• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Kopfschmerz im Kindes- und Jugendalter" (03.03.2000)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Kopfschmerz im Kindes- und Jugendalter" (03.03.2000)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A-538

M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 9, 3. März 2000 ie familiäre und soziale Rolle

bei der Entstehung und Auf- rechterhaltung von Kopf- schmerzen bei Kindern und Jugendli- chen war ein Thema des IV. Interna- tional Congress on Headache in Childhood and Adolescence (ICH- CA), der vom 2. bis 4. September 1999 in Turku, Finnland, stattfand. Organi- siert wurde dieser Kongress von der pädiatrischen Sektion der Internatio- nal Headache Society (IHS). Ziel die- ser Kongressreihe ist es, eine Platt- form für den wissenschaftlichen, in- ternationalen Austausch über Span- nungskopfschmerzen und Migräne im Kindes- und Jugendalter bereitzustel- len. Vor Ort veranstaltet wurde der Kongress von M. Sillanpää, einem der Pioniere auf dem Gebiet der epide- miologischen Forschung zur kindli- chen und juvenilen Migräne.

Genetik, Diagnostik und Komorbidität

Zur Untersuchung der geneti- sche Anteile bei Migräne und Span- nungskopfschmerzen führte D. Svens- son, Stockholm, Zwillingsstudien, auf der Grundlage des mit 70 000 Paaren einzigartigen schwedischen Zwillings- registers durch. Wenngleich solche Zwillingsstudien Hinweise auf einen hereditären Faktor liefern, können bisher nur sehr wenige eindeutige Be- funde hinsichtlich der chromosoma- len Topologie vorgelegt werden. Ein- zig bei der sehr seltenen so genannten familiär-hemiplegischen Migräne, bei der es während einzelner Attacken zu Hemiparesen und teilweise zu Be- wusstseinsstörungen kommen kann, lassen sich in manchen Fällen auf dem Chromosom 19p13 Variationen lokali- sieren. Der dispositive Aspekt für Mi- gräne schlägt sich in der veränderten Funktion von Ionenkanälen nieder.

Die IHS-Richtlinien schlagen als ein Kriterium für eine Migränedia- gnose bei Erwachsenen eine minde- stens zweistündige Zeitspanne des

Schmerzanfalls vor. Die klinische Er- fahrung bei Kindern und Jugendli- chen zeigt allerdings, dass auch kürze- re Migräneanfälle nicht selten vor- kommen. Es wurde vorgeschlagen, das Kriterium für die Zeitspanne ei- ner Migräneattacke in den IHS-Richt- linien bei Kindern und Jugendlichen auf eine halbe Stunde zu reduzieren.

Für eine möglichst exakte Differenzi- aldiagnose sollten die Kinder bezie- hungsweise Jugendlichen über einen Zeitraum von mindestens vier Wo- chen ein Kopfschmerztagebuch mit Angaben über Häufigkeit, Zeitdauer, Stärke, Lokalisation und Begleit- symptome der Beschwerden führen.

Da sinnvollerweise Spannungskopf- schmerzen und Migräne als „dynami- cal diseases“ konzeptionalisiert wer- den, ist der temporale Aspekt des Krankheitsgeschehens von besonde- rer Bedeutung.

Eine italienische Forschergrup- pe berichtete bei chronischen Span- nungskopfschmerzen (durchschnitt- liche Kopfschmerzhäufigkeit mehr als 18 Tage pro Monat) eine psychia- trische Komorbidität von 80 Prozent.

In der zugrunde liegenden Unter- suchung wurden Patienten eines Kin- der-Kopfschmerz-Zentrums, ange- gliedert an eine Abteilung für Kin- der- und Jugendpsychiatrie, befragt.

Die klinische Erfahrung in der Kin- der- und Jugendpsychiatrie zeigt, dass zum Beschwerdebild vieler

„Störungen“ Kopfschmerzen gehö- ren. Es ist schwierig, eindeutige Zu- sammenhänge zwischen eher „wei- chen“ psychosozialen Faktoren und dem Krankheitsgeschehen aufzuzei- gen. Dies fällt bei eher „harten“ bio- medizinischen Variablen (zum Bei- spiel Allergien) leichter, so F. Andra- sik, einer der Pioniere der psycholo- gischen Therapieverfahren bei kind- lichen Kopfschmerzen. Dennoch wird in der metaanalytischen Litera- tur zur psychosozialen Komorbidität ein moderater Zusammenhang zwi- schen Spannungskopfschmerzen und psychosozialen Aspekten berichtet,

der sich jedoch nicht bei Migräne herstellen lässt. Von Bedeutung für die Diagnose und Therapieplanung können etwa familien- und sozial- anamnestische Daten (zum Beispiel Trennung der Eltern, Tod eines El- ternteils, Wohnortwechsel) und In- formationen zu den aktuellen psy- chosozialen Kontexten (beispiels- weise schulische und häusliche Situa- tion) sein.

Epidemiologie und Therapie

Die Prävalenzrate von Span- nungskopfschmerzen und Migräne ist über die letzten zwanzig Jahre in den Industriestaaten stetig angestiegen.

Für die Länder der Europäischen Union liegt die Prävalenz von Migrä- ne, der häufigsten neurologischen Er- krankung im Kindesalter, bei zehn Prozent. In Ergänzung dazu ergab ei- ne aktuelle Studie, dass knapp 90 Pro- zent der Kinder und Jugendlichen im Alter von acht bis 16 Jahren Kopf- schmerzerfahrung haben. Diese Er- gebnisse belegen noch einmal die ak- tuelle Relevanz und Notwendigkeit der Beschäftigung mit Kinderkopf- schmerzen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis.

Zur akuten medikamentösen Behandlung von schweren Migrä- neattacken bei Kindern und Jugend- lichen scheinen nach dem aktuellen Stand der Forschung die Triptane, wie das von M. Überall vom Uni- versitätskrankenhaus Erlangen emp- fohlene nasale Sumatriptan, die The- rapeutika der Wahl zu sein. Bei leichteren Migräneattacken (mit langsamem initalen Schmerzanstieg, niedriger Intensität, mäßigen oder fehlenden Begleitsymptomen) wer- den bewährte Analgetika wie Ibu- profen, Paracetamol oder ASS oder Antimimetika wie Domperidon, empfohlen. Von Ergotaminderiva- ten wird inzwischen aufgrund der Nebenwirkungen eher abgeraten.

KONGRESSBERICHT

Kopfschmerz im

Kindes- und Jugendalter

D

(2)

Jede medikamentöse Behandlung sollte jedoch von einem nichtmedi- kamentösen Ansatz begleitet wer- den.A. M. Rapoport empfiehlt eine Patienten- und Elternaufklärung, das Führen von Kopfschmerztage- büchern, Diäten, körperliche Bewe- gung, Vitamine und den Einsatz psy- chologischer Verfahren wie Entspan- nungstrainings.

Psychologische Entspannungs- verfahren, wie etwa das Biofeedback, zählen inzwischen zu den, in vielen Studien empirisch evaluierten, effek- tiven Therapien zur Behandlung von Spannungskopfschmerzen und Mi- gräne. Dennoch hat nur ein ver- schwindend kleiner Teil der Kinder und Jugendlichen, die den Hausarzt oder Pädiater mit zephalalgischen Beschwerden aufsuchen, die Mög- lichkeit, mit einem Entspannungs- training behandelt zu werden. Dies liegt zum Teil daran, dass die ausge- zeichneten Behandlungserfolge von Entspannungstrainings den meisten Ärzten noch nicht bekannt sind. Teil- weise fehlt es aber auch an einer wir- kungsvollen Vernetzung und Koope- ration zwischen Kinderärzten und psychosozialen Fachkräften, die pro- fessionell Entspannungsverfahren anbieten können. Eine Verbesserung der interdisziplinären Kooperation zwischen medizinischen und psycho- sozialen Profis ist hier unbedingt er- forderlich.

Familiäre und soziale Dimension

Die medikamentöse Behand- lung hat sich als effektiv bewährt und wird weiter optimiert. Dasselbe gilt für psychologische Entspannungs- verfahren. Die systematische Erfor- schung der Rolle der Familie und an- derer sozialer Systeme bei der Ent- stehung, Aufrechterhaltung und Ge- nese der Beschwerden steht jedoch noch am Anfang.M. Siniatchkinvom Forscherteam um W. D. Gerber von der Abteilung für Medizinische Psy- chologie in Kiel, erläuterte das fami- lienexperimentelle Paradigma mit Hilfe dessen gezeigt werden kann, dass das Interaktionsverhalten von Eltern und „Migränekindern“ sich signifikant von dem Interaktionsver-

halten von Eltern mit gesunden Kin- dern und von Eltern mit einem Kind mit Asthmabeschwerden unterschei- det. „Migräneeltern“ wirken puniti- ver und kontrollierender auf ihre Kinder ein. Diese statistisch signifi- kanten Resultate ergaben sich inter- essanterweise aus einem untersu- chungstechnischen Vorgehen, wie man es aus der experimentalpsycho- logischen Grundlagenforschung kennt. Unklar bleibt, ob das Verhal- ten der Kinder ein Resultat des Ver- haltens der Eltern ist oder umge- kehrt. Es gibt deutliche empirische Indizes dafür, dass „Migränekinder“

schon im Säuglings- und Babyalter hyperaktive Tendenzen zeigen. Dar- auf von elterlicher Seite mit kontrol- lierendem oder auch punitivem Ver- halten zu reagieren, mag zumindest nicht unverständlich sein. Die mögli- che vorschnelle Schlussfolgerung aus den Ergebnissen von M. Siniatchkin, die Eltern seien aufgrund ihrer Ver- haltensweisen „Schuld“ an der Mi- gräne ihres Kindes, ist also sicher nicht zulässig. Wahrscheinlich müs- sen hier transaktionale beziehungs- weise zirkuläre anstatt lineare Inter- aktionsprozesse zugrunde gelegt werden. Die Frage, was aus solchen Familienexperimenten für die kon- krete Kopfschmerz- beziehungswei- se Migränetherapie folgt, führt un- weigerlich zu familientherapeuti- schen Ansätzen. An der Psychoso- matischen Klinik des Uniklinikums Heidelberg wird von dem Forscher- team um H. Seemann und J. Schweit- zer momentan genau ein solcher Ansatz der systemisch/familienthe- rapeutischen Beratung bei Migräne und Spannungskopfschmerzen im Kindes- und Jugendalter entwickelt und erprobt.

Aber auch die bereits erwähnte ansteigende Prävalenz führt zu so- zialen Faktoren als Antwort auf die Frage nach den Kontextparametern, die hierfür zur Erklärung herangezo- gen werden können. Kinder mit Kopfschmerzen oder Migräne be- richten beispielsweise immer wieder von hohen Belastungen durch die Familie, die Schule oder durch zu viele Freizeitaktivitäten. In Überein- stimmung damit formulierte M. Sil- lanpää, dass die sozialen Rahmenbe- dingungen einer postmodernen Lei-

stungs- und Informationsgesellschaft möglicherweise ein günstiges Milieu für die Genese von Migräne und Spannungskopfschmerzen im Kin- des- und Jugendalter darstellen.

Untersuchungen zur Bedeutung familiärer Faktoren oder größerer sozialer Systeme bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Genese von Spannungskopfschmerzen und Mi- gräne im Kindes- und Jugendalter, nehmen momentan in der neuropä- diatrischen Scientific Community noch Orchideenstatus ein. Eine größere Aufgeschlossenheit für in- novative systemorientierte Ansätze komplementär zur bewährten medi- kamentösen Herangehensweise wä- re sehr wünschenswert. Vorausset- zung hierfür ist, dass einerseits die Rolle familiärer und sozialer Fakto- ren und andererseits die Wirksam- keit von Familientherapie bei Kin- derkopfschmerzen, empirisch belegt und nachvollzogen werden kann.

Hierfür eignen sich nicht etwa Pla- zebo-Doppelblind-Studien, wie sie zum Effektivitätsnachweis von Me- dikamenten eingesetzt werden. Das Methodenrepertoire sozialwissen- schaftlicher Evaluationsforschung stellt eine Fülle von Vorgehenswei- sen, wie qualitative Methoden (zum Beispiel qualitative Inhaltsanalyse, Grounded Theory) Methoden zur Erfassung von Patienten- bezie- hungsweise Kundenzufriedenheit, Interview- und Fragebogenverfah- ren zur Verfügung. Diese Methoden sind nicht weniger „wissenschaft- lich“, als etwa die angesprochenen Plazebo-Doppelblind-Studien, wie jeder epistemiologisch orientierte Wissenschaftstheoretiker bestätigen wird.

Weitere Informationen im Internet www.i-h-s.org/ihsnew/frameset.htm www.med.uni-heidelberg.de/

psycho/medpsych/index.htm

Dipl.-Psych. Matthias Ochs Universitätsklinikum Psychosomatische Klinik Abteilung für Medizinische Psychologie

Bergheimer Straße 20 69115 Heidelberg

E-Mail: Matthias_Ochs@med.

uni-heidelberg.de

A-539

M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 9, 3. März 2000 KONGRESSBERICHT

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

beschrieben in einer Metaanalyse zum Langzeitverlauf von Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter (N = 521 Patienten) eine mittlere Persis- tenzrate von 41 % für das Vollbild

Zur Vorbereitung einer bundesweiten Verschlüsselung von Diagnosen auf Abrech- nungs- und Arbeitsunfähig- keitsscheinen in der ambulan- ten Versorgung hat das Zen- tralinstitut für

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien sind Psychopharmaka für bestimmte Syndrome und Symptome auch im Kindes- und Jugendalter längst keine Ersatz- therapie mehr

Je häufiger exzessiv konsu- miert wird und je jünger die Kinder und Jugendlichen sind, umso größer ist das Risiko für die Entwicklung einer alko- holbezogenen Störung

Bei Jugendlichen und Erwachsenen manifestiert sich das Störungsbild durch Symptome wie das Eingenommensein von dem Gedanken, die primären und sekundären Geschlechtsmerkmale

Diese sistieren bei älteren Kindern in 70 Prozent der Fälle spontan innerhalb von etwa drei Minuten. Nach spätestens fünf Minuten sollte eine medikamentöse Intervention

Die Gesamtanamnesedauer lag im Median bei zwölf Monaten mit einer Spannweite von 0,01 bis 96 Monaten (modifiziert nach Müller HL, Kaatsch P, Warmuth-Metz M, Flentje M, Sörensen

häufig daran hindern, eine ihrem In- telligenzniveau angemessene schuli- sche Entwicklung zu durchlaufen, und weil sie insbesondere auch, wenn sie nicht behoben werden, zu