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Archiv "Der Arzt von Stalingrad: Projektionsfläche für die Suche nach dem guten Deutschen" (20.06.2008)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 25⏐⏐20. Juni 2008 A1385

T H E M E N D E R Z E I T

A

ls der Chirurg Dr. med. Ott- mar Kohler an Silvester des Jahres 1953 im Lager Friedland aus beinahe elfjähriger russischer Ge- fangenschaft heimkehrte, war er ein geachteter Mann: Er wurde am fol- genden Neujahrstag im Kölner Hauptbahnhof nicht nur von Konrad Adenauer, sondern auch von vielen ehemaligen Kriegsgefangenen freu- dig begrüßt. Sein Ruf war ihm vor- ausgeeilt als „Arzt von Stalingrad“, der Hunderte von Menschen in ver- schiedenen Kriegsgefangenenla- gern mit primitiven Hilfsmitteln vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Als im Jahr 1956 der Roman „Der Arzt von Stalingrad“ von Heinz G. Kon- salik erschien, war aller Welt klar, dass Ottmar Kohler das Vorbild für diese Geschichte darstellte. Obwohl Konsalik den Chirurgen Kohler vor dem Erscheinen des Romans nie ge- troffen hatte, sagte er über ihn: „Die- ser Mann war ein Held der Wirklich- keit, keine erfundene Romanfigur.“

Kohler selbst war niemals glück- lich über seine Verknüpfung mit der Romanfigur des Arztes von Stalin- grad. Er war kein Mensch für die öf- fentliche Bühne, er vergaß nicht die vielen anderen Ärzte, die in der Ge- fangenschaft Ähnliches wie er geleis- tet hatten. Im Juli 1954 erschien ein Bericht über Kohler in „Das Beste

aus Reader's Digest“, im gleichen Jahr in der „Münchner Illustrierten“

eine Fotoreportage mit dem Titel

„Ein Held der Menschlichkeit“, auch die in Florenz erscheinende

„Nazione Sera“ erzählte in einer Serie über die außergewöhnlichen Leistungen des Dottore dei miraculi.

Fremd im eigenen Land Trotz dieser Publizität und Anerken- nung war Kohler kein glücklicher Mensch. Die mehrfache Tragik seines Lebens besteht darin, dass er 1941 als junger Mediziner in einem Sanitäts- kommando der sechsten Armee in einem Vernichtungskrieg nach Russ- land marschierte, mehr als zehn Jahre in russischer Gefangenschaft verbringen musste und sich als Spät- heimkehrer fremd im eigenen Land fühlte. Er konnte an seinen Traum einer wissenschaftlichen medizini- schen Karriere nicht mehr anknüpfen;

vielmehr wurde er funktionalisiert für die Bedürfnisse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, indem er zur Projektionsfläche für die Suche nach dem guten Deutschen im Krieg an- gesichts der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gemacht wurde.

Die Medizin im Nationalsozialis- mus war durch Gestalten wie Karl Brandt und Josef Mengele, die Ste- rilisationspolitik und die „Euthana-

sie“-Aktion diskreditiert. Im Nürn- berger Prozess und im Buch Alexan- der Mitscherlichs (zusammen mit Fred Mielke) über die „Wissen- schaft ohne Menschlichkeit“ (1948) waren die Ärzte als allzu anfällig für die Ideologie des Nationalsozialis- mus entlarvt worden. Zwar wurde die fatale Rolle der Ärzte im Dritten Reich erst seit den 80er-Jahren durch weitere Forschungsarbeiten in ihrem ganzen Ausmaß offenkun- dig, doch deren Beteiligung an den unmenschlichen Experimenten in den Konzentrationslagern und der Tötung Geisteskranker war bereits in den 50er-Jahren zumindest in Fachkreisen Thema.

Nur vor diesem Hintergrund konnte die Idealisierung einer ärztli- chen Tätigkeit gelingen, die mit ar- chaischen Mitteln (Nähte mit Zwirn, Amputationen mit Metallsä- gen, Trepanationen mit normalen Handbohrern) heilte: die unpoliti- sche elementare handwerkliche Chirurgie blieb neutral gegenüber aller Barbarei, die Ärzten des Drit- ten Reiches durch kritische (Medi- zin-)Historiker angelastet wurde.

Der Schriftsteller Heinz G. Kon- salik hatte mit dem Ohr am Zeitgeist die Apologie der Medizin in der Zeit des Nationalsozialismus im Arzt von Stalingrad (1956) literarisch DER ARZT VON STALINGRAD

Projektionsfläche für die Suche nach dem guten

Deutschen

Für den Roman „Der Arzt von Stalingrad“

lieferte Ottmar Kohler (1908–1979) das Vorbild. Nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft

wurde er vielfach geehrt;

trotzdem fühlte er sich in der Nachkriegs-

gesellschaft nicht mehr zu Hause.

Foto:

Archiv Deutsches Ärzteblatt

Hohe Auszeich- nungen:

1954 wurde Kohler mit der Paracelsus- Medaille der deut- schen Ärzteschaft ausgezeichnet. Im selben Jahr verlieh ihm Bundespräsident Theodor Heuss das Bundesverdienst- kreuz.

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T H E M E N D E R Z E I T

entworfen. Die Medizin der Nach- kriegszeit interessierte sich nicht mehr für die unmenschliche Medi- zin der Jahre von 1933 bis 1945. Der immense Erfolg des Romans von Konsalik (später auch verfilmt mit O.E. Hasse und Mario Adorf), der mit der Realität der Kämpfe um die Wolgastadt wenig gemein hat, son- dern den Mythos von Stalingrad nur als Chiffre für das Grauen des Krie- ges aufnimmt, erklärt sich durch sei- ne groteske Botschaft: Die Überle- genheit der Deutschen zeigt sich trotz der Niederlage im Krieg in der moralischen Integrität und der über- legenen ärztlichen Heilkunst.

Ottmar Kohler wurde am 19. Juni 1908 in Gummersbach, einer Kreis- stadt im Oberbergischen Land, in ei- ne Familie mit ärztlicher Tradition geboren. Der Vater, ebenfalls Arzt mit gleichem Vornamen, starb einige Monate vor seiner Geburt. Kohler studierte in Rostock, Wien und Köln Medizin und bestand dort das medi- zinische Staatsexamen, war Mit- glied in der Münchener Burschen- schaft Cimbria. Mit seiner Doktorar- beit über Zwei oberbergische Ärzte und ihre Bedeutung für den Kaiser- schnitt wurde er an der Universität Köln promoviert. Am 27. Juni 1938 erhielt er von der Ärztekammer Rheinland die Facharztanerkennung im Fach Chirurgie.

Im September 1939 wurde Kohler zur 60. Infanteriedivision eingezo- gen und erreichte als Oberarzt der Reserve mit dieser Division nach Einsätzen in Polen, Frankreich und auf dem Balkan im Herbst 1942 Sta- lingrad, wo er im berüchtigten Kes- sel eingeschlossen und gefangen ge-

nommen wurde. Nach einem Heimat- urlaub im Dezember 1942 hätte er die Chance zum Verbleib in Deutsch- land gehabt; er kehrte in das Inferno zurück – er habe seine Kameraden nicht im Stich lassen wollen. Von Fe- bruar 1943 bis 1953 befand sich Kohler in russischer Gefangenschaft, verbrachte diese Zeit in insgesamt 13 verschiedenen Lagern, unter ande- rem in Jelabuga, Tarnowje, Solny, Dubowka. Er musste dort mit be- scheidensten Mitteln ärztlich tätig sein, besann sich auf mittelalterliche medizinische Methoden, diagnosti- zierte ohne Röntgenapparate nur mit klinischer Untersuchung. Kohler selbst litt während der Gefangen- schaft über 13 Tage an einer Fleck- fieberinfektion mit mehr als 40°C.

Im Jahr 1949 übertrug man ihm die ärztliche Leitung der Chirurgi- schen Abteilung des Zentralhospitals für Kriegsgefangene in Stalingrad.

Kohler hatte nach eigener Zählung während des Kriegs mehr als 600 Bauchschüsse, sehr viele Brust- und Schädelverletzungen und unzählige Extremitätenverletzungen unter wi- drigen Bedingungen ungewöhnlich erfolgreich operiert. Nach der vernich- tenden Niederlage der sechsten Armee bei Stalingrad gingen rund 90 000 deutsche Soldaten in Kriegsgefangen- schaft. Von diesen kehrten nur etwa 6 000 nach Deutschland zurück.

Um Jugendträume betrogen Obwohl Kohler an der Chirurgischen Universitätsklinik Köln wieder An- schluss an den Stand der medizini- schen Entwicklung im Nachkriegs- deutschland suchte, blieb ihm eine universitäre Karriere verschlossen.

Trotz Hartmann-Plakette (1978) und Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Chirur- gie (1979) fühlte er sich um seine Jugendträume betrogen. Ein Beitrag zu einem medizinischen Handbuch über Chirurgisch-orthopädische Beobachtungen und Erfahrungen im Krieg und in Gefangenschaft, in dem er seine Erkenntnisse der ele- mentaren Heilkunde niederlegen wollte, ist nie fertiggestellt worden.

Kohlers Mitgliedschaft im Bund der Stalingradkämpfer war durch christliche und pazifistische Inten- tionen motiviert, aber bei diesen Treffen war er als Redner vor allem deshalb gefragt, weil die Stalingrad- bünde durch das Aushängeschild ei- nes vermeintlich apolitischen und militärfernen Arztes nicht als revan- chistischer Kriegerverein verdäch- tigt werden wollten.

In der Korrespondenz Kohlers, die in seinem Nachlass im Landes- hauptarchiv Koblenz aufbewahrt wird, findet man zahlreiche Bittbriefe von ehemaligen Kriegsgefangenen, die im Nachkriegsdeutschland gegen die Versorgungsämter um die An- erkennung von Kriegsleiden (oft ver- geblich) kämpften. Häufig musste Kohler die Hilfegesuche abweisen, weil er sich an den Briefschreiber nicht mehr erinnern konnte oder gemäß der Beschreibung zur frag- lichen Zeit gar nicht in dem beschrie- benen Lager gewesen sein konnte.

In einem Brief vom 18. März 1968 kommt Kohlers tiefe Enttäu- schung über den Empfang der Kriegsteilnehmer in der bundesre- publikanischen Nachkriegszeit zum Ausdruck: „Das Fortgehen in Krieg und Gefangenschaft war sicher sehr schwer – aber das Zurückkommen war tausendmal schwerer.“

Am 27. Juli 1979, im Alter von 71 Jahren, verstarb Kohler unerwartet früh an den Folgen eines Schlagan- falls, nachdem er im März des glei- chen Jahres am Herzen operiert wor- den war. Beigesetzt wurde er in sei- nem Geburtsort Gummersbach. I Dr. med. Bernd P. Laufs M.A.

Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Dr.-Ottmar-Kohler-Straße 2 55743 Idar-Oberstein Literatur beim Verfasser

Foto:picture alliance/akg-images

Vernichtende Niederlage:

Von den 90 000 kriegsgefangenen deutschen Soldaten der sechsten Armee kehrten nur etwa 6 000 nach Deutschland zurück.

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 25⏐⏐20. Juni 2008

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