s heißt immer: Wir behandeln unsere Patienten unter strikter Befolgung klarer Grundsätze ganz individuell. Ist das ein Wi- derspruch: Alle über einen Kamm scheren, aber jeden ganz persönlich?
Nein, es ist eine Realität. Denn wohl wissend, was Erfahrung, Lehr- bücher und gesicherte Daten aus pro- spektiven, randomisierten, plazebo- kontrollierten Studien uns beige- bracht haben, behandeln wir nie einen Fall von . . ., sondern stets einen Pati- enten mit . . .
Wenn Sie daran zweifeln, dann betrachten Sie einmal, wie unbe- holfen wir Ärzte sind, wenn wir ei- ne Arbeit veröffentlichen, die viele Patienten betrifft.
Es heißt da „un- ser Krankengut“,
„unser Patienten- kollektiv“; denken Sie da nicht an Kollektivismus und Frachtgut?
Dabei hat das Anhängsel „-gut“
noch einen positi- ven Klang.
Die Medizin- statistiker haben
eine Ahnung von der Mengenlehre und wissen, was eine Gruppe von Menschen ist. Sie sagen aber nicht
„Patientenmenge“, sondern sprechen von „Patientenkohorten“ die sie bei weiterer Analyse in „Untergruppen“
aufteilen. Nicht sehr elegant, aber wie soll man sich ausdrücken?
Eine „Anzahl von Patienten“, das klingt zu ungenau, auch mit dem Adjektiv wie „klein“, „groß“, „be- trächtlich“ oder „bedeutend“. Eine Unzahl von Patienten ist zuviel.
Menschenmenge, Menschenmas- sen, das geht in der Umgangssprache, aber „Patientenmenge“ oder „Patien- tenmassen“, das geht nicht.
Den Haufen oder – wenn’s weni- ge sind – das Häuflein werden Sie ebenfalls nicht akzeptieren.
In dieser schwierigen Lage wendet sich der belesene Arzt der internatio- nalen Literatur zu. Dort liest er „pa- tient population“, „cohorts“ und „sub- groups“. Folglich spricht er von Patien- tenpopulation, Kohorten und Sub- gruppen. Wenn es sich um ausgewählte – „selected“ – Patienten handelt,
spricht er von einer selektierten Patien- tenpopulation oder aber von einer „se- lektionierten Patientenpopulation“.
Ich mag dieses Wort selektioniert nicht. Als ich Primaner in Bad Hom- burg war, fanden in Frankfurt die Auschwitz-Prozesse statt. Dort strit- ten Anklage und Verteidigung wo- chenlang darüber, wer Mörder war:
der einfache Kapo, der, „sich im Be- fehlsnotstand befindend“, das Gas in die Kammer strömen ließ, oder der SS-Obere, der, an der Eisenbahnram- pe stehend, die Ankömmlinge se- lektionierte, die gleich in die Gaskam- mern geschickt wurden.
Wenn man „patient population“
übersetzt, kommt „Patientenvolk“
heraus. Warum sa- gen wir das nicht?
Weil es uns nicht gefällt. Die Eng- länder und Ameri- kaner sind viel- leicht ebenfalls un- glücklich mit dem Ausdruck, „patient population“, nur haben sie nichts Besseres gefun- den. Selbst wenn bei ihnen der Grundsatz „don’t get involved“ mehr beachtet wird, so behandeln auch dort die Ärzte individuell, wie alle guten Ärzte. Wenn nun der Ausdruck „Pati- entenpopulation“ auch nichts taugt, wie sollen wir dann sagen? Ich weiß es nicht. Ich tröste mich damit, daß es ein gutes Zeichen für uns Ärzte ist.
Wenn Sie das nicht akzeptieren und einen Alternativvorschlag for- dern, dann erwidere ich: Muß man denn so sagen? Kann man nicht anstel- le von „das Patientengut unserer Stu- die beinhaltete 70 Männer und Frau- en, alles konsekutive Herzinfarktfäl- le“, besser so sagen: „In unserer Ar- beit untersuchten wir 70 Männer und Frauen, die aufeinanderfolgend mit Herzinfarkt zur Aufnahme kamen“?
Wenn Sie das nicht gelten lassen, dann schlage ich – an die Kranken denkend, die sich um ihren Arzt scha- ren – „Patientenschar“ vor.
Also sind unsere Patienten weder ein Volk, ein Kollektiv, ein Gut oder eine Masse, sondern Menschen, um die wir uns kümmern.
Dr. Arved Weisswange A-184 (32) Deutsches Ärzteblatt 96, Heft 4, 29. Januar 1999
Unsere Patienten –
ein Volk?
P O L I T I K GLOSSE