DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
Die Bedeutung der Mikro- zirkulation für die Patho- physiologie von Gefäß- krankheiten hat in den letz- ten Jahren stark an Aner- kennung gewonnen. Durch die Weiterentwicklung elek- tronischer und optischer Techniken sind heute zu- verlässige Analysen über die Funktion der Mikrozir- kulation — den Komplex kleinster Blut- und Lymph- gefäße mit Durchmessern kleiner 300 Im) und des sie durchströmenden Blutes bzw. Lymphe — unter phy- siologischen und pathologi- schen Bedingungen mög- lich. Die Verwendung hä- morheologischer und mi- krohämodynamischer Me- thoden haben neue Mög- lichkeiten für die Diagno- stik und zur Therapiekon- trolle von Gefäßkrankheiten eröffnet. Besonders die
Fortschritte in der Video- technik ermöglichen heute die quantitative Erfassung dynamischer Vorgänge in den Kapillaren auf nichtin- vasive Weise, wie zum Bei- spiel die Messung der Strö-
mungsgeschwindigkeit in den Hautkapillaren. Durch die Injektion geeigneter Fluoreszenzfarbstoffe kön- nen Diffusionsvorgänge an Blut- und Lymphkapillaren untersucht werden und nach Punktion der Kapilla- ren mit Mikroglaskanülen
lassen sich dynamische Ka- pillardruckmessungen vor- nehmen. Die Oxygenierung der Haut und der Skelet- muskulatur kann durch Sauerstoffpartiald ruckmes- sungen quantifiziert wer- den. Diese Methoden wur- den bislang meist an ver- schiedenen Hautregionen am Patienten eingesetzt.
Vasomotion
Die Fließgeschwindigkeit der Erythrozyten in den Na- gelfalzkapillaren unter Ru- hebedingungen, reaktiver Hyperämie und lokaler Käl- teexposition und Kapillar- drucke sind in den letzten Jahren ausgiebig unter- sucht worden. Beim Gesun- den ist die Fließgeschwin- digkeit nur selten konstant, sondern zeigt periodische Schwankungen mit einer Frequenz von 6 bis 10/Mi- nute. Diese rhythmischen Veränderungen sind unab- hängig von Herzaktion und Atmung und dürften durch die spontane arterioläre Va- somotion verursacht wer- den. Darunter wird die al- ternierende Konstriktion und Dilatation der den Ka- pillaren vorgeschalteten kleinen Arterien und Arte- riolen verstanden. Das phy- siologische Vasomotions- muster ist bei Patienten mit
Akrozyanose, primärem va- sospastischen und sekun- därem Raynaud-Syndrom und mit peripherer arteriel- ler Verschlußkrankheit auf- gehoben. Die veränderte Vasomotion dürfte auch bei der diabetischen Mikroan- giopathie und der arteriel- len Hypertonie einen zu- sätzlichen pathogeneti- schen Faktor darstellen.
Fluoreszenz- Videomikroskopie
Die transkapillare und inter- stitielle Passage von Fluo-
rochromen wurde von der Arbeitsgruppe Professor
Bollingers bislang bei Ge- sunden, Sklerodermiepa- tienten und Diabetikern un- tersucht. Im Gegensatz zu den Retinagefäßen verläßt Natrium-Fluorescein nach intravenöser Injektion be- reits unter physiologischen Bedingungen die Hautkapil- laren. Bei Gesunden wirkt sowohl die Kapillarwand als auch die äußere Begren- zung eines sogenannten perikapillaren Halos als Dif- fusionsbarriere. Bei Lang- zeitdiabetikern ist die trans- kapillare und interstitielle Diffusion signifikant gestei- gert, sehr wahrscheinlich durch eine Permeabilitäts- erhöhung bedingt. Die vi- deodensitometrische Analy- se zeigt bei Sklerodermie- patienten eine gesteigerte Passage des Fluorochroms, die jedoch, im Gegensatz zu den Befunden beim Dia- betiker, asymmetrisch in bezug auf den arteriolären und venulären Schenkel der Kapillarschlinge ist. Der
Farbstoff dringt diffus in das Interstitium ein und bil-
Mikrozirkulation
bei Gefäßkrankheiten
Ulrich K. Franzeck
2114 (58) Heft 28/29 vom 12. Juli 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
FÜR SIE GELESEN EDITORIAL
det seenähnliche Konfigu- rationen. Mit Hilfe der Fluo- reszenz-Mikrolymphogra- phie konnten die bisher mit der Intravitalmikroskopie nicht zugänglichen ober- flächlichen Lymphkapilla- ren der Haut dargestellt werden. Bei Patienten mit primärem Lymphödem sind die Lymphkollektoren apla- stisch oder hypoplastisch;
aus der unzureichenden Lymphdrainage in die Tiefe resultiert ein erhöhter Ab- transport der Lymphflüssig- keit über das oberfläch- liche Lymphkapillarnetz- werk, was zu einer signifi- kant größeren Ausdehnung der darstellbaren Mikro- lymphgefäße führt. Diffe- rentialdiagnostische Bedeu- tung hat die Mikrolympho- graphie zur Unterscheidung zwischen dem sporadi- schen Lymphödem, das ge- wöhnlich nach der Pubertät auftritt, und dem kongenita- len hereditären Lymph- ödem (Nonne-Milroy). Beim letzteren konnten Bollinger und Mitarbeiter eine Apla- sie der Mikrolymphatici nachweisen. Eine eigent- liche lymphatische Mikro- angiopathie liegt bei Pa- tienten mit chronisch-venö- ser Insuffizienz vor. Ebenso schädigen Infekte, wie rezi- divierende Erysipele die lymphatische Mikrozirkula- tion.
Sauerstoffpartialdruck- Untersuchungen
Die Ergebnisse von trans- kutanen p02-Messungen an den unteren Extremitäten von Patienten mit periphe- rer arterieller Verschluß- krankheit zeigen signifikant
erniedrigte Werte gegen- über Gefäßgesunden. Von besonderer klinischer Be- deutung ist diese Methode für die Bestimmung der lo- kalen Oxygenierung der Haut, welche besonders in den Stadien III und IV der arteriellen Verschlußkrank- heit von Bedeutung ist.
Preliminäre Untersuchun- gen zeigen, daß die Pro- gnose des Wundheilungser- folges nach Amputation aufgrund des präoperativen tcpO 2 möglich sein dürfte.
Größere Untersuchungen stehen noch aus, die be- weisen, daß diese Methode auch zur objektiven Kon- trolle von unterschiedlichen Therapieformen geeignet ist. Die Weiterentwicklung der konventionellen Sauer- stoffelektrode ermöglicht nun die simultane Video- mikroskopie an der p0 2- Meßstelle. Damit können Morphologie und Dynamik der Kapillaren gleichzeitig zur Sauerstoffpartialdruck- messung erfaßt werden. Er- ste Untersuchungen an Pa- tienten mit chronisch-venö- ser Insuffizienz ergaben ei- ne direkte Abhängigkeit von Sauerstoffspannung der Haut und Kapillardich- te. Die bekannte Mikroan- giopathie bei chronisch-ve- nöser Insuffizienz ist von einer defizitären Sauerstoff- versorgung der Haut be- gleitet. Diese Faktoren dürften mit von entschei- dender Bedeutung für die Ulkusgenese sein.
Dr. med. Ulrich K. Franzeck Med. Universitätsklinik Bergheimer Straße 58 6900 Heidelberg
Eine Bremse für die arterielle Verschluß- krankheit
In einer prospektiven Doppel- blind-Studie wurde bei 240 Pa- tienten mit okklusiven Arteriener- krankungen der unteren Extremi- täten die Auswirkung einer Lang- zeitbehandlung mit Thrombozy- tenaggregationshemmern unter- sucht.
Die Patienten wurden in eine von drei Gruppen randomisiert: Sie erhielten entweder Acetylsalycil- säure (ASS) 330 mg oder Dipyrida- mol 75 mg und ASS 330 mg oder Placebo dreimal täglich. Eine Ar- teriographie wurde jeweils zu Be- ginn der Studie und nach zwei Jahren oder bei einer Verschlech- terung der Erkrankung durchge- führt.
199 Patienten beendeten die Stu- die gemäß Versuchsprotokoll. Die Serienarteriogramme wurden qualitativ paarweise angeordnet mittels einfacher Vergleichsbe- trachtung und halbquantitativ nach dem Bollinger-Verfahren. Ei- ne Verschlechterung der Erkran- kung wurde am stärksten in der Placebo-Gruppe beobachtet, we- niger häufig in der mit ASS behan- delten Gruppe und am seltensten in der Dipyridamol- und ASS- Gruppe. Die Kombinationsgabe hatte bei Rauchern und Hyperto- nikern ebenfalls die größte Wir- kung.
Bei 25 bis 30 Prozent der Patien- ten stellten sich jedoch aufgrund der Gabe von Azetylsalycilsäure gastritische Beschwerden ein, doch klagten mehr als 15 Prozent der Patienten der Placebo-Grup- pe ebenfalls über Magenunver- träglichkeiten. Lng
Hess, H.; Mietaschk, A.; Deichsel, G.: Drug-in- duced Inhibition of Platelet Function Delays Progression of Peripheral Occlusive Arterie' Disease, The Lancet 1 8426 (1985) 415-419.
Prof. Dr. H. Hess, Tal 18/11, 8000 München 2
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 28/29 vom 12. Juli 1985 (61) 2115