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Regeln für die Zukunft

Im Dokument 3. Regeln folgen und Sprache spielen (Seite 28-34)

Anders als Regeln stehen Gewohnheiten oder Regelmäßigkeiten nicht in normativer Relation zu dem Einzelfall, der unter sie fällt. Das gilt vor allem im Hinblick auf zukünftiges Handeln. Dieser Punkt lässt sich unter dem Schlagwort des „Bedeutungsskeptizismus“ zusammenfassen und auf Kripkes Interpretation der Wittgensteinschen Spätphilosophie zurückführen. Dort stellt Wittgenstein fest, dass jede einzelne Reihe von Beispielen grundsätzlich mehrere Regelmäßigkeiten aufweist. Wie sie in Zukunft fortgesetzt werden soll, lässt sich daher anhand der vorliegenden Fälle gar nicht zweifelsfrei feststellen. Für neue Situationen lassen sich immer mehrere Regelmäßigkeiten finden, deren Fortsetzung sie sein können. Was Sprachgebrauch und Bedeutung betrifft, so entsteht der Verdacht, dass sich zwischen Regeln und sprachlichen Ausdrücken überhaupt kein eindeutiger Zusammenhang herstellen lässt. Um sicher sein zu können, dass ein Sprecher einen Ausdruck zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf dieselbe Weise verwendet wie zu vergangenen Zeitpunkten, ist dies aber notwendig. Ist hier keine Kontinuität zu erwarten, so entsteht die Gefahr, dass er überhaupt keine Bedeutung hat.

Wittgenstein und Kripke diskutieren diese Problematik anhand eines einfachen Beispiels.136 Darin geht es um die mathematische Funktion der Addition, die wir bekanntlich durch den Ausdruck „plus“ bezeichnen.

Diese lässt sich als eine Regel verstehen, die das Berechnen von Summen determiniert. Reihen von natürlichen Zahlen stehen dabei in

136 Vgl. Wittgenstein (1984d), §§ 185 f. u. Kripke (1982), 7 ff.

paradigmatischer Weise für Reihen beliebiger, regelgeleiteter Vorkomm-nisse eines bestimmten Aktes wie etwa der Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks. Das Beispiel soll verdeutlichen, dass das Erfassen einer Regel ihre künftige Anwendung nicht beinhaltet. Zumindest gibt es keine Möglichkeit, dies empirisch zu überprüfen. Schließlich kann eine zukünftige Verwendung einer Regel nie als zukünftige gegenwärtig sein.

Die Autoren konstruieren daher einen hypothetischen Fall, der einer künftigen Regelanwendung gleichkommt. Ein solcher ist eine Situation, in der jemand aufgefordert wird, zwei Zahlen zu addieren, die größer sind als alles, was er bisher addiert hat. Angenommen jemand hat bisher nie Zahlen addiert, die größer als 57 sind.137 Nun wird die Person aufgefordert, 57 und 68 zu addieren. Sie stößt damit in einen Bereich vor, der vollkommen neu für sie ist. Somit kann dies als die erstmalige, „künftige“ Anwendung der Additionsregel gelten.

Nach allem, was wir über Arithmetik und über die Bedeutung von

„plus“ wissen, wird die Person mit „125“ antworten. Kripke schlägt allerdings vor, eine Alternative in Betracht zu ziehen. Stellen wir uns vor, es gibt neben der Regel der Addition eine weitere, sehr ähnliche Regel mit dem Namen „Quaddition“. Zu ihrer Kennzeichnung dient auch der Ausdruck „quus“. Für Zahlen, die kleiner sind als 57, ist diese Regel definitionsgemäß identisch mit der der Addition. Für Zahlen größer oder gleich 57 hat sie dagegen immer 5 zum Ergebnis. Woher weiß nun die Person, die 57 und 68 addieren soll, welcher der beiden Regeln sie folgen soll? Woher weiß sie, was die Wörter „addieren“, „plus“ etc. bedeuten?

Ihre bisherigen Handlungen geben darüber keine eindeutige Auskunft. Sie weisen Regelmäßigkeiten auf, die sowohl für die Additions- als auch die Quadditionsregel sprechen. Ob also das Wort „plus“ bei den bisherigen Berechnungen plus oder quus bedeutet hat, ist ungewiss. Es gibt keine mentale oder wie auch immer geartete Tatsache, die darauf hinweist, dass die Person bisher addiert statt quaddiert hat.138 Wenn es aber ebenso gut möglich ist, dass jemand mit „plus“ bisher quus gemeint hat, dann ist es

137 Dies ist Kripkes Version des Beispiels. Wittgenstein geht davon aus, dass jemand die Funktion „+2“ erstmals auf Zahlen anwendet, die größer als 1000 sind. Da Kripkes Darstellung gehaltvoller und von größerer systematischer Klarheit ist, werde ich mich auf sein Beispiel beschränken.

138 Vgl. Kripke (1982), 21.

auch möglich, dass er etwas ganz anderes oder auch gar nichts gemeint hat.

Daher, so könnte man meinen, droht sich die ganze Idee der Bedeutung in Luft aufzulösen.139

Mit Wittgenstein kommt Kripke zu dem Ergebnis, dass aus Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten abgeleitete Regeln keinen Maßstab für zukünftiges Handeln darstellen. Es gibt für eine vorliegende Reihe von Fällen nicht die eine Regelmäßigkeit oder das eine Verhaltensmuster, wodurch zukünftige Fälle vorgegeben werden. Diese Einsicht hat weitreichende Konsequenzen. Wenn nämlich jede Handlungsweise mit einer Regel in Übereinstimmung gebracht werden kann, so gilt das nicht nur für ein Spektrum an vergleichbaren Alternativen. Es gilt auch für deren Gegenteil.140 Grundsätzlich ist es möglich, dass sich eine Handlungsweise mit einer bestimmten Regel in Übereinstimmung bringen lässt, obwohl sie ihr eigentlich widerspricht. Dazu braucht es lediglich eine weitere Regel, die von ihr geringfügig abweicht. So kann es kommen, dass meine bisherigen Verwendungen des Wortes „plus“ zwar vermuten lassen, dass ich plus meine. Es lässt sich aber nicht ausschließen, dass ich damit in Zukunft einmal quus, minus oder auch etwas ganz anderes meine.

Erneut stellt sich also die Aufgabe, eine Methode zu finden, mit deren Hilfe sich bestimmte Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten gegenüber anderen hervorheben lassen. Nur unter dieser Bedingung würde es sich tatsächlich um Korrektheitsbedingungen im Sinne echter Regeln handeln.

Es müsste sich die eine Verbindung zwischen einer Regelmäßigkeit im bisherigen Handeln und der sich daraus ergebenden Regel für das künftige Handeln aus der Menge aller – möglicherweise abwegigen oder inkom-patiblen – Alternativen herausgreifen lassen. Nur so ließe sich zeigen, dass jemand nicht nur bisher mit „plus“ plus statt quus oder mit „rot“ rot statt grün gemeint hat, sondern dass das auch in Zukunft so sein soll. Nur so ließe sich der semantische Konventionalismus retten. Dies ist jedoch eine kaum lösbare Aufgabe.

Ein wichtiger Kandidat, dem dies zugetraut wird, sind Dispo-sitionen.141 Demnach ist jemand dazu disponiert, rot statt grün oder plus

139 Vgl. ebd., 22.

140 Vgl. Wittgenstein (1984d), § 201.

141 Vgl. hierzu ausführlich Kripke (1982), 22 ff.

statt quus zu meinen. Wer bisher Additionen ausgeführt hat, war und ist auch in Zukunft dazu disponiert, Summen und nicht Quummen zu bilden.

Denn bei letzterem handelt es sich um eine andere Disposition. Diese Erklärung kann das geschilderte Problem jedoch auch nicht lösen. Denn die Frage ist doch, warum jemand, der beispielsweise nach der Summe von 57 und 68 gefragt wird, mit „125“ und nicht etwa mit „5“ antworten soll.

Zu sagen, dass er dazu disponiert ist, ist keine wirkliche Begründung. Das Beispiel ist ja gerade so gewählt, dass beide Antworten plausibel erscheinen. Wenn es darum geht, eine von beiden herauszugreifen, dann ist es unerheblich, dass sie jeweils für unterschiedliche Dispositionen stehen.

Offen bleibt, wieso die Handlung, zu der jemand disponiert ist, zugleich die ist, die er tun soll? Dispositionen beschreiben schließlich nur, was getan wird. Darüber, was getan werden soll, geben sie keine Auskunft.

Das Problem ist also, dass Dispositionen keinen normativen Kontext schaffen, sondern sich auf das rein Deskriptive beschränken. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es auch für sie keinerlei Inkorrektheit gibt: „No one ever acts incorrectly in the sense of violating his or her own dispositions.“142 Man kann das auf ähnliche Weise illustrieren wie bei Gewohnheiten. So wie jemand die Gewohnheit haben kann, auf systematische Weise Fehler zu machen, so kann er auf eine ähnliche Weise zu systematischem Fehlverhalten disponiert sein. Jemand, der sich beispielsweise bei Zahlen, die größer als 57 sind, systematisch verrechnet, gibt eben Antworten, die einer quusartigen Regel genügen. Die Disposition, einen Fehler zu machen, bedeutet also lediglich, dazu disponiert zu sein, sich anders zu verhalten, als es die ursprünglich gemeinte Regel erwarten ließ.143 Daher können auch Dispositionen das Normativitätsproblem nicht lösen. Ebenso wenig wie Gewohnheiten können sie Fehler als Fehler beschreiben.

Der Blick auf zukünftiges Handeln untermauert also die Auffassung, wonach Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten nicht als Regeln im Sinne von Handlungsnormen verstanden werden können. Damit zusammen hängt der Umstand, dass nur ein Kriterium, das auch verletzbar ist, angeben kann, wie in Zukunft gehandelt werden soll. Auch dies trifft auf

142 Brandom (1994), 29. Vgl. auch Kripke (1982), 28 ff.

143 Vgl. Kripke (1982), 30.

Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten nicht zu. Denn sie sind nicht im entscheidenden Sinne verletzbar. Es gibt zwar Unregelmäßigkeiten. Diese haben aber keine normative Relevanz. Und da, wo sie auftauchen, sind meist neue oder andere Regelmäßigkeiten nicht weit. Letztlich ist daher jede Handlung auf irgendeine Weise regelmäßig. Ohne die Möglichkeit von Fehlern, Irrtümern oder Misserfolgen ergibt sich aber ein Regelbegriff von inflationärer Gültigkeit. Jedes Handeln ist dann richtig und alles kann überall als „Regelfolgen“ gelten. Dadurch verliert der Begriff seine normative Kraft. Regelmäßigkeiten und Gewohnheiten beschreiben das, was jemand getan hat. Vorgaben dahingehend, was er in Zukunft tun soll, machen sie nicht.

Es lässt sich festhalten, dass das klassische Problem des Regelfolgens einen gewichtigen Einwand gegen den Intellektualismus darstellt. Es richtet sich gegen ein Verständnis von Regel im Sinne von expliziten Regelformulierungen. In rein epistemologischer Hinsicht entspricht das der Auffassung, dass propositionales Wissen die Voraussetzung für Können ist. Dies bleibt eine unhaltbare Auffassung, für die eine Alternative zwingend erforderlich ist. Das moderne Problem des Regelfolgens nimmt die Tradition dieses Einwandes auf und ergänzt ihn um einen wichtigen Aspekt. Es macht deutlich, dass ein Verständnis von Regel im Sinne von Regelmäßigkeiten oder Gewohnheiten ebenso wenig haltbar ist. Damit formuliert es einen schwerwiegenden Einwand vor allem gegen den semantischen Konventionalismus. Dies lässt sich als ein gescheiterter Versuch interpretieren, Wissen auf eine praktische Grundlage zurückzuführen. Der Konventionalismus ist somit keine wirkliche Alternative zum Intellektualismus.

Zusammengenommen ergibt sich aus den beiden Problemkomplexen ein Dilemma.144 Wird (sprachliches) Handeln als regelgeleitet nach dem Modell des expliziten Regelfolgens verstanden, so kommt der erwähnte Regress in Gang. Wird es nach dem Modell impliziten Regelfolgens verstanden, so wird zwar der Regress vermieden. Es droht aber eine Nivellierung des Regelbegriffs. Das Regelfolgen büßt seinen Charakter

144 Vgl. Glüer (2002), 158 ff. K. Glüer redet vom „Dilemma von Regress und Nivellierung“.

genuin normativer Regelgeleitetheit ein. Dies ist die Konsequenz aus Wittgensteins Diskussion des Problems des Regelfolgens. John McDowell stellt sie sehr anschaulich dar:

Wittgenstein’s problem is to steer a course between a Scylla and a Charybdis.

Scylla is the idea that understanding is always interpretation. (…) We can avoid Scylla by stressing that, say, calling something ‘green’ can be like crying ‘Help!’

when one is drowning – simply how one has learned to react to this situation. But then we risk steering on to Charybdis – the picture of a basic level at which there are no norms. (…) How can a performance both be nothing but a ‘blind’ reaction to a situation, not an attempt to act on an interpretation (avoiding Scylla); and be a case of going by a rule (avoiding Charybdis)?145

Szylla und Charybdis sind die beiden Eckpunkte, zwischen denen sich die folgenden Überlegungen werden bewegen müssen. Normativität ist für die Fundierung von Wissen durch Können unverzichtbar. Sie darf aber weder explizit als „Interpretieren“ oder „Deuten“ von Regeln verstanden werden, noch darf sie zugunsten eines Konventionalismus ganz aufgegeben werden. Sonst wird die anti-intellektualistische Antwort auf den Intellektualismus zu einer Angelegenheit reiner Beliebigkeit.

Wittgensteins Antwort auf McDowells Frage ist bekannt. Eine Handlung kann zugleich „blind“ auf eine Situation reagieren und dabei einer genuin normativen Regel folgen, wenn sie Teil einer

„Gepflogenheit“146, einer „Praxis“147 oder einer „Institution“148 ist. Diese programmatischen Ausdrücke werden jedoch nicht weiter spezifiziert.

Obwohl sie von anderen Autoren vielfach zitiert werden, gibt es kaum ernstzunehmende Versuche, eine Erklärung dessen abzugeben, was mit

„blindem Regelfolgen“, „Gepflogenheit“ oder „Institution“ eigentlich gemeint ist. Dieser Aufgabe sind die folgenden Kapiteln gewidmet. Die große Herausforderung wird dabei sein, von Können als blindem Regelfolgen zu reden, ohne dabei auf explizite Regeln zurückzugreifen.

Enttäuschung ist also vorprogrammiert: Es wird viel von Regeln die Rede sein, ohne dass eine einzige formuliert wird. Vielmehr wird es darum

145 McDowell (1984), 341 f.

146 Wittgenstein (1984d), §§ 198 f., 205, 337 u. Wittgenstein (1984a), 332, 346.

147 Wittgenstein (1984d), §§ 54, 197, 202 u. Wittgenstein (1984a), 335, 344, 432.

148 Wittgenstein (1984d), §§ 199, 337, 380 u. Wittgenstein (1984a), 167 f., 334.

gehen, die Idee einer prinzipiell normativ verfassten Behauptungs- und Folgerungspraxis verständlich zu machen, die als systematische und expla-natorische Grundlage für propositionalen beziehungsweise semantischen Gehalt und damit letzten Endes für Wissen dient. Es wird also weniger um konkrete Regeln, als um Normativität als internes Charakteristikum sprachlicher und mentaler Phänomene gehen.

Im Dokument 3. Regeln folgen und Sprache spielen (Seite 28-34)