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Archiv "Auch mit Neunzig hat man nicht ausgelebt . . ." (14.08.1975)

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen FEUILLETON

Auch mit Neunzig

hat man nicht ausgelebt . . .

Wenn man kurz vor dem 90. Le- bensjahr steht, richtet sich der Blick gern rückwärts, man blättert sozusagen in seinem Hirnkastl. Ich will nicht von den tragischen Zeit- erlebnissen berichten, sondern nur ein ganz belangloses, ja bana- les Erleben schildern.

Plötzlich wie aus heiterem Himmel bekam ich eines Tages heftige Sei- tenschmerzen, und bald entwickel- te sich ein wohlausgebildeter Her- pes zoster. Ich unterbrach meine Tätigkeit nicht (ich war Leiter einer neurologisch-psychiatrischen Ab- teilung des staatlichen Gesund- heitsdienstes der DDR), aber die Schmerzen wollten bei der ambu- lanten Behandlung nicht weichen, und da diese bei älteren Patienten (ich ging bereits auf das 80. Le- bensjahr zu) gelegentlich über- haupt nicht mehr schwinden, ent- schloß ich mich zu einer stationä- ren Behandlung.

Ich gestehe offen, ich hatte wenig Vertrauen, als ich durch die düste- re Pforte eines Bezirkskrankenhau- ses schritt. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn über dem Ein- gang die berühmten Worte Dantes gestanden hätten: Lasset alle Hoff- nung fahren, die ihr hier eintretet.

Ich wurde gewogen und zu leicht befunden, Kummerspeck hatte ich also nicht angesetzt. In meiner kleinen Klause angekommen, blickte ich auf einen etwas verwil- derten Park, in dem Rabenkrähen horsteten, die sonst ausgeprägte Waldvögel sind. Sie gelten beim Volk als Todesverkünder. Ich sagte mir: ohne mich, war also doch nicht ganz desolat, obwohl der Zo- ster vielfach eine gewisse psychi- sche Alteration im depressiven Sinn bedingt.

Sehr früh am nächsten Tag er- schien ein junger Mann, beklopfte, beschnarchte und betastete mich

innen und außen, versuchte mei- nen Arm abzubinden, was nicht ge- lang. Dann entwickelte sich folgen- des Zwiegespräch. Er: Haben Sie Krankheiten durchgemacht? Ich:

Naa (wenn ich aufgeregt bin, ist mein Hochdeutsch mangelhaft). Er:

Ist die Familie gesund? Ich: Mir san a oite Rass, mei siem Geschwistera san olle über achtzge worn. Da verneigte er sich stumm und ver- schwand.

Zu essen bekam ich nichts. Nach Stunden kam ein untersetzter Mann mit einem martialischen Schnurrbart. Er winkte mir, und wir schritten über lange Korridore, bis wir in ein kleines Gelaß kamen.

Hier fielen sadistische Vampire in Gestalt junger Mädchen über mich her, stachen mich und saugten mir Blut ab. Mir wurde ganz schwach, ich war einer Ge- hirnanämie nahe. Aber noch recht- zeitig unterbrach der Martialische die grausame Szene, und nun ging es Stiegen auf und Stiegen ab, bis wir in einem großen Maschinensaal landeten. Hier sah ich gleich in der Mitte des Raums eine mächtige Guillotine, schon kam ein Henkers- knecht, ich mußte mich ausziehen und unter das Fallbeil legen. Ein solches war jedoch gar nicht zu sehen, vielmehr bewegte sich lang- sam ein schwerer Stahlkörper ab- wärts, um mich zu zerquetschen.

Aber plötzlich trat eine Hemmung ein, dicht vor meinem Leib, ich hörte Kommandorufe, der Koloß stieg wieder nach oben. Aber noch gaben sie nicht auf, ich wurde um- gedreht und fühlte, wie der gefähr- liche Apparat wieder näher kam, doch abermals kam es zur Stok- kung, und heil kroch ich wieder herunter.

Nun führte mich der Martialische hinab in ein Kellergewölbe. Ich

konnte eine elektrische Anlage gleich einer amerikanischen elek- trischen Hinrichtungsmaschine er- kennen. Ein blasser Scharfrichter waltete hier seines Amtes, ich mußte mich hinlegen, Elektroden wurden angebracht und der Strom eingeschaltet. Aber ich fühlte nichts, ich weiß, ich habe ein dik- kes Fell, ich bin wohl hürnern wie weiland Siegfried selig.

In meinem Zimmer fand ich nun ein reichliches Mahl vor, aber der Ap- petit war mir vergangen. Am näch- sten Morgen besuchte mich eine Dame, stark und groß wie ein Schrank. Sie hatte rötliche Haare, und wenn die Sonne darauf schien, flammten sie feurig auf.

Ich mußte den Oberkörper entblö- ßen, und sie bearbeitete meinen Rücken, ich dachte, sie zerbricht mir das Kreuz. Sie betreiben wohl Chiropraktik, fragte ich; das ist Segmentmassage, sprach sie scharf und dann: Morgen komme ich wieder. Das war ja tröstlich.

Es dauerte wieder Stunden, dann erschien der Herr Professor mit sei- nem Stab. Die Oberschwester sprach: Die Prostate (sic) ist in Ord- nung. Der Professor studierte ein- gehend alle Berichte, und dann sagte er mit einer gewissen Feier-

lichkeit: im Hinblick auf das Alter sind alle Untersuchungsergebnisse phantastisch.

Ich knickte zusammen, da hatte ich es nun von autoritativer Seite: Ich bin ein Phantast, ein Versager, ich hab' alles verkehrt gemacht; statt die Synopsen meiner Patienten zu untersuchen, hab' ich nach den Ar- chetypen gefischt. Da stand ich nun, ich armer Tor, kein Gott konn- te mir helfen.

Mein Wille war gebrochen, wider- standslos unterzog ich mich einer Intensivkur, in drei Wochen war ich schmerzfrei. Bei der Entlassung wurde ich wieder gewogen, ich hatte noch 2,5 kg abgenommen, bei den Aufregungen kein Wunder.

Aber es ging auch so weiter, alt werden ist leicht, aber das Alter er-

2328 Heft 33 vom 14. August 1975

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Arzt — und Poet dazu

Franz Jost

Justus, der Arzt

Schlägt manchmal ganz aus der Art Dazu noch als bestallter Psychiater Benimmt er sich oft wie im Theater

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

tragen ist schwer, sagt Goethe.

Der Herrgott will mich nicht, dem Urian hab' ich meine Seele nicht verschrieben, also muß ich wie Ahasver weiterleben in dem Laby- rinth der Zeit.

Nachsatz: So ist es, wenn der Spieß umgedreht wird! Wenn der großmächtige, selbstsichere Herr Doktor zu einem ohnmächtigen,

verunsicherten Patienten umge- wandelt ist. Das Hintergründige klingt gespenstisch an. Grabbe hat diese Symbolik mit Selbstverspot- tung dichterisch gestaltet in:

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung.

Sanitätsrat Dr. L. Alefeld 845 Amberg/Opf.

Behaimstraße 1

Aber — Ergebnis dieser Trostlosig- keit? — dazwischen einige zusam- menhängende Strophen über das Wirken als Psychiater, über die Neid weckenden Erfolge des Psych- iaters Justus, bescheiden den Therapie-Erfolg dem „Wirken hö- heren Seins" zuerkennend — ein verhaltener Triumph des schwer- mütigen und verlassenen Justus:

Er hat die Gnade des Heilens.

Dr. med. Edith Engelke

Medicus curat, natura sanat

Ein schwermütiger Österreicher, Psychiater, der zur Zeit an der Psych- iatrischen Klinik Beverin in der Schweiz arbeitet. Er wurde am 2.

Oktober 1919 als Bauernsohn in Kärnten geboren, besuchte das Hu- manistische Gymnasium in Klagen- furt, erlebte von 1940 bis 1948 Krieg und Gefangenschaft und wurde da- nach Arzt, speziell Psychiater.

Die kleine private Zusammenstel- lung seiner Gedichte ist geprägt von Schwermut. Einige Überschrif- ten: Abschied, Schatten, Depres- sion, Not, Grenzenlos allein, Trau- rigkeit, Untergang des Individuums Justus. Sie sind typisch. Die Form der Strophen ist streng — der In- halt: Klage, Trauer, Hoffnungslo- sigkeit. Wenn man versucht ist, dies als Miterleben des Psychiaters zu deuten, wird man dort eines Besseren belehrt, wo der Autor von seiner eigenen Person als von „Ju- stus" spricht, etwa in „Justus' letz- te Stilblüten":

Justus' Gedanken schwarz und schwer Die Gefühle dunkel und leer —

Da ist zum Beispiel das Gedicht:

„Abschied", acht Strophen, fünfzei- lig, deren jede mit „Abschied" be- ginnt:

Abschied

Schlimmer als der Tod Von der Liebsten verlassen Ärger als Leben ohne Gott Ohne Liebe — allein gelassen Abschied

Die Hölle auf Erden

Im Leben die Liebe vermissen Mit Leiden und Schmerzen Aufs Sterben warten. müssen Da sind die zwölf Vierzeiler über Depression, geradezu ein Schwel- gen in immer neuen Variationen zum Thema, eine umfassende psychiatrische Studie:

Schwer, dunkel und verhangen der Blick Traurig düster der Ausdruck Schlaff die Gestalt und ohne Ge-

sicht Kraftlos, gedrückt und geduckt ...

Sterben-Wollen und Nicht-leben- Können Zusammengeschlagen

Reduziertes Leben ohne Gönnen Dahinvegetierend, beraubt der

Ideale . . Grenzenlose Einsamkeit

Endlose Müdigkeit Totale Wertlosigkeit Völlige Verlassenheit ...

Justus' Diagnosen und Prognosen Ergebnis erstaunlicher Kombino- sen Stimmen fast immer wie eine Num- mer Wenn sie auch bewirken manchen Kummer ...

Der therapeutische Erfolg beruht auf Weisheit Auf Geschick, Takt, Fleiß und Rüh- rigkeit Einfühlung, Begegnung und Menschlichkeit...

Dann kommst du zur Einsicht des weisen Sokrates Zu wissen, daß du nichts weißt

Du lernst: bescheiden und behut- sam sein Erfassen das haltende innere Sein Erkennen den äußeren Schein ...

Du lernst: Zu erkennen den thera- peutischen Erfolg Als Wirken anderen (höheren) Seins Als Gnade, ein Geschenk, ein er- leuchtender Dialog Als Akt der Natur und der Zeit — unseres Seins

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 33 vom 14. August 1975 2329

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