Europa 1993 und das
ärztliche Weiterbildungsrecht
Im Zusammenhang mit dem immer näher rückenden Ter- min der Realisierung des Gemeinsamen Europäischen Marktes zum 1. Januar 1993 mehren sich besorgte Stim- men zur Zukunft des ärztlichen Berufes in Deutschland vor dem Hintergrund des Vereinten Europa. Solche Sorgen sind hinsichtlich der Bezeichnungen des Weiterbildungs- rechtes nicht notwendig, ist doch der Gemeinsame Euro- päische Markt für Ärzte seit 15 Jahren Realität.
THEMEN DER ZEIT
DEUTSCHES ARZTEBLATT
Durch die Richtlinie des Rates der EG vom 16. Juni 1975, EG- Richtlinie 75/362/EWG, in der aktu- ellen Änderungsfassung vom 30. Ok- tober 1989, EG-Richtlinie 89/594/
EWG, über die gegenseitige Aner- kennung der Diplome, Prüfungs- zeugnisse und sonstigen Befähi- gungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Nieder- lassungsrechtes und des Rechtes auf freien Dienstleistungsverkehr wur- den die rechtlichen Voraussetzun- gen für den „europäischen Markt für Ärzte" geschaffen.
Die EG-Richtlinie legt zunächst fest, welche in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft er- worbene Bescheinigung über ein ab- geschlossenes Studium der Medizin Grundlage der Anerkennung in den Mitgliedsstaaten ist. Es werden hier zeitliche Mindestanforderungen an das Medizinstudium definiert, näm- lich sechs Jahre oder 5500 Stunden.
In Kapitel III. der Richtlinie werden die allen Mitgliedsstaaten gemeinsamen fachärztlichen Diplo- me, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des „Facharz- tes" aufgeführt.
Wesentlicher Grundsatz der EG-Richtlinie ist nicht, wie vielfach fälschlicherweise angenommen, die Harmonisierung von Inhalten einer Weiterbildung oder die Verände- rung der Struktur des nationalen Weiterbildungsrechtes, sondern le-
diglich die gegenseitige Anerken- nung national ausgestellter „Fach- arzturkunden", sofern diese eine Mindestvergleichbarkeit zulassen, die im wesentlichen durch eine nicht zu unterschreitende Mindestdauer der Weiterbildung definiert wird.
Dieses Prinzip soll die Migrations- freiheit des Arztes innerhalb der Eu- ropäischen Gemeinschaft sicherstel- len.
Diese Betrachtungsweise wird auch aus den einleitenden Bemer- kungen zur EG-Richtlinie 75/362/
EWG deutlich, indem der Rat als Begründung für die Richtlinie an- führt, daß in Anbetracht der zwi- schen den Mitgliedsstaaten beste- henden Unterschiede in bezug auf die Zahl der ärztlichen Fachrich- tungen und die Art oder Dauer der entsprechenden Weiterbildung be- stimmte Koordinierungsmaßnahmen vorgesehen werden müßten, damit die Mitgliedsstaaten Diplome, Prü- fungszeugnisse und sonstige Befähi- gungsnachweise gegenseitig aner- kennen können.
An anderer Stelle heißt es, daß die Richtlinie über die gegenseitige Anerkennung der Diplome nicht un- bedingt die sachliche Gleichwertig- keit der Ausbildungsgänge, die zu ei- nem solchen Diplom führen, zur Fol- ge hat.
Folgerichtig hat die U.E.M.S.
(Union Europ6enne des M6decins Sp6cialistes — Europäische Vereini- gung der Fachärzte) es sich zur Auf-
gabe gemacht, parallel zum Gedan- ken der Nostrifizierung von Urkun- den, die inhaltliche Harmonisierung der Weiterbildungen in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft vor- anzutreiben.
„Fachärztliche Diplome"
Die EG-Richtlinie 75/362/EWG in der gültigen Fassung unterschei- det zwei Gruppen von gegenseitig anzuerkennenden „fachärztlichen Diplomen". Das sind zum einen Di- plome, die in allen Mitgliedsländern der Gemeinschaft erworben werden können, nämlich in den Gebieten Anästhesiologie, Chirurgie, Neuro- chirurgie, Frauenheilkunde und Ge- burtshilfe, Innere Medizin, Augen- heilkunde, Hals-Nasen-Ohrenheil- kunde, Kinderheilkunde, Lungen- und Bronchialheilkunde (hier ist die Änderung der [Muster-]Weiterbil- dungsordnung in Deutschland durch die Beschlüsse des 90. Deutschen Ärztetages 1987 in Karlsruhe noch nicht durch die Europäische Ge- meinschaft umgesetzt), Urologie, Orthopädie, Pathologie, Neurologie und Psychiatrie.
In Kapitel IV. der EG-Richtlinie 75/363/EWG sind die in nicht allen, sondern nur in zwei oder mehr Mit- gliedsstaaten eingeführten Befähi- gungsnachweise für den „Facharzt"
aufgeführt. Hieraus kann nicht ge- schlossen werden, daß eine „Fach- arztbezeichnung", die in zwei oder mehreren Mitgliedsstaaten der Eu- ropäischen Gemeinschaft, jedoch nicht bei uns existent ist, in Deutsch- land eingeführt werden muß. Es be- steht lediglich die Verpflichtung der Länder, in denen eine gleichartige Bezeichnung eingeführt ist, durch Ärzte erworbene Bezeichnungen in diesen Ländern untereinander anzu- erkennen.
Durch diese Regelungen des EG-Rechtes ist zum einen sicherge- stellt, daß in Deutschland erworbene Gebietsbezeichnungen in den EG- Mitgliedsstaaten umschreibungsfä- hig sind, in denen eine gleichartige Bezeichnung existiert. Zum ande- ren wird verhindert, daß sich Ärzte mit einer Gebietsbezeichnung in Deutschland anerkennen lassen kön- Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990 (21) A-3809
nen, die bei uns nicht besteht. So kann sich ein Kollege aus Irland mit der dort erwerbbaren Bezeichnung
"Ansteckende Krankheiten" (Com- municable diseases) in Deutschland nicht als "Arzt für Infektionskrank- heiten" betätigen.
Auch das Führen einer ähnli- chen Bezeichnung, wie etwa Innere Medizin, wäre unstatthaft, da eine Bezeichnung nur nostrifiziert wer- den darf, wenn sie tatsächlich ver- gleichbar ist und eine Urkunde hier- über vorgelegt werden kann.
Andererseits kann ein deutscher Arzt für Kinder- und Jugendpsych- iatrie im Vereinigten Königreich sei- ne Gebietsarzturkunde in die dortige Bezeichnung "Child- and Adolescent Psychiatry" umschreiben lassen, da Weiterbildung und Urkunde in bei- den Ländern einander entsprechen.
Die Bezeichnung "Kinder- und Ju- gendpsychiatrie" wäre hingegen in Spanien nicht umschreibungsfähig, da ein Arzt für Kinder- und Ju- gendpsychiatrie nicht im nationalen spanischen Arztrecht eingeführt ist.
Durch die EG-Richtlinie 86/457/
EWG vom 15. September 1986 wur- den Regelungen über eine spezifi- sche Ausbildung in der Allgemein- medizin eingeführt, die den Zugang des Arztes zum Sozialversicherungs- system von der Erfüllung von Min- destvoraussetzungen abhängig ma- chen, soweit er nicht als Facharzt tä- tig wird.
Die Umsetzung der EG-Richtli- nie "Allgemeinmedizin" erfolgt über gesetzliche Regelungen der Bundes- länder.
Somit können wir, soweit es das ärztliche Weiterbildungsrecht an- geht, dem Binnenmarkt mit Gelas- senheit entgegensehen. Nationale Weiterentwicklungen unseres Wei- terbildungsrechtes können jederzeit unter den genannten Voraussetzun- gen in das Recht der Europäischen Gemeinschaft eingebracht und so deutsche Interessen gewahrt werden. Ebenso besteht Schutz durch das EG-Recht gegen die Migration von Ärzten nach Deutschland mit Arzt- bezeichnungen, die nicht unserem Weiterbildungsrecht entsprechen.
Dr. med. Peter Knuth Herbert-Lewin-Straße 1 W-5000 Köln 41
Kassenärztliche Vereinigungen
AOK-Emährungsberatung als Pilotprojekt
ndtZukunftschancen
Immer mehr Kassenärztliche Vereinigungen gehen in der Präven- tion neue Wege: Nach Hessen und Niedersachsen hat nun auch Harn- burg eine Vereinbarung mit der All- gemeinen Ortskrankenkasse über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Ernährungsberatung geschlos- sen. Ein "Pilotprojekt mit Zukunfts- chanchen", wie Hamburgs KV-Vor- sitzender Dr. Klaus Voelker in ei- nem Brief an alle Kassenärzte der Hansestadt betont.
Noch ein Schritt vor der Früherkennung
Die Ernährungsberatung, so der Leitgedanke der Vereinbarung, setzt noch vor den bislang üblichen For- men der Früherkennung von Krank- heiten ein. Gleichzeitig ebnet sie den Weg zu einer sinnvol~~n Zusammen- arbeit zwischen den Arzten als erste Ansprechpartner in Fragen von Ge- sundheit und Krankheit und qualifi- zierten Experten der Krankenkasse.
Im Praxisalltag soll das Verfahren so aussehen:
..,.. Stellt der Kassenarzt bei der Untersuchung oder Behandlung ei- nes (AOK-versicherten) Patienten ernährungsbedingte Risikofaktoren für drohende Krankheiten fest, soll er den Patienten mit dem Ziel einer Verhaltensänderung beraten. Glei- ches gilt auch bei bereits manifesten Krankheitssymptomen, die durch das Ernährungsverhalten bedingt sein können.
..,.. Der Kassenarzt kann in allen indizierten Fällen eine gezielte Er- nährungsberatung auf einem eigens dafür entwickelten Formular verord- nen, die von Ökotrophologinnen und Diätassistentinnen der AOK durch- geführt wird. Der Zustand des Pa- tienten soll dabei in einer Kurzdia-
gnose ebenso festgehalten werden wie die Diätverordnung.
..,.. Von der AOK erhält der Arzt einen Kurzbericht über die durchgeführten Ernährungsberatun- gen.
Die Erstberatung durch den Arzt genießt in der Vereinbarung zwischen KV und Kasse einen hohen Stellenwert. Einmal, weil nur auf- grund einer ärztlichen Untersuchung entschieden werden kann, ob und in welchem Umfang eine Diät sinnvoll ist. Zum anderen kann niemand bes- ser den Patienten zu einer gezielten Beratung und - falls dies erforder- lich ist - konsequenten Umstellung der Ernährungsgewohnheiten moti- vieren als der behandelnde Arzt.
Honorar außerhalb des "Topfes"
Bemerkenswert ist auch die ver- einbarte Vergütung. Für die motivie- rende Beratung eines AOK-Versi- cherten und die Ausstellung einer Verordnung erhält der Arzt insge- samt 23,50 DM, für die weitere Bera- tung nach Wiedervorstellung des Pa- tienten 11 DM. Die Beratungslei- stungen werden auf dem normalen Behandlungsschein abgerechnet, und zwar außerhalb des "Honorar- deckels". Sie unterliegen auch nicht der Wirtschaftlichkeitsprüfung und können ohne Rücksicht auf andere kassenärztliche Leistungen am glei- chen Tage abgerechnet werden .
Möglich wurden diese Vereinba- rungen übrigens durch das Gesund- heits-Reformgesetz, das in § 20 die Krankenkassen auffordert, bei Maß- nahmen zur Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung mit den Kassenärztlichen Vereinigungen zu-
sammenzuarbeiten. JM
A-3810 (22) Dt. Ärztebl. 87, Heft 48, 29. November 1990