FEUILLETON
Spiegelbild des
alten
Menschen
Anmerkungen
zu Zeichnungen und Radierungen von Rolf Escher
Hartmut Kraft
An unsere Zeit gebundene Aspekte des Alterns, die zweifellos als ne- gativ und desillusionierend zu be- zeichnen sind, hat der Zeichner und Radierer Rolf Escher in den letzten Jahren in seinen Arbeiten mehrfach aufgegriffen.
Escher wurde 1936 in Hagen in Westfalen geboren, studierte Kunst an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf sowie Germanistik in Köln. Er lebt in Essen, wo er an einem Gymnasium Deutsch und Kunst unterrichtet.
Rolf Escher: „Portrait Frau Th."
Zeichnung 1975
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
DEUTSCHES ÄRZTE BLATT Heft 28 vom 8. Juli 1976 1905
Drei Zeichnungen von Rolf Escher: „Ausblick", 1972 (oben) — „Die Vergessene", 1973 (Mitte) — „Die Schwestern", 1972 (unten)
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Rolf Escher
Die Zeichnung „Die Vergessene"
ist eine der erschütterndsten aus seiner Serie von Darstellungen al- ter Menschen. Auf einem Sofa liegt eine hagere Frau, sie hat das Ge- sicht zur Wand gewendet. Zu sehen und zu erkennen ist nur wenig von ihr.
Vielleicht aber haben Nachbarn und Bekannte von ihr auch sonst nicht viel mehr wahrgenommen.
Putz blättert von den Wänden, die Holzbohlen sind morsch, teilweise eingebrochen.
Ob dieser Mensch noch lebt oder schon tot ist, wird die Umwelt wohl erst erfahren, wenn Verwesungs- geruch aus dieser isolierten Einöde hinausdringt, die Nachbarn zu stö- ren beginnt.
Der Blick der alten Dame in „Por- trait Frau Th." scheint durch den Betrachter hindurchzugehen, sie will oder kann keinen Kontakt auf- nehmen. Plaziert in der Ecke eines hohen Raumes, drängen sich Asso- ziationen wie „in die Ecke gestellt"
oder „in eine Ecke gedrängt" gera- dezu auf.
Dem entspricht auch die so rand- ständige Präsentation dieser Frau als „Hauptfigur" des Bildes. Das Zentrum des Bildes besteht aus leeren Flächen. Aber sind es nur real leere Flächen oder nicht auch Spiegelungen des inneren Zustan- des dieser alten Frau?
Wenn auf den Zeichnungen Eschers der Geschehensraum durch ein Fenster oder eine Türe den Blick freigibt in die Außenwelt („Die Schwestern", „Ausblick"), er- scheint dies meist wie eine Spiege- lung der inneren Perspektive die- ser Menschen: vor einer schwar- zen Fläche wird der Blick ins Nichts gesaugt; diese Ausblicke wirken trostlos, weisen in eine Dunkelheit, in eine Nacht, die keine Hoffnung auf einen neuen Tag macht.
Die Menschen auf Eschers Zeich- nungen haben nichts zu tun, aber sie sind weit entfernt davon, Muße
1906 Heft 28 vorn. 8. Juli 1976 DEUTSCHES ÄRZTE BLATT
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
zu haben. Ihr Blick gleitet teil- nahmslos über die schon fast ent- leerte Umwelt, ein paar verstaubte Requisiten von einst. Diese Men- schen existieren in den Zeichnun- gen wie die Dinge, die sie umge- ben. Sie sind ebenso funktionslos, so requisitenhaft, so vergessen wie die Koffer, das am Boden liegende Tuch. Und über allem die Frage:
Wie lange noch? Es sind Szenen des Umbruchs, des Auszugs, der An- oder Abreise, die diese Men- schen über sich ergehen zu lassen scheinen.
Auch wenn Menschen dargestellt sind, scheint es sich bei Eschers Arbeiten um Stilleben zu handeln.
Jedes einzelne Teil auf diesen Bil- dern könnte, für sich genommen, vollkommen belanglos 'sein, über- gangen werden. Die Zuordnung und Anordnung aber verleiht den einfachen Dingen eine neue Di- mension. Daß Escher im scheinbar Nebensächlichen das eigentlich Wesentliche sichtbar und die toten, belanglosen Gegenstände zu be- redten Zeugen macht, weist ihn als großen Künstler aus.
Eschers Arbeiten laden zum Nach- denken, zum Verweilen, zum Lite- rarisieren ein. Die großen leeren oder nur wenig strukturierten Flä- chen erscheinen manchmal wie Einladungen, alle Gedanken und Assoziationen auf ihnen abzuladen.
Dies um so mehr, als „eigentlich gar nichts passiert" auf diesen Bil- dern.
Escher läßt dem Betrachter viel Freiraum. Der Bildausschnitt er- scheint häufig wie verrutscht, das Wesentliche erobert selten die Mit- te des Bildes, eher erscheint es am Rande. Es gibt sogar Bilder, da scheint das eigentlich zu erwarten- de Sujet abwesend zu sein, wie der Täter am Tatort, wenn die Polizei eintrifft.
Escher zeichnet und radiert die Gegenstände und Menschen seiner unmittelbaren Umgebung. Sie sind so getreu abgebildet, daß man bei einem Besuch in seinem Atelier sich in einer scheinbar altbekann-
Rolf Escher
ten Umgebung wiederfindet. Trotz dieser „sensorischen", an der Rea-
lität und Dinghaftigkeit orientier- ten Arbeitsweise, ist Escher doch ein ausgesprochen „imaginativer"
Künstler. Beide Komponenten, so- wohl die sensorische als auch die imaginative, von H. Kühn als die beiden wesentlichen gegensätzli- chen Kunststile herausgestellt, ge- hen in Eschers Arbeiten eine fast gleichgewichtige Verbindung ein.
Es kommt nur selten vor, daß ein derartig auf Detailgenauigkeit ver- sessener Künstler so wie Escher gleichzeitig in der Lage ist, die Realität zu transzendieren, das erahnen zu lassen, was sich unter der Oberfläche verbirgt.
Sicherlich ist es nur ein Aspekt des Alterns, der von Escher herausge- griffen wird, aus welchen intellek- tuellen und emotionalen Gründen auch immer. Seine Bilder sind aber Bestandsaufnahmen der Lebenssi- tuation einzelner Menschen, die si- cherlich nicht als krasse Ausnah- men gelten können. Viele Broschü- ren und sonstige Aktivitäten versu- chen, in ansprechenden, „jugendli- chen" Farben und Formen die älte- ren Mitbürger zu re-aktivieren, zu einem erfüllten, zufriedenen Le- bensabend zu verhelfen.
Mancher dieser älteren Menschen kann sich aber mit dieser vorge- führten schönen Alterswelt nicht identifizieren. Zu weit ist sie von seiner erlebten Realität entfernt.
Eschers Arbeiten lösen demgegen- über ein Erschrecken aus. Statt ei- nes lockenden Zieles wird innere Realität schonungslos dargelegt, ein Erschrecken durch Authentizi- tät. In einem Spiegel dieser Art könnte der Wunsch nach Verände- rung vielleicht eher geboren wer- den als im Anblick eines als unend- lich weit entfernt empfundenen Wunschbildes.
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Hartmut Kraft Kapfenbergerstraße 4 5020 Frechen
KUNSTMARKT
Versteigerungen vor der
Sommerpause
Zwei Buch- und Graphikauktionen
Zwei Buch- und Kunstauktionen von hohem Rang zogen in letzter Zeit das Interesse des Publikums auf sich, das in großer Zahl er- schien, kritisches Verhalten an den Tag legte . und Kenntnisse bewies, die aufhorchen ließen. Der Kreis von Sammlern, die fast regelmäßig einschlägige Auktionen besuchen, zumindest das Marktgeschehen im In- wie Ausland wenigstens auf dem Papier verfolgen, Kataloge und Ergebnislisten studieren, also möglichst „hart am Ball" bleiben, wird von Saison zu Saison größer.
Das spürt und hört nicht nur der Beobachter, das haben vor allem so erfahrene und kluge Auktionato- ren wie Bassenge und Dr. Tenner längst berücksichtigt.
Tenner in Heidelberg
Die stärkste Zugnummer der Ten- ner-Auktion in Heidelberg war ohne Frage die Versteigerung der Nürnberg-Blätter aus der Samm- lung des 1933 verstorbenen Hein- rich Wallraff. Die Privatbieter hat- ten keinen leichten Stand dem Handel gegenüber, der sich sehr stark engagierte, speziell der Nürn- berger Handel, und zu Höchstprei- sen trieb.
Die Kupferstiche, Handzeichnun- gen und Holzschnitte, zumeist in sehr gutem Zustand, riefen hef- tige Bietgefechte hervor und brach- ten es unschwer auf die doppel- ten und dreifachen Schätzwerte!
Man hielt förmlich den Atem an!
Auf 7000 DM (2000) kamen zwei Kupferstiche von L. Strauch, 1599,
„Wahrhaffte Confraktur der Reich Statt Nurmberg ...", auf 2000 DM (500) ein Kupferstich Jost Ammans, das Nürnberger Schloß mit einem Maximilian zu Ehren abgebrannten Feuerwerk darstellend, auf 5500 DM (2500) eine Radierung Hans
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 28 vom 8. Juli 1976 1907