen gleichgesetzt werden. Wittgenstein verweist auf die Notwendigkeit, zwischen Regeln und Regelformulierungen zu unterschieden. Dass dies sinnvoll ist, kann man schon allein daran sehen, dass dieselbe Regel auf unterschiedlichste Weise und sogar in verschiedenen Sprachen formuliert werden kann.118 So besagen folgende Regeln alle dasselbe:

(5) Royal Flush ist die höchste Hand im Poker.

(6) Keine Hand im Poker ist höher als Royal Flush.

(7) Royal Flush is the highest ranking poker hand.

Es wäre unsinnig zu sagen, bei (5) und (6) handle es sich um deutsche Pokerregeln, bei (7) dagegen um eine englische. Genauso falsch wäre es zu

117 Dieses Beispiel ist an Wittgensteins Beispiel zu Beginn der Philosophischen Unter- suchungen angelehnt. Vgl. Wittgenstein (1984d), § 1. Vgl. auch Esfeld (2002), 97.

118 Vgl. Baker/Hacker (1985), 41 f.

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behaupten, die Regel bestehe aus acht Wörtern, obwohl das zweifellos für (5) und (7) zutrifft.119

Wittgenstein warnt vor der intellektualistischen Neigung, das Befolgen von Regeln grundsätzlich als ein „Deuten“ aufzufassen. Für den Intellektualisten ist der Ausdruck oder die Formulierung einer Regel quasi eine notwendige Voraussetzung für deren Befolgung. Wittgenstein dagegen rät zur Vorsicht: „‚Deuten’ aber sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen.“120 Das heißt, die Formulierung einer Regel ist weder hinreichend noch notwendig für deren Befolgen. Das Regressargument macht deutlich: Wenn wir erst einmal damit anfangen, kommen wir aus dem Deuten überhaupt nicht mehr heraus. Wir setzen nur noch „Deutung hinter Deutung“.121 Auf den Gebrauch von Sprache bezogen heißt das, dass die Bedeutungen unserer Wörter in weite Ferne rücken. Der Versuch, das Zustandekommen von Bedeutung und Verstehen auf diese Weise zu erklären, ist daher zum Scheitern verurteilt.122

Zwischen einer Regel und ihrer Anwendung ist kein Platz für Interpretationen oder Deutungen. Sie können das Befolgen von Regeln nicht bestimmen, wenn darunter verstanden wird, die fragliche Regel durch andere Regeln zu erklären oder zu begründen. Daher ist es ist auch nicht angebracht, nach Gründen für die Art und Weise zu fordern, wie man beispielsweise den Ausdruck „Apfel“ richtig verwendet. Denn es käme der Bitte gleich, eine Interpretation der fraglichen Regel in Form einer expliziten Regelformulierung zu geben. Und das wiederum würde nur zu einer weiteren Regel führen und so immer weiter. Mit Blick auf Bedeutung heißt das, dass semantische Regeln nicht metasprachlich formuliert werden müssen, indem explizit beschrieben wird, wie ein sprachlicher Ausdruck

119 Man kann durchaus die Auffassung vertreten, Regeln seien abstrakte Entitäten, die in Regelformulierungen zum Ausdruck kommen. Zumindest grammatisch gesehen ist dies ebenso korrekt, wie wenn man sagt, eine Zahl werde durch eine Ziffer angezeigt.

Das Regelregressargument zeigt, dass Regelformulierungen logisch gesehen nicht vor der Praxis des Regelfolgens liegen können. Es zeigt nicht, dass Regelformulierungen grundsätzlich unmöglich sind.

120 Wittgenstein (1984d), § 201.

121 Vgl. ebd. aber auch schon § 84.

122 Vgl. ebd., § 198.

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zu verwenden ist. Man kann einen Ausdruck wie „Apfel“ durchaus mit der richtigen Bedeutung, aber ohne eine explizite Begründung verwenden.123

Das klassische Problem des Regelfolgens macht darauf aufmerksam, dass die Regeln, die das Handeln im Allgemeinen und den Sprachgebrauch im Besonderen leiten, nicht aus expliziten Regelformulierungen bestehen können. Warum die Anwendung einer Regel korrekt ist, kann nicht dadurch erklärt werden, dass erneut eine Regel angeführt wird. Vielmehr ist sie auf eine Korrektheit angewiesen, die aus dem Befolgen von Regeln selbst resultiert. Um auf das Regelregressargument zu reagieren, muss daher eine andere Erklärung gefunden werden. Es muss eine Form des korrekten Regelfolgens geben, die in der Praxis liegt. Entsprechend stellt Wittgenstein fest, „daß es eine Auffassung einer Regel gibt, die nicht eine Deutung ist.“124 Das Regelregressargument führt zu der Einsicht, dass es nicht auf der einen Seite den Gebrauch eines Ausdrucks gibt und auf der anderen zusätzlich eine Regel, wie wir den Ausdruck verwenden sollten.

Vielmehr kann es nur den Gebrauch geben, in dem es auf eine grundlegende Art und Weise zum Befolgen von Regeln kommt.

3.6 Das moderne Problem des Regelfolgens – Semantischer Konventio- nalismus

Eine Alternative zum Intellektualismus besteht in der Annahme, dass Regeln implizit in der Praxis enthalten sind. Dies entspricht der Auffassung, dass sich die Korrektheitsbedingungen für die Bedeutungen unserer Wörter im Sprachgebrauch selbst finden. Aber auch dieser Ansatz ist nicht ohne Probleme. Insbesondere das moderne Problem des Regelfolgens steht ihm im Weg. Hierbei handelt es sich um eine Ergänzung und Radikalisierung des klassischen Problems. Wittgenstein formuliert die provokante These, dass die Ausdrücke, die wir regelkonform verwenden, überhaupt keine bestimmte Bedeutung haben, weil diese letztlich unbestimmbar und vollkommen beliebig ist.125 Gemäß einer Lesart, die auf Saul Kripke zurückgeht, vertritt er damit eine neue Form des Skeptizismus,

123 Vgl. ebd., §§ 211 f., 289 u. Wittgenstein (1984a), VII § 40.

124 Wittgenstein (1984d), § 201.

125 Vgl. ebd.

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die man auch als „Bedeutungsskeptizismus“ bezeichnen kann.126 Unabhängig von der Frage nach der exegetischen Korrektheit ist diese Interpretation für die Veranschaulichung und die systematische Darstellung des Problems außerordentlich hilfreich.

Wenn wir ein Wort neu lernen, werden wir entweder in seine Verwendungsweisen eingewiesen oder wir beobachten, wie andere es verwenden. Gehen wir einmal davon aus, dass dies ohne größere Schwierigkeiten möglich ist. Prinzipiell gibt es dann keine zwingende Notwendigkeit dafür, welchem Ausdruck welche Bedeutung zukommt.

Ebenso wenig muss dies ein für alle Mal feststehen.127 Wollen wir beispielsweise im Deutschen „das Gegenteil von fest“ zum Ausdruck bringen, so können wir dazu das Wort „lose“ verwenden. Wir können aber auch „locker“ sagen. Verwenden wir den Ausdruck „locker“ dagegen im Englischen, dann bedeutet er soviel wie „Garderobenschrank“, also etwas völlig anderes. Bedeutung kommt somit nicht aus unseren Wörtern selbst oder von irgendeiner unabhängigen Macht.128 Es ist etwas, das wir den Wörtern geben. Wir bringen uns gegenseitig bei oder beobachten, wie und wann man ein Wort üblicherweise verwendet. Wenn wir die Bedeutung eines Ausdrucks lernen, machen wir uns mit der Gewohnheit seines Gebrauchs vertraut. Bedeutung ist eine Sache von Konventionen.

Dies könnte es sein, was mit Regelfolgen gemeint ist. Dafür spricht, dass sich Regeln und Gewohnheiten zwei wichtige allgemeine Merkmale teilen. So sind Regeln einmal Kriterien zur Charakterisierung und Kategorisierung von Handlungen. Mit ihrer Hilfe lässt sich unterscheiden, ob bestimmte Performanzen mit ihnen in Übereinstimmung stehen oder nicht. Das Verschieben einer Figur auf einem Schachbrett beispielsweise lässt sich dahingehend beurteilen, ob es mit den Regeln des Schachs übereinstimmt oder nicht. Zudem sind Regeln etwas Allgemeines, das sich in einer Reihe sich wiederholender Vollzüge manifestieren kann. Eine Figur im Schachspiel etwa, für die einmal die Regel aufgestellt wurde, dass

126 Vgl. Kripke (1982). Gelegentlich wird auch Quines These von der Unbestimmbarkeit von Übersetzung und Referenz als eine solche Form des Skeptizismus bezeichnet. Vgl. Quine (1960), insbes. Kap. 2 u. Quine (1969), insbes.

Kap. 2. Diese ist hier nicht gemeint.

127 Vgl. Glock (2000), 433 f.

128 Vgl. Wittgenstein (1984b), 51 f.

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sie nur diagonal über das Brett gezogen werden darf, muss immer wieder auf diese Weise bewegt werden. Jedes Mal, wenn dies geschieht, manifestiert sich die Regel aufs Neue. Umgekehrt heißt das natürlich, dass man einer Regel nicht nur ein einziges Mal folgen kann.129

Diese beiden Merkmale treffen nun in gleichem Maße für Gewohnheiten zu. So kann man ein bestimmtes Verhalten auch dahingehend beurteilen, ob es mit einer bestimmten Gewohnheit übereinstimmt oder nicht. Trinkt jemand beispielsweise zum Frühstück eine Tasse Tee, obwohl er sonst eine Tasse Kaffee trinkt, so steht sein Handeln nicht in Übereinstimmung mit seiner Gewohnheit. Ebenso angemessen ist die Festlegung, dass sich eine Gewohnheit in wiederholten Vollzügen manifestiert.130 Trinkt jemand beispielsweise zum wiederholten Male einen Kaffee zum Frühstück, so manifestiert sich dadurch eine seiner Gewohnheiten. Es scheint also legitim zu sein, Regeln und Gewohnheiten in dieser Hinsicht in Zusammenhang zu bringen. Regelfolgen kommt in weiten Teilen gewohnheitsmäßigem Handeln gleich.131

Sellars stellt die Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs folgendermaßen dar. Erst ersetzt man die Rede vom „Befolgen einer Regel“ durch die vom „Übereinstimmen mit einer Regel“. Ein regelgeleiteter Akt A liegt dann vor, wenn er in Überstimmung mit einer Regel R steht, die seine Ausführung unter den Umständen C verlangt.

Dann erklärt man das Handeln in Übereinstimmung mit einer Regel zu einem gewohnheitsmäßigen Ausführen einer Handlung. „A person who has the habit of doing A in C would then be conforming to the above rule (…).“132 Gewohnheitsmäßig ist ein Handeln demnach dann, wenn es in Überstimmung mit Regeln steht. Jemand folgt beispielsweise der Regel „In Deutschland fahren Autos auf der rechten Straßenseite.“ (R), wenn er tatsächlich in Deutschland (C) mit dem Auto auf der rechten Straßenseite fährt (A) und wenn er dies gewohnheitsmäßig tut.

Der Vorteil eines solchen Ansatzes liegt auf der Hand. Handeln im Allgemeinen und das Verwenden von Sprache im Besonderen wird zwar als regelgeleitet aufgefasst. Auf Regeln, auf die der Handelnde

129 Vgl. Wittgenstein (1984d), § 199 u. Wittgenstein (1984a), 322 f.

130 Vgl. Ryle (1949), 42.

131 Vgl. Wittgenstein (1984d), § 198 f. u. Wittgenstein (1984a), 322.

132 Sellars (1963b), 322. (Meine Hervorhebungen, A. S.)

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ausdrücklich Bezug nimmt und die außerhalb seiner Praxis selbst liegen, wird dabei aber nicht rekurriert. Regeln werden nicht von einem Akteur zu seinen Performanzen hinzugefügt. Sie werden von einem intelligenten Beobachter aus ihnen extrahiert. Ein Beobachter kann zwar konstatieren, ob jemand mit seinem Handeln einer bestimmten Regel folgt. Er kann die Regeln, die in den beobachteten Performanzen implizit enthalten sind, explizit formulieren. In der Praxis desjenigen, der sich regelkonform verhält, kommen aber derartige Regelformulierungen nicht vor. Dadurch wird ein Regress von Regeln vermieden. Wie es scheint, ist dieser Ansatz eine attraktive Alternative zum Intellektualismus.

Es greift allerdings zu kurz, wenn man Bedeutung auf diese Weise auf Gewohnheiten zurückführt. Denn genau genommen kommen in gewohnheitsmäßigen Handlungen nicht Regeln, sondern Regelmäßigkeiten vor. Diese können von einem Beobachter so beschrieben werden, als ob es sich um Regeln und bei der fraglichen Handlung damit um echtes Regelfolgen handelt. Dass die beobachtete Person dabei tatsächlich Regeln folgt, ist jedoch nicht ausgemacht. Es ist zweifelsohne richtig, dass Handlungen irgendwelchen Regeln entsprechen, wenn sie regelmäßig auftreten. Die Übereinstimmung, die sich zwischen einer Handlung und einer Regelmäßigkeit ergeben kann, ist aber nicht von derselben Art wie die zwischen einer Handlung und einer Regel im Sinne einer Handlungsnorm. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass Regelmäßigkeiten keine normative Kraft haben. Regelmäßigkeiten geben an, was getan wird, nicht aber, was getan werden soll.

Zwei Punkte verdeutlichen diesen Unterschied.133 Zum einen schaffen Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten nicht in gleicher Weise Raum für Fehler, Irrtümer oder anders gearteten Misserfolg, wie es echte Regeln tun.

Verhalten, dass von einer Gewohnheit abweicht, identifizieren wir üblicherweise als irregulär, aber nicht automatisch als inkorrekt. Zum anderen stellen Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten keinen Maßstab für neue Formen und Fälle des Handelns dar. Sie richten sich an aktuelle und vergangene Vollzüge, nicht aber an Ereignisse in der Zukunft. Vor allem der zweite Punkt steht im Zentrum des modernen Problems des

133 Vgl. Searle (1969), 42.

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Regelfolgens.134 Daher werde ich mich ihm besonders ausführlich widmen.

Doch zunächst zum ersten Punkt.

Um auch bei Regelmäßigkeiten Fehler und Misserfolg zu ermög- lichen, könnte man die Unterscheidung von korrekt und inkorrekt mit der von regulär und irregulär schlichtweg gleichsetzen. Das ließe sich damit rechtfertigen, dass Handlungsvollzüge in beiden Fällen prinzipiell auf die gleiche Art unterschieden werden. Sowohl bei Regeln als auch bei Regelmäßigkeiten ist eine wichtige Frage, ob sie mit diesen in Übereinstimmung stehen oder nicht. Bei beiden handelt es sich wie gesehen um vergleichbare Maßstäbe oder Kriterien. Das Ergebnis einer solchen Gleichsetzung wäre eine Art praxisimmanente Normativität in Form von Verhaltensmustern. Einen Regelverstoß zu begehen, hieße dann, ein solches Muster zu durchbrechen. Nehmen wir zum Beispiel an, eine Gruppe von Männern rennt über eine Wiese und passt gelegentlich einen Ball von einem zum anderen. Sie hält sich mit dem Ball die meiste Zeit innerhalb eines rechteckigen Feldes auf. Manchmal überquert der Ball aber auch eine der Längsseiten des Feldes. Dann wird das Spiel unterbrochen und durch einen Einwurf fortgesetzt. Wir stellen fest, dass das Überqueren der Längsseite eine Unregelmäßigkeit darstellt, die den korrekten Spielverlauf stört. Auf diese Weise könnte man also die normative Unterscheidung zwischen richtig und falsch mit Hilfe einer deskriptiven Festlegung eines bestimmten Verhaltensmusters rekonstruieren.

Gegen diesen Vorschlag spricht allerdings, dass er nicht das wiedergibt, was wir tatsächlich unter Regeln auf der einen Seite und Regelmäßigkeiten beziehungsweise Gewohnheiten auf der anderen verstehen. Denn wenn wir davon reden, dass jemand ein Verhaltensmuster durchbricht, so hat das nicht die normative Bedeutung eines Fehlers.

Gewohnheiten und Regelmäßigkeiten sind normativ neutral. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass wir irreguläres Verhalten nicht sanktionieren.135 Ein Fußballspieler, der regelmäßig über die rechte Seite angreift, wird nicht bestraft, wenn er ausnahmsweise einmal über die linke Seite angreift.

Gleiches gilt für denjenigen, der entgegen seiner Gewohnheit zum

134 Vgl. insbes. Wittgenstein (1984d), §§ 143 u. 185 ff. Vgl. auch Kripke (1982), Kap.

2 u. Brandom (1994), 27 f.

135 Eine ausführliche Diskussion von Sanktionen erfolgt in Kap. 4.11.

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