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Das moderne Problem des Regelfolgens – Semantischer Konventio- Konventio-nalismus

Im Dokument 3. Regeln folgen und Sprache spielen (Seite 23-28)

Eine Alternative zum Intellektualismus besteht in der Annahme, dass Regeln implizit in der Praxis enthalten sind. Dies entspricht der Auffassung, dass sich die Korrektheitsbedingungen für die Bedeutungen unserer Wörter im Sprachgebrauch selbst finden. Aber auch dieser Ansatz ist nicht ohne Probleme. Insbesondere das moderne Problem des Regelfolgens steht ihm im Weg. Hierbei handelt es sich um eine Ergänzung und Radikalisierung des klassischen Problems. Wittgenstein formuliert die provokante These, dass die Ausdrücke, die wir regelkonform verwenden, überhaupt keine bestimmte Bedeutung haben, weil diese letztlich unbestimmbar und vollkommen beliebig ist.125 Gemäß einer Lesart, die auf Saul Kripke zurückgeht, vertritt er damit eine neue Form des Skeptizismus,

123 Vgl. ebd., §§ 211 f., 289 u. Wittgenstein (1984a), VII § 40.

124 Wittgenstein (1984d), § 201.

125 Vgl. ebd.

die man auch als „Bedeutungsskeptizismus“ bezeichnen kann.126 Unabhängig von der Frage nach der exegetischen Korrektheit ist diese Interpretation für die Veranschaulichung und die systematische Darstellung des Problems außerordentlich hilfreich.

Wenn wir ein Wort neu lernen, werden wir entweder in seine Verwendungsweisen eingewiesen oder wir beobachten, wie andere es verwenden. Gehen wir einmal davon aus, dass dies ohne größere Schwierigkeiten möglich ist. Prinzipiell gibt es dann keine zwingende Notwendigkeit dafür, welchem Ausdruck welche Bedeutung zukommt.

Ebenso wenig muss dies ein für alle Mal feststehen.127 Wollen wir beispielsweise im Deutschen „das Gegenteil von fest“ zum Ausdruck bringen, so können wir dazu das Wort „lose“ verwenden. Wir können aber auch „locker“ sagen. Verwenden wir den Ausdruck „locker“ dagegen im Englischen, dann bedeutet er soviel wie „Garderobenschrank“, also etwas völlig anderes. Bedeutung kommt somit nicht aus unseren Wörtern selbst oder von irgendeiner unabhängigen Macht.128 Es ist etwas, das wir den Wörtern geben. Wir bringen uns gegenseitig bei oder beobachten, wie und wann man ein Wort üblicherweise verwendet. Wenn wir die Bedeutung eines Ausdrucks lernen, machen wir uns mit der Gewohnheit seines Gebrauchs vertraut. Bedeutung ist eine Sache von Konventionen.

Dies könnte es sein, was mit Regelfolgen gemeint ist. Dafür spricht, dass sich Regeln und Gewohnheiten zwei wichtige allgemeine Merkmale teilen. So sind Regeln einmal Kriterien zur Charakterisierung und Kategorisierung von Handlungen. Mit ihrer Hilfe lässt sich unterscheiden, ob bestimmte Performanzen mit ihnen in Übereinstimmung stehen oder nicht. Das Verschieben einer Figur auf einem Schachbrett beispielsweise lässt sich dahingehend beurteilen, ob es mit den Regeln des Schachs übereinstimmt oder nicht. Zudem sind Regeln etwas Allgemeines, das sich in einer Reihe sich wiederholender Vollzüge manifestieren kann. Eine Figur im Schachspiel etwa, für die einmal die Regel aufgestellt wurde, dass

126 Vgl. Kripke (1982). Gelegentlich wird auch Quines These von der Unbestimmbarkeit von Übersetzung und Referenz als eine solche Form des Skeptizismus bezeichnet. Vgl. Quine (1960), insbes. Kap. 2 u. Quine (1969), insbes.

Kap. 2. Diese ist hier nicht gemeint.

127 Vgl. Glock (2000), 433 f.

128 Vgl. Wittgenstein (1984b), 51 f.

sie nur diagonal über das Brett gezogen werden darf, muss immer wieder auf diese Weise bewegt werden. Jedes Mal, wenn dies geschieht, manifestiert sich die Regel aufs Neue. Umgekehrt heißt das natürlich, dass man einer Regel nicht nur ein einziges Mal folgen kann.129

Diese beiden Merkmale treffen nun in gleichem Maße für Gewohnheiten zu. So kann man ein bestimmtes Verhalten auch dahingehend beurteilen, ob es mit einer bestimmten Gewohnheit übereinstimmt oder nicht. Trinkt jemand beispielsweise zum Frühstück eine Tasse Tee, obwohl er sonst eine Tasse Kaffee trinkt, so steht sein Handeln nicht in Übereinstimmung mit seiner Gewohnheit. Ebenso angemessen ist die Festlegung, dass sich eine Gewohnheit in wiederholten Vollzügen manifestiert.130 Trinkt jemand beispielsweise zum wiederholten Male einen Kaffee zum Frühstück, so manifestiert sich dadurch eine seiner Gewohnheiten. Es scheint also legitim zu sein, Regeln und Gewohnheiten in dieser Hinsicht in Zusammenhang zu bringen. Regelfolgen kommt in weiten Teilen gewohnheitsmäßigem Handeln gleich.131

Sellars stellt die Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs folgendermaßen dar. Erst ersetzt man die Rede vom „Befolgen einer Regel“ durch die vom „Übereinstimmen mit einer Regel“. Ein regelgeleiteter Akt A liegt dann vor, wenn er in Überstimmung mit einer Regel R steht, die seine Ausführung unter den Umständen C verlangt.

Dann erklärt man das Handeln in Übereinstimmung mit einer Regel zu einem gewohnheitsmäßigen Ausführen einer Handlung. „A person who has the habit of doing A in C would then be conforming to the above rule (…).“132 Gewohnheitsmäßig ist ein Handeln demnach dann, wenn es in Überstimmung mit Regeln steht. Jemand folgt beispielsweise der Regel „In Deutschland fahren Autos auf der rechten Straßenseite.“ (R), wenn er tatsächlich in Deutschland (C) mit dem Auto auf der rechten Straßenseite fährt (A) und wenn er dies gewohnheitsmäßig tut.

Der Vorteil eines solchen Ansatzes liegt auf der Hand. Handeln im Allgemeinen und das Verwenden von Sprache im Besonderen wird zwar als regelgeleitet aufgefasst. Auf Regeln, auf die der Handelnde

129 Vgl. Wittgenstein (1984d), § 199 u. Wittgenstein (1984a), 322 f.

130 Vgl. Ryle (1949), 42.

131 Vgl. Wittgenstein (1984d), § 198 f. u. Wittgenstein (1984a), 322.

132 Sellars (1963b), 322. (Meine Hervorhebungen, A. S.)

ausdrücklich Bezug nimmt und die außerhalb seiner Praxis selbst liegen, wird dabei aber nicht rekurriert. Regeln werden nicht von einem Akteur zu seinen Performanzen hinzugefügt. Sie werden von einem intelligenten Beobachter aus ihnen extrahiert. Ein Beobachter kann zwar konstatieren, ob jemand mit seinem Handeln einer bestimmten Regel folgt. Er kann die Regeln, die in den beobachteten Performanzen implizit enthalten sind, explizit formulieren. In der Praxis desjenigen, der sich regelkonform verhält, kommen aber derartige Regelformulierungen nicht vor. Dadurch wird ein Regress von Regeln vermieden. Wie es scheint, ist dieser Ansatz eine attraktive Alternative zum Intellektualismus.

Es greift allerdings zu kurz, wenn man Bedeutung auf diese Weise auf Gewohnheiten zurückführt. Denn genau genommen kommen in gewohnheitsmäßigen Handlungen nicht Regeln, sondern Regelmäßigkeiten vor. Diese können von einem Beobachter so beschrieben werden, als ob es sich um Regeln und bei der fraglichen Handlung damit um echtes Regelfolgen handelt. Dass die beobachtete Person dabei tatsächlich Regeln folgt, ist jedoch nicht ausgemacht. Es ist zweifelsohne richtig, dass Handlungen irgendwelchen Regeln entsprechen, wenn sie regelmäßig auftreten. Die Übereinstimmung, die sich zwischen einer Handlung und einer Regelmäßigkeit ergeben kann, ist aber nicht von derselben Art wie die zwischen einer Handlung und einer Regel im Sinne einer Handlungsnorm. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass Regelmäßigkeiten keine normative Kraft haben. Regelmäßigkeiten geben an, was getan wird, nicht aber, was getan werden soll.

Zwei Punkte verdeutlichen diesen Unterschied.133 Zum einen schaffen Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten nicht in gleicher Weise Raum für Fehler, Irrtümer oder anders gearteten Misserfolg, wie es echte Regeln tun.

Verhalten, dass von einer Gewohnheit abweicht, identifizieren wir üblicherweise als irregulär, aber nicht automatisch als inkorrekt. Zum anderen stellen Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten keinen Maßstab für neue Formen und Fälle des Handelns dar. Sie richten sich an aktuelle und vergangene Vollzüge, nicht aber an Ereignisse in der Zukunft. Vor allem der zweite Punkt steht im Zentrum des modernen Problems des

133 Vgl. Searle (1969), 42.

Regelfolgens.134 Daher werde ich mich ihm besonders ausführlich widmen.

Doch zunächst zum ersten Punkt.

Um auch bei Regelmäßigkeiten Fehler und Misserfolg zu ermög-lichen, könnte man die Unterscheidung von korrekt und inkorrekt mit der von regulär und irregulär schlichtweg gleichsetzen. Das ließe sich damit rechtfertigen, dass Handlungsvollzüge in beiden Fällen prinzipiell auf die gleiche Art unterschieden werden. Sowohl bei Regeln als auch bei Regelmäßigkeiten ist eine wichtige Frage, ob sie mit diesen in Übereinstimmung stehen oder nicht. Bei beiden handelt es sich wie gesehen um vergleichbare Maßstäbe oder Kriterien. Das Ergebnis einer solchen Gleichsetzung wäre eine Art praxisimmanente Normativität in Form von Verhaltensmustern. Einen Regelverstoß zu begehen, hieße dann, ein solches Muster zu durchbrechen. Nehmen wir zum Beispiel an, eine Gruppe von Männern rennt über eine Wiese und passt gelegentlich einen Ball von einem zum anderen. Sie hält sich mit dem Ball die meiste Zeit innerhalb eines rechteckigen Feldes auf. Manchmal überquert der Ball aber auch eine der Längsseiten des Feldes. Dann wird das Spiel unterbrochen und durch einen Einwurf fortgesetzt. Wir stellen fest, dass das Überqueren der Längsseite eine Unregelmäßigkeit darstellt, die den korrekten Spielverlauf stört. Auf diese Weise könnte man also die normative Unterscheidung zwischen richtig und falsch mit Hilfe einer deskriptiven Festlegung eines bestimmten Verhaltensmusters rekonstruieren.

Gegen diesen Vorschlag spricht allerdings, dass er nicht das wiedergibt, was wir tatsächlich unter Regeln auf der einen Seite und Regelmäßigkeiten beziehungsweise Gewohnheiten auf der anderen verstehen. Denn wenn wir davon reden, dass jemand ein Verhaltensmuster durchbricht, so hat das nicht die normative Bedeutung eines Fehlers.

Gewohnheiten und Regelmäßigkeiten sind normativ neutral. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass wir irreguläres Verhalten nicht sanktionieren.135 Ein Fußballspieler, der regelmäßig über die rechte Seite angreift, wird nicht bestraft, wenn er ausnahmsweise einmal über die linke Seite angreift.

Gleiches gilt für denjenigen, der entgegen seiner Gewohnheit zum

134 Vgl. insbes. Wittgenstein (1984d), §§ 143 u. 185 ff. Vgl. auch Kripke (1982), Kap.

2 u. Brandom (1994), 27 f.

135 Eine ausführliche Diskussion von Sanktionen erfolgt in Kap. 4.11.

Frühstück einmal Tee statt Kaffee trinkt. Es ist sogar denkbar, dass sich jemand zugleich regelmäßig und inkorrekt oder umgekehrt zugleich unregelmäßig und korrekt verhält. So kann es beispielsweise meine Gewohnheit sein, bei rot über die Ampel zu gehen, obwohl dies einem Regelverstoß gleich kommt. Bleibe ich doch einmal bei rot stehen, so durchbreche ich mein gewohntes Verhaltensmuster. Zugleich verhalte ich mich aber auch ausnahmsweise einmal korrekt. Dass Gewohnheiten oder Regelmäßigkeiten mit genuin normativen Regeln gleichgesetzt werden können, ist also nicht ohne weiteres einsichtig zu machen.

Im Dokument 3. Regeln folgen und Sprache spielen (Seite 23-28)