Deutsches Ärzteblatt
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7. Januar 2013 11M E D I Z I N
DISKUSSION
Ärzte stärker sensibilisieren
In Zeiten von Kontroll-, Anspruchs- und Perfektionis- muszwängen im Reich der unbegrenzten Möglichkei- ten wird fast jede Schwangerschaft zu einer Krise mit oft großen Latenzzeiten bis Erschöpfung und Ambiva- lenz integriert oder gelöst werden. Auf diesem Weg fin- den sich Symptome wie die Hyperemesis, vorzeitige Wehen, Hochdruck, Wehendystokie, Still- und Bin- dungsstörungen und eben mitunter auch eine Depressi- on. Letztere muss nicht der Oberbegriff sein, selbst wenn Ambivalenz immer auch ein depressives Moment beinhaltet.
Unabhängig davon teile ich die Überlegungen zu möglichen Strategien: Gynäkologen und Hebammen müssen noch mehr sensibilisiert werden, Ambivalenzen anzusprechen, zu erkennen und der richtigen Behand- lung zuzuführen. Hierzu eignen sich auch Netzwerke zur Betreuung psychosozial belasteter Elternschaft (siehe zum Beispiel www.mutterkindgesundheit.de).
Der hohen Prävalenz wird gerade in der Frauenheilkun- de durch die Verpflichtung zum Erwerb der psychoso- matischen Grundversorgung Rechnung getragen. Dies sollte im Übrigen im Weiterbildungskatalog jedes klini- schen Faches berücksichtigt werden! Die DGPFG bie- tet nicht nur bundesweit Curricula zur psychosomati- schen Grundversorgung an, sondern vermittelt auch fachgebundene Psychotherapie und psychosomatische Fortbildung für Hebammen und Psycholog/Innen
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0011a
LITERATUR
1. Hübner-Liebermann B, Hausner H, Wittmann M: Recognizing and treating peripartum depression. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(24):
419–24.
Dr. med. Wolf Lütje
Frauenklinik ev. Amalie Sieveking Krankenhaus Hamburg Vizepräsident DGPFG (Deutsche Gesellschaft für Pychosomatische Geburtshilfe und Geburtshilfe)
wluetje@googlemail.com
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Somatische Ursachen vergessen
Die Autoren gehen in der Beschreibung der Ursachen auf psychopathologische und psychosoziale Ursachen ein, unterlassen es aber ganz, auch somatische Ursa-
chen für diese Erkrankung zu nennen. Neben sehr sel- tenen endokrinen Erkrankungen wie dem primären Hyperparathyreoidismus oder einem endogenen Hy- perkortisolismus stellt die Postpartum-Thyreoiditis ei- ne klinisch relevante Störung dar, die mit Symptomen einer Depression einhergehen kann. Bei 5 bis 7 % al- ler Geburten kommt es weltweit zur autoimmun be- dingten postpartalen Thyreoiditis mit höheren Inzi- denzen bei Frauen mit vorbestehend nachweisbaren Schilddrüsenantikörperwerten. Die Erkrankung be- ginnt meist im dritten bis vierten postpartalen Monat.
25–30 % der Frauen entwickeln Funktionsstörungen der Schilddrüse, meist eine Hypothyreose, seltener zu Beginn eine spontan abklingende Hyperthyreose.
Nicht nur Patientinnen mit Funktionsstörungen wei- sen klinische Symptome auf, auch Patientinnen mit Euthyreose fühlen sich im Vergleich mit gesunden Kontrollen schlechter. An endokrine Ursachen einer postpartalen Depression sollte gedacht werden, da gu- te therapeutische Möglichkeiten bestehen.
DOI: 10.3238/arztebl.2013.0011b
LITERATUR
1. Lazarus JH: Clinical manifestations of postpartum thyroid disease.
Thyroid 1999; 9: 685–9.
2. Stagnaro-Green A: Approach to the patient with postpartum thyroidi- tis. J Clin Endocrinol Metab 2012; 97: 334–42.
3. Pilhatsch M, Marxen M, Winter C, Smolka MN, Bauer M: Hypothyroi- dism and mood disorders: integrating novel insights from brain ima- ging techniques Thyroid Res. 2011; 4(Suppl 1): 3.
4. Hübner-Liebermann B, Hausner H, Wittmann M: Recognizing and treating peripartum depression. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(24):
419–24.
Priv.-Doz. Dr. med. Joachim Feldkamp
Klinik für Allgemeine Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie, Pneumologie und Infektiologie, Klinikum Bielefeld
Joachim.Feldkamp@klinikumbielefeld.de
Prof. Dr. med. Matthias Schott
Klinik für Endokrinologie und Diabetologie, Rheumatologie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Evidenz darstellen
Es ist wichtig, dass die vorhandene, zu diesem Thema naturgemäß begrenzte Evidenz aus kontrollierten Stu- dien umfassend dargestellt wird. Vor diesem Hinter- grund sollte eine randomisierte, kontrollierte Studie von Wisner et al. (1) erwähnt werden, in der 22 schwangere, nichtdepressive Patientinnen mit jedoch mindestens einer postpartalen depressiven Episode in der Anamnese im Sinne einer Tertiärprophylaxe unmit- telbar post partum für 20 Wochen mit Sertralin (initial 25–50 mg, Ziel 75 mg) behandelt wurden. Ein Rezidiv erlitten 1 von 14 Patientinnen unter Sertralin gegenüber zu dem Beitrag
Peripartale Depressionen erkennen und behandeln
von Dr. rer. medic. Bettina Hübner-Liebermann, Dr. jur. Helmut Hausner, Dr. med. Markus Wittmann in Heft 24/2012
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4 von 8 Patientinnen unter Placebo; der Unterschied war statistisch signifikant.
Trotz methodischer Mängel der Studie (kleine Fall- zahl, fehlende Kontrolle für die Anzahl depressiver Episoden) sollte bei entsprechender Vorerkrankung schwangerer Patientinnen auch eine medikamentöse Prophylaxe erwogen werden. Das Rezidivrisiko bei er- neuter Schwangerschaft nach stattgehabter postpartaler Depression ist mit 25 % oder mehr hoch (2). Gleichzei- tig geht Sertralin laut Embryotox-Datenbank (3) allen- falls in Spuren ins kindliche Plasma über. Im Sinne ei- ner Nutzen-Risiko-Abwägung scheint eine prophylak- tische Behandlung mit Sertralin daher als vertretbare Option. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0011c
LITERATUR
1. Wisner KL, Perel JM, Peindl KS, Hanusa BH, Piontek CM, Findling RL:
Prevention of postpartum depression: a pilot randomized clinical trial.
Am J Psychiatry 2004; 161: 1290–2.
2. Wisner KL, Perel JM, Peindl KS, Hanusa BH, Findling RL, Rapport DJ:
Prevention of recurrent postpartum depression: a randomized clinical trial. J Clin Psychiatry 2001; 62: 82–6.
3. www.embryotox.de/sertralin.html; last accessed on 20.06.2012 4. Hübner-Liebermann B, Hausner H, Wittmann M: Recognizing and
treating peripartum depression. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(24):
419–24.
Dr. med. David Zilles
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie
david.zilles@med.uni-goettingen.de
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Oxytocinspiegel entscheidend
Die Ursachen, die zur postnatalen Depression führen, bilden ein Geflecht von körperlichen, hormonellen, biochemischen, psychischen, sozialen und gesellschaft- lichen Einflüssen. Daraus ergibt sich, dass eine erfolg- reiche Behandlung alle diese Faktoren mit berücksich- tigen und in das Behandlungskonzept mit einbeziehen muss.
Es sollte aber ergänzt werden, dass Oxytocin eine wichtige Bedeutung über die ganze Phase von Schwan- gerschaft, Geburt und Wochenbett hat. Ein niedriger Oxytocin-Spiegel in den letzten vier Schwanger- schaftsmonaten scheint mit einem erhöhten Risiko ver- bunden zu sein, in den ersten zwei Wochen nach der Geburt Symptome einer Wochenbettdepression zu ent- wickeln. Ein gutes Bonding nach der Geburt, wie es Standard in zertifizierten „Babyfreundlichen Kranken- häusern“ ist (www.babyfreundlich.org), erhöht den Oxytocin-Spiegel. Bei stillenden Frauen sind sowohl der Oxytocin- als auch der Prolaktinspiegel höher, Stil- len führt dadurch zu einer Verminderung der physiolo- gischen Stressreaktionen (1, 3).
Die wenigsten Veröffentlichungen ziehen die Unter- scheidung zwischen nicht stillenden und stillenden Müttern in Betracht. Aufwendige Diskussionen über
den Einfluss schwankender Hormonspiegel ignorieren die Laktation und die möglichen Schutzmaßnahmen der Natur durch hohe Prolaktin- und Oxytocinspiegel während der Stillzeit (1, 3).
Stillprobleme können ein Hinweis auf eine postpar- tale Depression sein. Auch eine Hypothyreose ist mit starkem „Baby Blues“ oder Müdigkeit verbunden, zu- sätzlich mit mangelnder Milchbildung und sollte eben- falls ausgeschlossen werden (1).
Bezüglich der Pharmakotherapie sollte auf die 8.
Auflage aus 2012 „Arzneimittel in Schwangerschaft und Stillzeit“ von Schaefer et al. aufmerksam gemacht werden. Ebenfalls sollte darauf hingewiesen werden, dass ein medikamentöses Abstillen mit Prolaktinhem- mern Depressionen verstärken kann und deshalb unbe- dingt zu vermeiden ist. Sollte ein Abstillen notwendig sein, ist das physiologische Abstillen ohne Medikamen- te zu bevorzugen (2). DOI: 10.3238/arztebl.2013.0012a
LITERATUR
1. Lawrence R: Breastfeeding. A Guide for the Medical Profession. 7th edition Maryland heights, Missouri: Elsevier, Mosby, Inc., 2011.
2. Schaefer C, Spielmann H, Vetter K, Weber-Schöndorfer C: Arzneimit- tel in Schwangerschaft und Stillzeit. 8th edition. München: Urban und Fischer 2012.
3. Uvnas-Moberg K: The Oxytocin factor: Tapping the hormone of calm, love, and healing. Cambridge: Da Capo Press 2003.
4. Hübner-Liebermann B, Hausner H, Wittmann M: Recognizing and treating peripartum depression. Dtsch Arztebl Int 2012; 109(24):
419–24.
Gudrun von der Ohe Ärztin, Hamburg Postfach@stillberatung.info
Interessenkonflikt
Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Stoffwechselentgleisung in Betracht ziehen
Eine seltene, mitunter sehr eindrucksvolle Ursache ei- ner peripartalen Depression kann ein Ornithin trans - carb amylase (OTC)-Mangel bei der Mutter sein. Es handelt sich um eine X-chromosomal vererbte Stoff- wechselstörung im Harnstoffzyklus. Während männli- che Patienten meist schwer betroffen sind, sind die Symptome bei hemizygoten weiblichen Patienten häu- fig sehr mild. Die Patientinnen haben häufiger Kopf- schmerzen und Konzentrationsschwäche, durch Stress – wie Schwangerschaft und Geburt – kann es zu meta- bolischen Entgleisungen kommen, begünstigt durch ei- ne katabole Stoffwechsellage. Dies kann sich als De- pression oder Psychose äußern.Diagnostizieren lässt sich diese Stoffwechselstörung durch Messung des Ammoniakwertes im Blut, der deutlich erhöht ist. Auch die Orotsäure im Blut/Urin ist typischerweise erhöht.
Bei dieser Sonderform der peripartalen Depression steht eine kausale Behandlung zur Verfügung: Die The- rapie besteht in der Zufuhr von Glukose/Fett, um eine anabole Stoffwechsellage herbeizuführen, Substitution