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PJ100_S365-380_Maresch_Mediatisierte Welt(en)

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6. Schlußfolgerung

Zum Schluß dieser knappen Behandlung der Kapitel 3 und 4 des 9. Buches möchte ich einige Gedanken, die sich im Verlauf der Untersuchung als Resultat ergeben haben, be­

sonders hervorheben.

Akt und Vermögen sind bei Aristoteles reale Aspekte des Seins. D . h., es sind Prinzi­

pien der Realität. Im Gegensatz dazu gehört die Möglichkeit in den Bereich des mentalen Seins. Möglich ist das, von dem wir in unserer Rede behaupten, daß es ein Vermögen hat, von dem aus es sich realisiert und dessen Realisierung keinen Widerspruch ergibt.26 So ist weder das Vermögen ohne weiteres auf die Möglichkeit zu reduzieren, noch ist die M ög­

lichkeit wesentlich an ihre tatsächliche Realisierung gebunden. Daher kann Aristoteles sinnvoll etwas als seiend annehmen, was zwar nicht wirklich existiert, aber möglich ist.

Das 4. Kapitel des 9. Buches ist eine doppelte Anwendung dieser im 3. Kapitel gegebe­

nen Möglichkeitsdefinition.27

Bei der ersten Anwendung muß man sich vor Augen halten, daß das Mögliche (gegen­

über dem Unmöglichen und dem Notwendigen) dasjenige ist, das in einem Vermögen be­

schlossen liegt. Und zwar dergestalt, daß es verwirklicht werden kann oder nicht. In der Sprache spiegelt sich diese Wirklichkeit so wider: Wenn A möglich ist, wird es entweder geschehen (denn es ist nicht unmöglich) oder es wird nicht geschehen (denn es ist nicht notwendig). Folglich ist das Fülleprinzip unaristotelisch.

Bei der zweiten Anwendung benutzt Aristoteles vornehmlich das zweite Element der Definition: Wenn A möglich ist, dann ergibt sich bei der Verwirklichung kein Wider­

spruch, und deshalb müssen alle notwendig mit seiner Möglichkeit verknüpften Bedin­

gungen möglich sein, damit, wenn A sich verwirklicht - da es ja möglich ist -, auch all seine notwendigen Bedingungen wirklich Vorkommen können.

Mediatisierte Welt(en)

D as leise Verschwinden eines Em anzipationsdispositivs Von Rudolf M A R E SC H (Regensburg)

„Vor dem Aufbruch zu einer Wüste der Ungewißheiten“

(Paul Virilio) Zum besseren Verständnis dessen, was mit diesem Thema bezweckt wird, möchte ich eine kleine Geschichte an den Anfang stellen. Den Philosophen ist sie allemal bekannt. Es handelt sich um Platons „Höhlengleichnis“ . Meinem Verständnis nach kann es als Parade­

beispiel der Emanzipation ,des Menschen' gelesen werden. Unter solchen Bildungsaspek­

ten (paidea) will ich es hier, jedoch in einer aktualisierten, der geistigen Verfassung unserer Zeit angepaßten Form, betrachten.

Der philosophischen Überlieferung nach sitzen die Menschen von Geburt an in einer Höhle. Sie starren auf einen BildSchirm (screen) und folgen gebannt und selbstvergessen dort flimmernden BilderWelten. Freudig und lustbetont ergötzen sie sich an den FilmBil-

26 Vgl. Met., IX, 3, 1047 a 24-25.

27 3, 1047 a 24-29.

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dem; fasziniert und andächtig lauschen sie den zu vernehmenden KlangGeräuschen. Für Platon und für viele späteren PhilosophenGenerationen stellten diese TonBilder ,Simula- kra‘ dar. Das hieß, sie waren Trug- bzw. Ab(zieh)bilder gespiegelter UrBilder einer höhe­

ren, weil wirklicheren Realität.

Bis in unsere Zeit war es üblich, diese Geschichte als soziale Zwangssituation zu begrei­

fen und den Ausbruch aus diesem Gefängnis als einen Akt der Befreiung aufzufassen. Der Philosoph sprach denn auch von Fesseln, die den Menschen angelegt worden wären. D a­

her konnten sie auch gar nicht anders als auf die FilmWand zu sehen. Ungesagt blieb aber bis heute, wer der Urheber, Arrangeur und Operateur dieser TraumWelt(en) gewesen ist.

Um so genauer schien aber Platon den Grund gewußt zu haben, warum die Menschen ihr SklavenDasein so (frei)willig akzeptiert hatten: das Begehren bzw. die Lust, alles sehen und hören zu wollen.

Trotzdem gelang es der Erzählung nach einem Philosophen die angelegte Zwangsjacke abzustreifen1 und das Licht der UrBilder zu schauen. Aber bereits damals entbehrte der Versuch, den in mentaler Abgeschlossenheit und in Totalsimulation lebenden Höhlenbe­

wohnern von der „wahren Welt“ zu berichten und sie „ans Licht zu führen“, nicht einer gewissen Tragikomik. Geknebelt von ihrem Begehren und bestärkt in ihrem berechtigten Zweifel, vom Philosophen nicht doch „hinters Licht geführt zu werden“ , verlachten die Menschen diesen Sinngeber und brachten ihn um.2

Im Lichte realisierter Mündigkeit und Autonomie des Menschen ist die Sache mit den Fesseln heute zum Anachronismus geworden. Die Menschen sind frei, mündig und aufge­

klärt. Sie handeln selbstbewußt und selbstbestimmt und urteilen kritisch. Aus einem un­

geheuren Programm- und Informationsangebot stellen sie sich seit geraumer Zeit nicht nur ihr eigenes BilderPotpourri zusammen und stimmen per Knopfdruck ab, welche Bil­

derbotschaften sie sehen und hören wollen und welche nicht. In Bälde werden sie sogar in großer Masse von einer doppelläufigen Gegenfigur erfaßt werden: Einerseits werden sie mit inokulierten kleinen Monitoren die Schnittstelle zwischen BildSchirm und menschli­

chem Körper in sich hineinverlagern und zur Reise in und durch den BildSchirm aufbre­

chen. Im visuell wie emotional gleichermaßen erregenden Hin- und Herbewegen werden sie sich, folgt man den Protagonisten der „virtual realities“, neue WahrnehmungsMenüs zusammenmixen, bisher noch unbekannte BilderWelten programmieren und real-virtuelle KunstWeiten manipulieren. Andererseits werden sie in verstärktem Maße selbst zu Auf- zeichnungs-, Beschriftungs- und Übertragungsflächen, kurz: selbst zum screen unsichtba­

rer „Sehmaschinen“ umfunktioniert. Forciert durch die Erfindung „aktiver Optiken“ wird die Beobachter- und Wahrnehmungsebene von technischen Apparaturen übernommen, deren Kontrollmöglichkeiten das pan-optische Verfahren J. Benthams und M. Foucaults als „humane“ Vorgeschichte erscheinen lassen. Die bis jetzt noch lustvoll vor sich hin zap-

1 Wie dies gelang, wurde leider nicht gesagt. Hier sind wir auf Vermutungen angewiesen. War es die

„theoretische Neugierde“, wie H. Blumenberg später meinte? Oder gar die „Mitgift der Anamnesis“, die den Philosophen befreite, weil sie ihn seiner göttlichen Abkunft erinnern ließ? Wenn der Protago­

nist der Postmoderne, J. F. Lyotard, an die „Anamnesis der Kindheit oder des Ereignisses“ anknüpft und „wider das Vergessen“ zum Redigieren der Moderne auffordert, hat er diese platonische Ein­

sicht im Sinn. Damit katapultiert er sich aber unversehens in die Nähe einer postmodemen Theolo­

gi«·

2 Das Scheitern des platonischen Philosophen - im übrigen auch das von „Zarathustra“ - hegt wohl darin begründet, daß beide, obwohl „die Sonne der Wahrheit“ erblickt und von ihrer Sache über­

zeugt, die Sache selbst nicht zeigen konnten. Dieses Schicksal,,nicht Zeugnis ablegen“ zu können von ihrer Sache, teilen alle, die ,den Sinn“ stiften oder ,das Gesetz“ vorschreiben wollen.

(3)

penden Zuseher werden sich wie die Ratten Luhmanns im Labyrinth3 Vorkommen und in

„endgültige Blindheit" fallen. Sehen ohne selbst wirklich zu sehen und „seinen Augen nicht mehr zu trauen“ werden dann zu einer „Fatalität geworden“ sein4.

Angesichts dieser technischer Implementierungen gibt es am Horizont auch keinen Philosophen mehr, der den Ariadnefaden wiederaufnehmen könnte und den Weg aus dem technisch gefertigten BilderLabyrinth wüßte. Daß der Faden gerissen, Ariadne sich erhängt und Theseus nicht wiederkommt, daran ändern weder die wortgewaltig und argumentationsreich vorgetragenen postmetaphysischen Versuche einer transzendental­

pragmatischen Letztbegründung universeller Normen (K. O. Apel) bzw. universeller Wahrheiten (V. Hösle), noch eine kommunikationstheoretische Umformulierung der Ethik Kants (J. Habermas) etwas. Auch diese können nicht zeigen - zeigen hier im dreifa­

chen Sinn von zeigen, finden und (zugleich) benennen -, wie diese Transzendentalien mit dem Begehrungsvermögen ohne seine Opferung und Aufgabe in Übereinstimmung ge­

bracht werden könnten; auch sie stehen ohnmächtig vor dem Faktum, daß die Adressaten dieser Botschaften die Knebelung durch die SinnesLust offensichtlich weit angenehmer empfinden, als das vorschriftsmäßige Befolgen vernünftig begründeter Normen; und auch sie können nicht explizit angeben, in wessen Auftrag ihre Sendungen erfolgen und wer der Adressat ihrer Lieferungen ist. Zunehmende Pluralisierung, Entdifferenzierung und Kom ­ plexität der FachSprachspiele, die durch das Abwandern des Wissens in Datenträger, die nach völlig anderen Sprachregeln funktionieren als die zum Beweis heran gezogenen all­

tagssprachlichen Codes, noch einen zusätzlichen Kick bekommen, machen ein Festhalten an der Verbindlichkeit eines einzigen (öffentlichen) Sprachspiels - petitio principii des normativen Diskurses - unmöglich. Im Zeitalter der Neuen Technologien folgt das Imagi­

näre nicht mehr der synthetisch-transzendentalen Kraft eines universell-reflektierenden Geistes, wohl aber den technischen Reproduktionen und Simulationen digitaler Aufzeich- nungs- und Übertragungstechniken.

Dieses im Sinne Nietzsches WirklichWerden der fiktiven Welt hat nicht nur erhebliche Auswirkungen auf jede EmanzipationsErzählung und den sie begleitenden kritisch-nor­

mativen Diskurs im allgemeinen. Es hat im besonderen ebenso Konsequenzen für alle me­

dientheoretischen Aussagen kritischer Sozialwissenschaften, die sich im Anschluß an die Kritik der Frankfurter Schule entwickelt und am Zustand der spätkapitalistischen Massen­

kultur post Mai ’68 entzündet haben. Im folgenden werde ich deshalb einige grundlegende Sätze traditionell-kritischer Medienwissenschaften nicht nur in Zweifel ziehen, sondern deren Geltungsansprüche auch prinzipiell bestreiten. Unter diesen Sätzen verstehe ich zu­

nächst Aussagen und Urteile w ie:5

3 Vgl. N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 4 (Opladen 1987) 6.

4 Dazu die neuen Schriften P. Virilios, insbesondere: Rasender Stillstand (München 1992) 140.

5 Ich stütze mich hier vor allem auf die Schriften: M. Horkheimer/T. W. Adorno, Kulturindustrie.

Aufklärung als Massenbetrug, in: dies., Dialektik der Aufklärung (Frankfurt a. M. 1969) 108ff.; H.

Marcuse, Über den affirmativen Charakter der Kultur (1937) (Frankfurt a. M. 1965); O. Negt/A.

Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung (Frankfurt a. M. 1972) 17ff.; J. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren. Ein normativer Begriff von Öffentlichkeit, in: Merkur 6 (1989) 456M-77; O. Negt, Keinen Augenblick mehr allein gelassen, in: R. Maresch (Hg.), Zukunft oder Ende (München 1993) 271 ff.;

O. Negt, Diese Form des Pessimismus lähmt zusätzlich, in: ders., Die Herausforderung der Gewerk­

schaften (Frankfurt a. M. 1989) 183 ff.; J. Habermas, Die nachholende Revolution (Frankfurt a. M.

1990) 93; sowie J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Vorwort zur Neuauflage (Frankfurt a. M. 1992) 11-50.

(4)

a) Medien manipulierten, selektierten und depravierten die Bedürfnisstruktur der Men­

schen, kolonialisierten und präformierten ihr Bewußtsein im Sinne spätkapitalistischer Massenkultur und hinderten das Publikum an der Wahrnehmung und Erweiterung le­

gitimer politischer Interessen und Bedürfnisse.

b) Medien isolierten aufgrund ihrer vermeintlichen Ein-Weg-Kommunikationsstruktur die Empfänger, verfestigten den Status quo ideologischer Herrschaftsformen und er­

zeugten bei den Rezipienten Ohnmachtsgefühle, Sprachlosigkeit und Realitätsverlust.

c) Medien eigneten sich aufgrund ihrer „Gebrauchswerteigenschaften“ prinzipiell für den Transport humanistischer oder emanzipatorischer Botschaften.

Ich meine darunter aber auch Erwartungshaltungen wie:

d) Durch die Aufhebung der Trennung von Produkt und Produzent und die aktive Parti­

zipation medienkompetenter Subjekte an Auswahl, Inhalt und Weitergabe von Nach­

richten bzw. Informationen könnten Medien wieder in Besitz genommen und einem

„normativen Begriff von Öffentlichkeit“ unterstellt werden.

e) Durch die konkrete Phantasietätigkeit selbstbewußter Produzenten könnte der durch MassenMedien mitverursachte gesellschaftliche Blockierungszusammenhang aufgebro­

chen, GcgenErfahrungen, insbesondere „Fern-Sinne“ provoziert und „das widerständi­

ge Urteilsvermögen der Menschen“ gestärkt werden.

f) Durch „maßvollen und verantwortungsbewußten Mediengebrauch“ auf seiten der Me­

dienkonsumenten könnte mit Hilfe eines proportional mitwachsenden medien­

ökologischen Bewußtseins das weitere Voranschreiten des Medialen erfolgreich einge­

dämmt und soziale Folgeschäden (Wirklichkeits-, Erfahrungs- und Politikverlust) vermieden werden.

g) Durch die „Entfesselung der Produktivkraft Kommunikation“ könnte - bei entspre­

chend emanzipatorisch-humanistischem Gebrauch und Einsatz (siehe c) - der „Struk­

turwandel der Öffentlichkeit“ sowohl zu einem Befördern und Ausweiten öffentlicher Diskurse bzw. zu kritischen Auseinandersetzungen breiter Bevölkerungsschichten füh­

ren, als auch zu einer Pluralisierung und Individualisierung aller Lebensformen.

Demgegenüber möchte ich hier folgende These argumentativ vertreten: Traditionelle wie kritische Medientheorien übersehen, daß die von ihnen kritisierte Medienwirklichkeit nicht nur das Bewußtsein entfremdet und von Wirklichkeitserfahrungen abgeschnitten hat, sondern auch noch die Reflexion dieses Bewußtseins selbst. Infolge dieser, der rasan­

ten Entwicklung der Medien immanenten Angleichung wesenslogischer Differenzen (Sein-Schein; Wahrheit-Fälschung; Realität-Fiktion) und der gleichzeitig damit verbunde­

nen Referenzlosigkeit der Zeichen, kann das angeblich Manipulierende, Verführende und Betrügende nicht mehr an einer objektmen oder sonstwie beschaffenen idealen, kritischen oder negativen Instanz gemessen und beurteilt werden. Fatal wäre es mithin für jede Me- dienStrategic, wenn auf das ungehemmte Fortschreiten der Medien entweder ökologisch im Sinne eines vernünftigen, sinnvollen und verantwortungsbewußten Umgangs mit Me­

dien reagiert und zu Verzicht oder gar Verweigerung aufgerufen würde. Oder wenn kri­

tisch geantwortet und durch wiederholte Kritik an Inhalten und Verhältnissen wieder ver­

sucht würde, Herrschafts- und Manipulationsstrukturen der Medien offenzulegen und den scheinbaren Gebrauchswertcharakter der Medien an eine revitalisierte autonome Ö f­

fentlichkeit zurückzugeben. Ich nenne solche Strategien deshalb fatal, weil sie sowohl an der Faktizität moderner Kommunikationsmedien als auch an der produzierten Faktizität des (post)modernen Medienkonsumenten Vorbeigehen und insofern (un)freiwillig genau das affirmieren und produzieren, was sie eigentlich bekämpfen und umzukehren beabsich­

tigen: den Selbstlauf und das Reinforcement der Medien.

(5)

Diese zugegebenermaßen pointiert formulierte These möchte ich nun im Hinblick auf den zugrunde liegenden Medien- und Kommunikationsbegriff, im Hinblick auf die Struk­

tur moderner Übertragungsmedien wie Funk und Fernsehen und im Hinblick auf eine durch Computertechnologie möglich werdende omnipotente Verschaltbarkeit unter­

schiedlicher Medien zu einem komplexen Nachrichten- und Informationssystem argu­

mentativ entfalten und durch die Hinzuziehung geeigneter Beispiele transparent machen.

Am Ende werde ich noch einmal kurz auf die Folgen dieser Mediendynamik eingehen.

Doch zuerst zur Frage: Wie erscheinen uns Medien und wie funktionieren sie?

„Die Erweiterung irgendeines Sinnes verändert die Art und Weise, wie wir denken und handeln - die Art und Weise, wie wir die Welt wahmehmen. Wenn diese Verhältnisse sich ändern, dann ändern sich auch die Menschen."

(Marshall McLuhan) Medien sind im allgemeinen Werkzeuge, die den Zugang zur Welt erleichtern und unse­

re Austauschbeziehungen mit ihr regeln. Damit erfüllen sie ähnliche Aufgaben wie Arbeit oder Sprache. Sie dienen einmal als Mittel, um vorgestellte Zwecke zu realisieren. Sodann dienen sie aber auch der Erweiterung oder Verfeinerung unserer Sinne. Dadurch formie­

ren und transformieren sie sowohl die Wahrnehmungsweisen ihrer Benützer als auch die­

se selbst.

Mit der Technisierung der Kommunikation hat sich dieser „Gebrauchswertbegriff“ ra­

dikal verändert. Neue Nachrichtenkanäle mit neuen Frequenzen und Reichweiten (Video­

graphik, Bildtelefon, Satellitenfernsehen, Pay-TV, interaktives Fernsehen usw.) und Infor­

mationstechniken (magnetische Bildaufzeichnung, digitale Aufnahme- und Wiedergabe­

verfahren, drahtlose Telekommunikationssysteme, hochauflösende Bildschirme, neuartige Raub- und Kopiertechniken, Holographien usw.) haben den Markt erobert und bestim­

men jetzt die Arbeits-, Aufzeichnungs- und Selektionsverfahren aller Botschaften. Ihr Vorteil: Sie beschleunigen in unerhörter Weise die Bearbeitung, Speicherung und Weiter­

gabe von Informationen; und sie erleichtern die Verkopplung und Vernetzung bisher au­

tonom funktionierender Medien zu Medienverbundsystemen. Ihr Nachteil (für die Em p­

fänger): Die Unterscheidung zwischen Kommunikationszweck und -mittel ist kaum noch möglich; und die Empfänger wissen nicht mehr, wer Autor der Botschaft und was Quelle der Informationen ist.

Vor allem diese Form der Verschaltung führte den amerikanischen Medienavantgardi­

sten Marshall McLuhan bereits 1964 zu dem bemerkenswerten Schluß, daß „der ,Inhalt“

jedes Mediums immer ein anderes Medium ist. Der Inhalt der Schrift ist Sprache, genauso wie das geschriebene Wort Inhalt des Buchdrucks ist und der Druck wieder Inhalt des Te­

legrafen ist.“ 6 Eine Botschaft absetzen bedeutet daher für jeden potentiellen Sender, sie stets neuen Materialitäten zu unterstellen und ihre mediale Transformation als „Aufschrei­

besystem“ (F. Kittier) zu verstehen.

Wenn also die Botschaft nicht von seinem materiellen Träger zu trennen ist, die techni­

schen Apparaturen selbst den mitzuteilenden Sinn bestimmen, und Gesellschaften „immer schon stärker durch die besondere Natur der Kommunikationsmedien, von denen sie G e­

brauch machen, als durch den Inhalt der Kommunikation geformt werden“ ,7 dann macht

6 M. McLuhan, Die magischen Kanäle (Düsseldorf/Wien 1968) 14.

7 M. McLuhan, Das Medium ist die Botschaft (München 1969) 8.

24 Pilli. Jahrbuch JOO/II

(6)

es wenig Sinn am traditionellen Medienbegriff festzuhalten. Medien lassen sich nicht mehr auf ihr angestammtes Sein, bloße „Mittler-Funktionen“ auszuüben, beschränken, sondern entwickeln ähnlich wie die Ware bei Marx ein Eigenleben, das die Austauschbeziehungen mit dem/den Anderen neu organisiert, die herkömmlichen Positionen von Sender und Empfänger entscheidend verschiebt und den Zugriff auf ,das Wahre“ oder ,das Wirkliche“

abschneidet.

Ungedacht und ungesagt in diesen Enteignungsvorgängen bleiben an dieser Stelle vor­

erst noch die durch die elektronische Revolution in Gang gesetzten „technisch möglichen Handgreiflichkeiten“ ,8 DatenZeichen ohne Rücksicht auf ihren sinnhaft-sinnlichen Gehalt in beliebige Algorithmen zu verwandeln, sie von jeder Referentialität abzukoppeln und damit jede Möglichkeit ihrer Kontrolle oder Steuerung durch einen institutionellen Pro­

zeß zu verlieren.

Erst vor dem Hintergrund dieser Eskalation technisch-medialer Dispositive wird es not­

wendig, einen qualitativ und paradigmatisch anderen Medienbegriff einzuführen. Zur Analyse medialer Kreisläufe möchte ich hier Vorschlägen:

Medien sind operationeile Informationsträger, die auf der Basis eines zum mathemati­

schen Algorithmus formalisierten Datenflusses arbeiten. Aufgrund dieser Operationswei­

se, Daten zu beschaffen, zu verarbeiten und zu übertragen, produzieren sie ein System der Ausschließung durch Anbindung. Sie lassen keinen (echten) Freiraum für ein dialogisches Miteinander mit wechselseitigem Einsatz. Selbstreferentiell tragen sie ihre Antwort immer schon in sich selbst. In ihren entwickeltsten Formen (re)konstruieren sie (Medien)Produk- te oder Angebote, die realer als das Reale, künstlicher als das Künstliche, funktionaler als das Funktionale und - ich wage diesen Ausdruck - erhabener als das Erhabene sind.

„Einmal in Kommunikationen verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück (auch nicht, wie Kleist hoffte, durch die Hintertür).“

(Niklas Luhmann) Allen bekannten Kommunikationsmodellen gilt die bekannte Trias „Sender-Botschaft- Empfänger“ als Basis. Dieses Grundmodell jeder face-to-face Kommunikation besitzt, wenn die Botschaft, wie in traditionellen Konzepten üblich, isoliert von semiologischem und nachrichtentechnischem Wissen nur für sich, als Inhalt betrachtet wird, einen eindeu­

tig anthropozentrischen Charakter. Es vermittelt den Glauben, hinter Sender und Em p­

fänger befänden sich autonome Subjekte, die das Verständigungsmittel Sprache gewinn­

bringend für sich einsetzen, um sich etwas über einen Referenten (Gegenstand, Vorstellung) mitzuteilen.

Dieser restringierte Blick auf den „Gebrauchswert““ Sprache verschwindet, wenn die Botschaft unter der Herrschaft medialer Systeme zur Nachricht bzw. Information wird und der Bearbeitung medientechnischer Dispositive anheimfällt. Denn durch die Erset­

zung der Botschaft durch einen Code ergibt sich zwangsläufig, mit zunehmender A b­

straktion, Komplexion und Geschwindigkeit der zu verarbeitenden und zu vermittelnden Nachricht, die Aushöhlung der weiterzureichenden Sache. Zeichen benennen nicht mehr Dinge oder Sinngehalte, sondern bekommen ihre Bedeutung durch andere Zeichen. Auf­

grund dieses substantiellen Verluste an referentiellem Wert sind sie beliebig miteinander verknüpfbar und werden für die Erfindung immer neuer Zahlen- und Buchstabenkolon­

F. Kittier, Aufschreibesysteme 1800/1900 (München 21987) 238.

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nen wie geschaffen.9 Nach Lyotard müssen sie vorerst noch zwei Bedingungen erfüllen:

Sie müssen den distinktiven Merkmalen eines (gewählten) materiellen Trägers anpaßbar sein; und sie müssen sich um einen Sprachcode gruppieren lassen, der wiederum diesem physikalischen Träger einverleibbar sein muß.10 Da die Botschaft jetzt vom Code abhän­

gig ist, wird „der Code zur einzigen Instanz, die spricht, sich selbst austauscht und sich reproduziert“ . Er hält Sender und Empfänger auf Distanz, zieht Trennungslinien zwi­

schen den Menschen und eröffnet so einen „Dialog ohne Antwort“ .11

Die Nachrichtenübermittlung erfolgt zwar nach wie vor durch einen Sender, der eine Information auswählt, sie nach einem dem materiellen Träger entsprechenden Code ver­

schlüsselt und in den bereitstehenden Nachrichtenkanal einspeist. Auch besteht die Auf­

gabe eines Empfängers immer noch darin, die codierten Zeichen aufzunehmen, zu deco­

dieren und dem vom Sender gewünschten Zweck zuzuführen. Beherrscht aber der Empfänger den benützten Code nicht oder ist der gewählte Code nicht eindeutig, so kann er die Nachricht mit den verschiedensten Bedeutungen füllen, sie zu völlig anderen als vom Sender beabsichtigten Zwecken verwenden oder sie mangels geeigneter Decodie­

rungsverfahren bzw. -kompetenzen einfach nicht zur Kenntnis nehmen.

Dadurch ergibt sich folgende Merkwürdigkeit. Der Sender ist zwar weiter dominant, weil er „den Code wählen kann und der andere bloß die Freiheit hat, diesem sich zu un­

terwerfen oder darauf zu verzichten“ .12 Indem aber der Empfänger in aller Regel die Nachricht immer auch anders lesen kann als vom Sender beabsichtigt, bleiben Zustellung wie Ankommen der Botschaft immer kontingent.13

Die um das Mediale erweiterte und aus seinen humanen Fesseln gelöste Trias, ergänzt durch Erkenntnisse der soziologischen Kommunikationsforschung (Laswell; Jakobson) und der Informationstheorie (Shannon/Weaver), wird im Schema auf S. 372 dargestcllt.

Neben der darin zum Ausdruck kommenden Eigendynamik des Medialen, der Abtren­

nung der Konsumenten und Produzenten von der medialen Nutzung und der Verschmel­

zung von Nachricht und Material, legt dieses allgemeine, für alle medialen Kommunika­

tionsformen gültige Modell uns noch etwas anderes nahe: Diskrete Zeichen und ihre nach mathematischen Spielzügen der Kombination und Permutation funktionierenden Zei­

chenfolgen ersetzen und konstituieren Wirklichkeit in qualitativ neuer Weise. An die Stel­

le von Materialien treten Immaterialien, Materialien, die auf keinen Rohstoff mehr verwei-

9 Wesentlich ist dafür die Sprachtheorie Lacans. Bekanntlich hatte ja Lacan mit Saussures Dominanz des Signifikats über den Signifikanten gebrochen, und Sprache als eine unabschließbare, die Bedeu­

tungen permanent verschiebende Bewegung definiert, die das Signifizierte unter die Suprematie des Signifikanten drängt. Damit ist die Grundlage gegeben, auch von daher die Botschaft nicht mehr mit Sinn zu verwechseln. „Die kybernetische Botschaft ist eine Zeichenfolge“, die nach den Handgreif­

lichkeiten Kombination und Permutation funktioniert. Vgl. J. Lacan, Psychoanalyse und Kybernetik, in: ders., Das Ich in der Theorie Freuds und in der Psychoanalyse (Olten 1980) 385.

10 Mit diesen (vorerst noch) einschränkenden Bestimmungen versucht J. F. Lyotard den Versuchen der Technowissenschaften, das Denken von der Materie abzulösen, philosophisch entgegenzuwirken, indem er an die Unmöglichkeit eines körperlosen und damit schmerzfreien Denkens erinnert. Vgl. J.

F. Lyotard, Das Inhumane (Wien 1989) 32ff.

11 J. Baudrillard, Requiem für die Medien, in: ders., Kool Killer (Berlin 1978) Zit. 105, 91.

12 Ebd. 104.

13 Kontingent heißt hier jenseits des bekannten Streites zwischen Derrida und Lacan darüber, ob eine Sendung immer (Lacan) oder niemals (Derrida) ihren Bestimmungsort erreicht, nicht zugleich auch beliebig. Der Rahmen für die Möglichkeit, Informationen weiterzureichen oder sie zu bekommen, bleibt natürlich weiterhin determiniert, d. h. die Möglichkeiten sind zählbar.

24-

(8)

Code Î Störquelle

Schema eines allgemeinen Kommumkationssystems

sen, dafür aber mittels technischer Simulation virtuelle Welten zu konstruieren erlauben.

Die meisten dieser Immaterialien werden durch Informatik und Elektronik erzeugt. Bei­

den Technowissenschaften ist eigen, daß sie a) nicht mehr auf der Basis von (Alltags)Spra- chen operieren, sondern mit einer reinen Syntax aus Befehlen oder Algorithmen. Die Gleichgültigkeit gegenüber allen inhaltlichen bzw. semantischen Aspekten der Nachrich­

tenübermittlung14 ist Voraussetzung eines reibungslos funktionierenden Programmab­

laufs. Schwierigkeiten treten nur dort auf, wo technische Probleme der Übertragbarkeit eine rausch- bzw. störungsfreie Verschaltung unterschiedlichster Medien (noch) unterbin­

den. Und daß sie b) die Nachrichtenweitergabe als stochastisch zu berechnende „Anzahl der Wahlmöglichkeiten“ (18) betrachten. Information entsteht mithin nur, wenn größt­

mögliche Freiheit und Ungewißheit bei der Wahl der Nachricht besteht. Das Maximum an Informationsmöglichkeiten wäre demzufolge erreicht, wenn absolute Indeterminiert­

heit und Unsicherheit herrschen würde; ein Minimum dagegen, wenn die Informations­

auswahl genau festgelegt und der Auswählende zu einer ganz bestimmten Entscheidung gezwungen wäre. Dann entstünde keine Information, da keine Wahlfreiheit und keine Ungewißheit (25).

Damit überschreiten diese „konjekturalen Wissenschaften“ (J. Lacan) auch noch den im obigen Modell dominierenden Kulturraum der Codes. Indem sie Zeichensymbole durch Signal-Processing ersetzen und jede Information zum Gegenstand einer digitalen Verar­

beitung machen, degradieren sie Menschen wie Dinge zu Objekten bzw. zu Empfängern medialer Botschaften. Zwar können die fraktierten Subjekte versuchen, die empfangenen Signale zu interpretieren, aber eben nur im Hinblick auf die per Bild-Schirm übermittelten Nachrichten, nicht aber im Hinblick auf die ,Naturalform“ der Nachricht und auch nicht im Hinblick auf die integrierten Schaltkreise der Nachrichtensysteme, die Nachrichten und Bilder technisch manipulieren. Diese Einsichten obliegen den Ingenieuren. Den H u­

manwissenschaften bleibt der Einblick in weitergehende Zusammenhänge verborgen, so­

lange sie sich nur eines staunenden und ungläubigen Blicks auf das sich dort vollziehende Geschehen befleißigen und außer dem Sich-Beschränken und Sich-Bescheiden auf den pu­

ren Konsumentenstandpunkt nur Sinnstiftung, Sinnkompensation oder Sinnreparatur (vgl. O. Marquard) anzubieten haben.

14 C. E. Shannon/W. Weaver, Mathematische Grundlagen der Infonnationstheorie (München 1976) 18.

(9)

Zusammenfassend lassen sich für eine zukünftig fröhliche und über ihre Bedingungen radikal aufgeklärte Medientheorie fortan folgende neue Sätze in Stellung bringen:

- Das Mediale hat sich verselbständigt. Seine Eigendynamik kann weder von kritisch-ob­

jektiven Hermeneutike(r)n eingeholt noch von Produzenten oder Konsumenten kon­

trolliert, überholt und damit wieder in Regie genommen werden.

- Nachricht und materieller Träger sind so miteinander verschmolzen, daß die medien- technischcn Datenträger selbst zu Trägern und Produzenten von Sinn geworden sind.

- Die DatenZeichen bzw. Zeichenfolgen konstruieren und konstituieren (virtuelle) Wirk­

lichkeiten und Sprachen in qualitativ neuer Weise.

- Diese Immaterialien liquidieren auch die Identität eines mit Freiheit und Selbstbewußt­

sein ausgestatteten Menschen. In dem Maße, wie die Medien seine ganzen Handlungs­

und Denkstrukturen okkupieren, wird er selbst zur informationsverarbeitenden M a­

schine.

Diese zuletzt gemachte Behauptung gilt es im folgenden aber erst noch zu begründen.

„Das Fernsehen ist vielleicht nur erfunden worden, um auf schmackhaftem Umweg dem Bild seine Stille wieder zu geben.“

(Jean Baudrillard)

Traditionelle wie kritische Medientheorien konvergieren in der hinlänglich bekannten Behauptung, Medien würden ihr Publikum manipulieren, verführen oder betrügen, das

„Humankapital“ blockieren oder verkümmern und die Wirklichkeit verzerren. So fehlt es nicht an neokonservativen Apokalyptikern, die im wachsenden Medienkonsum den

„Untergang des Abendlandes“ und das Ende seiner kulturellen Errungenschaft erblicken.

Die Lösung erhoffen diese sich von der Entwicklung einer gesteigerten Kommunikations­

fähigkeit und eines dadurch besser ausgebildeten Urteilsvermögens, wodurch gezielt Wertvorstellungen transformiert und Einstellungsänderungen bei den Rezipienten erreicht werden könnten. Es fehlt aber auch nicht an kritischen Kritikern, die die Medien der L o ­ gik der Produktivkräfte unterstellen und die Ursachen des Übels in den sozioökonomi- schen Verhältnissen suchen. Die Umkehr sehen jene in der Befreiung der Produktivkräfte von diesen Fesseln, in der Umwandlung des bloßen „Distributions- in einen Kommunika­

tionsapparat“ 15 und einem so möglich werdenden emanzipatorischen Mediengebrauch.

Gegen diese Manipulations-, Verschwörungs- oder gar Betrugstheorien lassen sich zu­

mindest zwei Einwände formulieren:

1) Die Medienkritiker übersehen, daß eine heimliche Komplizenschaft zwischen Produ­

zenten und Konsumenten besteht. Genauso wie es das Geheimnis des Erfolges der Bild­

Zeitung wohl ist, daß sowohl Macher als auch Leser um ihre Lügengeschichten wissen, genauso praktizieren die Fernsehkonsumenten eine heilige Allianz mit den TV-Produzen- ten.16 Ihre Verbundenheit geht so weit, daß es das Publikum schafft, durch Verweigerung der Einschaltquote die Medien auf ein noch geringeres Niveau herabzunötigen. Ich erin­

nere an den bekannten Fall der amerikanischen Fernsehgesellschaft A BC , die durch die

15 B. Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat (1932), in: D. Prokop (Hg.), Massenkom­

munikationsforschung. Bd. 1: Produktion (Frankfurt a. M. 1972) 33.

16 H. M. Enzensberger, Das Nullmedium oder Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstands­

los sind, in: ders., Mittelmaß und Wahn (Frankfurt a. M. 1988) 88.

(10)

Senkung des durchschnittlichen Anspruchsniveaus sich vom dritten Platz in der internen Konkurrenz um Einschaltquoten und Werbeeinnahmen wieder auf den ersten Platz kata­

pultierte. Alle Versuche kritischer Kritiker, das Publikum von den betrügerischen Ma­

chenschaften des Femsehmediums zu überzeugen, gehen fehl, weil es Fremdbestimmung, Denkentwöhnung und Narkotisierung des Wahrnehmungsapparates, wie Platons Höhle zeigt, genießt. „Man schaltet ein, um abzuschalten“ , sagt Enzensberger zu Recht.17 Und wer möchte nicht zustimmen, wenn dieser den sozial-hygienischen Nutzen der Glotze lobt und die vergleichsweise geringen sozialen Kosten des Betäubungsmediums den enor­

men finanziellen Lasten etwa des Drogenkonsums, der Kriminalität oder der Psychiatrie gegenüberstellt.

Was dem Zyniker Enzensberger an seiner ironischen Kritik am „Nullmedium“ im Ge­

gensatz zur früheren „sozialistischen Perspektive“ 18 fehlt, ist ein strategisches Konzept.

Seine Hoffnung gründet sich letztlich nur noch auf zwei Mythologien: dem Hoffen auf eine an W. Benjamin anknüpfende Wahrnehmung, derzufolge sich der psychische Appa­

rat gegen Reizüberflutung und Abstumpfung der Sinne durch cooling bzw. censoring schütze; sowie dem Glauben an die Fähigkeit ,des Menschen', auch noch im Sinnlosen nach Sinn zu suchen und so der vollkommenen Leere der (Fernseh)Bilder zu entgehen.

Enzensberger sollte sich da aber nicht täuschen. Man braucht ihm gar nicht den von ihm belächelten Simulationisten Baudrillard entgegenhalten, der schreibt: „Wer an den Sinn glaubt, wird am Sinn zugrunde gehen.“ 19 Auch das Fernsehen hat eine Lösung für seinen Mythos parat. Es liefert einfach Bilder, die in sich bereits die Leere geschaffen ha­

ben und in dieser Stille - ich denke an die Zen-Programme - Innerlichkeit und Ruhe, Be­

haglichkeit und Geistigkeit ausstrahlen.

2) Sie gehen, wie gesehen, auch an der Struktur der Medien vorbei. Medien eignen sich aufgrund ihrer technischen Formbestimmtheit weder zum Transport humanistischer Ideen noch taugen sie dazu, echte Kommunikationsprozesse einzuüben oder gar Mündig­

keit zu lernen. Ihren Sinn beziehen sie im „Zustellungsdienst“ .

Diese Selbstläufigkeit läßt sich am besten am mediatisierten Verhältnis von Öffentlich­

keit und Erfahrung studieren. ,Agora' und ,Forum' waren bei Griechen und Römern die Mittler zwischen Meinungsproduzenten und -rezipienten. Sie stellten - ihrer aufkläreri­

schen Funktion entsprechend - den institutionellen Rahmen dar, um Meinungsverschie­

denheiten öffentlich zu klären und ,der Wahrheit' zum Durchbruch zu verhelfen. Bis heu­

te gelten beide Meinungsmärkte für Vertreter einer kommunikativen Vernunft als Orte der Diskussion, an dem durch Kritik und Gegenkritik, durch persönliche Intervention, vernünftige Argumentation und den zwanglosen Zwang des besseren Arguments ,die Wahrheit', ,das Gute' oder ,das Gerechte' hervorgebracht werden soll.

In von Medien okkupierten mediatisierten Welten entpuppt sich dieses IdealBild einer bürgerlichen Demokratie genau als das, was es immer schon war: als Trugbild, Illusion oder Fiktion. Diese These läßt sich am besten entlang des mediatisierten Verhältnisses von

„Öffentlichkeit und Erfahrung“ zeigen. Hier drängen sich zwei komplementäre Erfahrun­

gen auf:

a) Öffentlichkeiten zeichneten sich in antiker Zeit dadurch aus, daß die Leute sich vom privaten in den öffentlichen Raum begeben mußten, um informiert zu werden. Unter dem Diktat medial erzeugter Welten kehrt sich diese Form um. Das Öffentliche hält jetzt in den Wohnzimmerstuben Einkehr. Die Folge: Der öffentliche-politische Raum schrumpft 17 Ebd. 101.

18 H. M. Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch 20 (1970) 159-176.

19 J. Baudrillard, Cool memories (München 1989) 14.

(11)

und verschwindet in seiner ursprünglichen Funktion. Er bleibt zwar weiter präsent - in aller Regel heute als ästhetisch-inszenierter Raum, der mit großflächigen Leuchtreklamen und Werbebildern zum Flanieren und zum Konsumieren einlädt. N ur: dort bleibt man fortan relativ uninformiert, dort verpaßt man die neuesten Nachrichten. U m etwas zu er­

fahren - die gemeinhin historisch genannten Ereignisse der letzten Jahre in Rumänien und der ehemaligen D D R beweisen dies -, müssen die Menschen sich zu Hause in ihren verka­

belten Privaträumen aufhalten. Erst an den Medienausgängen erfahren und empfangen sie die für die öffentliche Diskussion relevanten Nachrichten. Hier unterliegen sie aber auch den bereits beschriebenen mediatisierten Zuständen der Nachrichtenübermittlung. An dieser kontingenten Struktur ändert sich wenig, auch wenn Intellektuelle, wie z. B. der kürzlich verstorbene V. Flusser, für „eine dialogische Schaltung der Informationsübertra­

gung“ 20 plädieren, um dadurch den sendemonopolistischen Gleichschaltungsprogrammen zu entgehen. Einsichten in den „Schaltplan der Kanäle“ (ebd.) und ihre Funktionsweise helfen zwar über Verdummungs- und Zerstreuungsprogramme hinweg, liefern aber nur ein subjektiv zusammengestelltes NachrichtenPotpourri, das bestimmte Informations­

wünsche befriedigt und gleichzeitig die Auflösung der Welt in unendliche Vielheiten be­

schleunigt.

b) In einer mediatisierten Demokratie müssen alle Ereignisse oder Botschaften, wollen sie überhaupt bemerkt werden, die Operationsweise der Medien: Selektion, Neuigkeitsge­

halt und Sensationsgrad durchlaufen. Hier werden sie bearbeitet und mediengerecht (wie­

deraufbereitet. Was nicht in die Medienform paßt, kann nicht gezeigt, nicht dargestellt werden, ist mithin nicht. Die derart inszenierte Medienrealität wird, je mehr Medien die öffentliche Meinung okkupieren und kolonisieren, zur einzigen Instanz, die dem Publi­

kum Auskunft über die Existenz eines Referenten geben kann. N un stehen aber genau diese Medien beim Publikum im Verdacht, Falschaussagen und Unwahrheiten zu verbrei­

ten.21 Die Medien behelfen sich, indem sie ihr Publikum selbst zum Zeugen für die Echt­

heit ihrer Berichterstattung aufrufen. Sie laden Zuseher oder Zuhörer, Experten oder Stars in ihre Studios und beteiligen sie an Sendungen in Form von Abstimmungen, Hörerwün­

schen, Talkshows, Rubble- oder Quizspielen etc. Zu jeder Zeit, für jeden Anlaß und an jedem O rt verlangen sie Statements zu irgendwelchen Ereignissen. Durch dieses perma­

nente taktile Massieren und Bombardieren mit Stimuli wird das medial zugerichtete Publi­

kum zum Referenten eines Diskurses, der sich selbst erzeugt und bezeugt. Niemand weiß mehr, was Ursprung, Zweck oder Ziel der Kommunikation ist. Die Positionen von Sender und Empfänger implodieren. Von Bedeutung ist allein die Sicherstellung des Austausches, der Selbstlauf, der „Prozeß der Wechselwirkung des Selben auf das Selbe.22

Den Höhepunkt erreicht dieses simulierende, gegenseitig sich stimulierende Spiel von Informieren und Kritisieren, von Bestätigen und Dementieren, von Partizipieren und Ausschließen in dem Moment, wo Medien nicht mehr nur das zugerichtete Publikum zur Darstellung, Herstellung und Zustellung ihrer ,ehrenwerten' Absichten strategisch einset­

20 V. Flusser, Nachgeschichten (Düsseldorf/Bensheim 1990) 34.

21 Bekräftigt wird diese These auch von einer Meinungsumfrage in Frankreich, wonach nur noch 65 % der Befragten den Fernsehberichten trauen und bereits 25 % nur noch glauben, daß Fernsehbil­

der ihnen die Wahrheit zeigen. Vgl. P. Virilio, Die Endlichkeit der Welt bricht an, in: P. Weibel (Hg.), Von der Bürokratie zur Telekratie. Rumänien im Fernsehen (Berlin 1990) 150. L. Baier zit.

eine Umfrage der frz. Tageszeitung „Liberation“ von 1987, in der bereits 68% der Franzosen das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Fernsehen und Zeitung verloren haben. Vgl. L. Baier, Firma Frankreich (Berlin 1988) 35. Nicht festzustellen ist, ob es sich dabei um die gleiche Umfrage handelt.

22 J. Baudrillard, Videowelt und fraktales Subjekt, in: Ars Electronica (Hg.), Philosophien der neuen Technologien (Berlin 1989) 129.

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zen, sondern auch noch die Rolle des Chefanklägers und (Schieds)Richters besetzen und mithin ihre eigenen Spielregeln öffentlich in Frage stellen. Damit sind auch alle noch mög­

lichen Außenposten okkupiert. Ein Jenseits von Medien ist nicht mehr möglich.

Und so bekommt dieses seltsam zu beobachtende selbstreferentielle Spiel der Medien eine doppelte Kontingenz. Mediennutzer können gar nicht manipuliert, betrogen oder verführt werden. Denn wäre das der Fall, hätten die Medien schon längst darüber berich­

tet. Aber vielleicht auch wieder nicht.

„In der Maschinenschrift sehen alle Menschen gleich aus."

(M. Heidegger 1944)

Die Unmöglichkeit, einen archimedischen Punkt zu benennen, von dem aus die Fiktio- nalisierung des Realen durch die neuen Medien aufgehoben, die medialen Kreisläufe um­

gekehrt und die Transparenz der Codes wiederhergestellt werden könnten, läßt sich am besten anhand historisch argumentierender Medientheorien zeigen. Im Gegensatz zu ih­

ren traditionellen Vorläufern haben sie folgende Vorteile: a) sie vernachlässigen nicht die

„Materialität der Kommunikation“ , sondern betrachten die Medien als Nachrichtentech­

niken; b) sie stellen sich dem industriellen Übergang von analogen zu digitalen Reproduk- tions- und Simulationstechniken und der damit einhergehenden Implosion von Realität und Fiktion, von Original und Kopie;23 c) sie begreifen Medien nicht bloß als „extensions of man“ (McLuhan), sondern hauptsächlich als das Ergebnis waffentechnologischer Eska­

lation (v. a. F. Kittier, P. Virilio). Dementsprechend schreiben sie Mediengeschichte in erster Linie als Kriegsgeschichte, d) Sie verzichten auf alle wertideologischen und sozial­

pädagogischen Besorgnisse, um sich einen ungeschminkten, nicht durch Kultur- bzw.

Ideologiekritik entstellten Blick auf die Medien zu ermöglichen;24 und e) sie erwarten in aller Regel auch keine Befreiung mehr von den Medien (mit Ausnahme P. Weibels).

Stellvertretend für andere, untereinander durchaus divergierende Medientheoretiker wie z.B . N . Bolz, V. Flusser, P. Virilio, P. Weibel möchte ich die Medientheorie des Bochu- mcr Literaturwissenschaftlers F. Kittier zur Begründung heranziehen. Ihm zufolge be­

ginnt die Geschichte der neuen Medien in der Wendezeit anno 1800. Zu dieser Zeit ist die 23 Wenn J. Weizenbaum zum Beweis der Unterscheidung von Realität und Fiktion einen Gedanken Woody Aliens einbringt, wonach die Realität der einzige Ort sei, an dem er ein saftiges Steak be­

kommt, so erstaunt weniger die Hilflosigkeit seines Arguments, als sein ungestörtes Vertrauen in die amerikanische Nahrungsmittelindustrie; und wenn Sir H. Putnam mit seinem Gedankenexperiment

„Hirn im Tank“ ebenfalls die Unsinnigkeit und Vergeblichkeit des Einzugs dieser Differenz zu be­

kräftigen versucht, dann hat er stillschweigend schon a priori vorausgesetzt, was er erst noch zeigen müßte, nämlich die „ontologische Differenz“ von Realem und Imaginärem. Vgl. H. Putnam, Ver­

nunft, Wahrheit und Geschichte (Frankfurt a. M. 1982) 21 ff.

24 Wenn F. Kittier die Aussage M. Foucaults „ohne Abstand etwas sagen zu wollen“ zu seinem Pro­

gramm macht, um die Reinheit seines Gegenstandes zu erhalten, dann geht es ihm nicht um die Wie­

derherstellung irgendeiner Unmittelbarkeit. Unmittelbarkeit heißt hier im streng Foucaultschen Sinn, die Geschichte der Medien seihst sprechen zu lassen und sie nicht durch die „sinnhafte“ Auslegung hermeneutischer Wissenschaft zu ,verfälschen“. Um aber seinen Gegenstand überhaupt zu finden, muß F. Kittier die Medienhistorie als „Theorie-Fiktion“ vorstellen. D. h. er muß versuchen, sich sei­

nem Gegenstand durch Umschreibung und Umkreisung anzunähern, ohne ihn zu benennen. Damit gerät er aber in den Verdacht, ein betrügerischer Sprachspieler zu sein, der vorgibt, Aussagen zu tref­

fen, die in der Wirklichkeit keine adäquate Repräsentanz haben. Nur, wie kann ein anderer beweisen, daß er die Wahrheit sagt und selbst kein .Betrüger“ ist? Zur methodologischen Ausrichtung F. Kittier, Aufschreibesysteme ..., a. a. O. 429 ff.

(13)

Schrift bzw. das Buch ,das (Verbreitungs)Medium1 schlechthin. Die Einführung der allge­

meinen Schulpflicht durch den preußischen Staat und die beginnende Alphabetisierung auch marginaler Gruppen setzen ,die Schrift“ in die Lage, diese totale Funktion auszuüben und ,den Menschen“ auf einen allgemeinen Sinn festzulegen. Alle Botschaften müssen das

„Nadelöhr des Signifikanten“ (Lacan) passieren. Es wird deutlich, daß alle Insignien der Aufklärung (das Subjekt, der Geist, die Geschichte, die Erziehung) AusDruck einer Epo­

che der Schrift und des Buchdrucks sind. Der Einbruch der Elektrik und die Ausdifferen­

zierung der Schrift in Optik, Akustik und Schrift beenden ihren Universalitätsanspruch.

Die Schrift wird Medium anderer Medien. Das Grammophon bietet nach Kittier einen besseren Speicher, der Film erlaubt eine neue Technik des Sehens und Wahrnehmens, und die Schreibmaschine erzeugt eine neuartige Mechanik des Schreibens. Alle neuen Spei­

chermedien konstituieren sich zunächst mit autonomen Datenflüssen und eigenen, spezifi­

schen Frequenzen und Schaltungen. Schon diese „Aufschreibesysteme“ bereiten für Kitt- ler den Boden für Theorien und Techniken, „die Informationen nicht mehr mit Geist verwechseln“ .25 Die mikroelektronische Revolution und die Erfindung elektronischer Me­

dien setzen auch dieser Pluralisierung von Datenströmen ein Ende. Die voneinander in Schrift, Ton und Bild getrennten Datenflüsse werden jetzt durch Mikroprozessoren in ei­

nem einzigen komplexen System so verschaltet, daß sie wieder zusammenfließen und sich von nun an selbst generieren. Diese Möglichkeit offeriert der Computer. Ihm „ist alles Zahl: bild-, ton- und wortlose Quantität“ (G FT 15). Diese erste universale DenkSchreib­

Rechenmaschine, die zugleich speichert, berechnet und überträgt, ermöglicht nicht nur transversale Übergänge von einem Medium ins andere, sie macht auch ununterscheidbar, was Wirklichkeit und was Fiktion ist, und wer Mensch und wer Maschine ist (G FT 219).

Diese Behauptung belegt eindrucksvoll die sogenannte „Turing-Maschine“ . Dieser Pro­

totyp aller zukünftigen (Computer)Generationen kann im Foucaultschen Sinn als das

„historische Apriori“ der Begegnung von Mensch und Maschine angesehen werden, weil sie die „Ordnung der Dinge“ nach neuen paradigmatischen Denkgesetzen regelt.

Zur Beantwortung der Frage nach der Denkfähigkeit von Maschinen schlägt A. Turing ein Imitationsspiel vor. Ein Zensor C befragt zwei unsichtbare Gegenüber A und B, von denen einer Mensch, der andere Maschine ist. Die Aufgabe des telekommunikativ mit A und B verbundenen Zensors ist es, aus den in Maschinenschrift erteilten Antworten her­

auszufinden, wer von beiden die Maschine ist. Sowohl A als auch B haben die Möglich­

keit, Antworten zu simulieren oder den Fragenden zu belügen. Löst die Maschine alle (potentiellen) Fragen, ohne daß der Interviewer C eine eindeutige Entscheidung treffen kann, so ist nach Turing die Unmöglichkeit einer solchen Unterscheidung bewiesen.

Gleichgültig, ob es wirklich jemals gelingen wird, einen Computer so zu programmie­

ren, daß er „Turings Test“ bestehen würde und damit ,den Menschen“ supplementieren könnte, beweist dieses technische Arrangement zumindest eines: Durch die Frage und Antwort vermittelnde Tätigkeit des Druckers und seines AusDrucks wird der Mensch selbst zur Maschine. Angeschlossen an das System digitaler Verarbeitung bilden Mensch und Maschine einen integrierten Schaltkreis. Dieses Prinzip des Interface besagt: „D er Apparat macht nur, was der Benützer will; doch dieser verwirklicht wiederum nur das, wofür die Maschine programmiert ist.“ 26 Der Mensch als solcher ist zwar vor dem Bild­

schirm noch anwesend; in seiner ehemaligen Funktion als ordnungsstiftender Macher und sozialer Kommunikationspartner verschwindet er aber. Beide laufen nach Programm.

25 F. Kittier, Grammophon Film Typewriter (Berlin 1986) 30; zit. im weiteren durch die Sigle GFT.

26 J. Baudrillard, Videowelt..., a. a. O. 123.

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„Mithin zählen nicht die Botschaften oder Inhalte . . sondern ... einzig ihre Schaltun­

gen.“ (G FT 5)

Diese neue Synergie von Mensch und Maschine, die das alte Interface Mensch und N a­

tur ersetzt und im übrigen auch die Geschlechter-Differenz beseitigen wird, zeigt uns vor allem zwei Dinge:

a) Sie zeigt uns das Verschwinden der Autorschaft des modernen, selbständig handeln­

den, mit Willen und Bewußtsein ausgestatteten Menschen der Aufklärung. An die N etz­

werke von Datenbanken angekabelt, ist er nur noch Durchgangsstation, Knotenpunkt von Informationsströmen, die er sortiert, schichtet, segmentiert und nach festgelegten Befeh­

len im In- und Output-Verfahren herausnimmt, wiederein- und weitergibt. Zwar kann er nach wie vor seinem Narzißmus - vor dem Terminal sitzend - frönen und sich als etwas Einmaliges und Unvergleichliches fühlen. Sein Angeschlossen-Sein an die DenkSchreib- Rechenmaschinen zeigt ihm aber jeden Tag, daß er das schon längst nicht mehr ist. Daher muß auch die Hoffnung eines postmodernen Sprachspielers, den Terminal wie eine Röhre zu benützen und durch Erfindung immer neuer, komplexerer Sprachspiele das bloße (digitale) Funktionieren zu überlisten, fiktiv und illusionär bleiben: muß dieser doch die Denk- und Handlungsbefehle der Maschine innervieren und selbst zur informationsverar­

beitenden Maschine werden.

Dennoch besitzt das „fraktale Subjekt“ nach wie vor Möglichkeiten des Eingreifens.

Wie das Kommunikationsmodell zeigt, kann es als Verdickung im elektronischen Netz der Systeme zumindest zum Störfall werden. So kann es etwa in Datenbanken eindringen und dort entweder Informationen abfangen, umleiten und umsortieren; oder es kann Computerviren in die Kommunikationskreisläufe einstreuen und die dort befindlichen Daten in Aufruhr oder zum Absturz bringen. Seine Machtlosigkeit manifestiert sich aber bereits dort, wo das zerbröselte Subjekt nicht mehr kontrollieren kann, welche Informa­

tionen es zum Verschwinden bringt, ob lebensnotwendige oder lebensbedrohende. D es­

halb haben solche punktuell-fröhlichen Strategien nichts mehr mit Überwindung, Um ­ kehrung oder Wiederaneignung27 zu tun. D a es im Innern des Netzwerks und nicht außerhalb operiert, ist sein interzeptionell-ästhetisches Spiel immer schon ,entfremdet' oder ,verdinglicht', um noch einmal zwei Begriffe vergangener Zeiten zur Klärung des Sachverhalts zu bemühen.

b) Sie zeigt aber auch die Nivellierung aller zu vermittelnder Inhalte. Dieser Schritt der Angleichung ist nach Kittier vollzogen, wenn „Filme und Musiken, Anrufe und Texte über Glasfaserkabel ins Haus kommen, (und) die getrennten Medien Fernsehen, Radio, Telefon und Briefpost“, in Biteinheiten verrechnet, zusammenfallen (G FT 7), die struktu­

rellen Unterschiede zwischen den Medien verschwinden und jede Information digitalisiert verarbeitet auf BildSchirm projiziert wird mit dem ehemals ,Mensch' genannten „Durch­

lauferhitzer“ davor. Jedes Medium ist dann hinreichend durch jedes andere Medium re­

27 Beim Begriff „Wiederaneignung“ muß, was gemeinhin übersehen wird, zwischen einer progressiv­

amerikanischen und regressiv-europäischen Form der Aneignung der Bilder unterschieden werden.

Während die kontinentale Sichtweise noch Inhalte aufweist (regionale, ideologische, kosmologische), zeichnet sich die atlantische durch ihren ausschließlichen Warencharakter aus. Sie stellt eine reine Or­

gie von Zeichen dar, die erst aufgrund ihrer Leere so faszinierend wirkt. Amerikas einzige Mytholo­

gie sind mithin die Medien. „Wiederaneignung“ im amerikanischen Sinn hieße demnach: Entlassen der Zeichen in ihr willkürliches Spiel reiner Verknüpfbarkeit. Mithin ist auch die europäische Hoff­

nung auf „eine kritische Einstellung zu Massenkultur und Konsumgesellschaft letztlich eine Fata Morgana der Kritik“ (ebd.). Weil diese nicht mit der „Faszination des Codes“ rechnet, verlegt sie sich viel lieber auf Ideologiekritik. Gefunden bei S. Lothringer, Foreign Agent (Berlin 1991) 60.

(15)

präsentiert. Medien bestätigen, bekräftigen und potenzieren sich gegenseitig. Nicht mehr und nicht weniger wollte M. McLuhan mit seinem zum Schlagwort verkommenen Satz

„das Medium ist die Botschaft“ sagen. „Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium“ in der Sprache Kittiers, der damit ein bekanntes Poem von Gertrude Stein aufnimmt und va­

riiert. Aber damit nicht genug. „Ein totaler Medienverbund auf digitaler Basis wird den Begriff Medium selbst kassieren. Statt Techniken an Medien anzuschließen, läuft das ab­

solute Wissen als Endlosschleife.“ (G FT 6) Und da die Menschen auch nicht über die göttliche Kraft einer universalen Beschreibungsnummer verfügen, die sie den Medien ein­

führen könnten, um sie auf eine endlose Bahn zu schicken, die sie unvermeidlich zum Absturz bringen müßte, gibt es auch keine Rück- oder gar Umkehr hin zu qualitativen Unterschieden in den Botschaften - hermeneutische Illusion aller bürgerlichen oder antibürgerlichen Rezeptionsästhetiken von Adorno über Marcuse bis zu H . R. Jauß oder P. Bürger. Der Weg zu menschlicheren Verhältnissen oder gar humanistischen Perspekti­

ven ist dann ausgeschlossen. So gesehen verwirklicht sich nicht wie Hegel, im Zeitalter der Schrift und des Buchdrucks sozialisiert, noch glaubte, ,der Geist' oder ,das Subjekt', son­

dern seine Instrumente: die Medien. Diese definieren jetzt die Form der Wahrnehmung, die Art der Informationsgewinnung, -Speicherung und -Übertragung und bestimmen auch noch das Ende dieser Entwicklung. In dem Maße, wie die Informationsmaschinen den Menschen davonlaufen, werden ihre sogenamiten Erfinder überflüssig (G FT 372). Der Mensch kann verschwinden „wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“ .28 Bleiben wird al­

lein: die pure Materialität der Medien, das Angeschlossen-Sein, der Austausch von Infor­

mationen, und das Ereignis der leeren Form ihrer Zirkulation.

„Ich glaube, Humanismus ist etwas ganz Miserables.“

(Vilém Flusser)

Was aber sind die Konsequenzen, wenn jede anthropologische Hoffnung auf Re-Codie- rung oder Re-Medialisierung durch die rasende Entwicklung der Medien selbst zunichte gemacht wird und offensichtlich nur das Auto(generös)generative der technischen Mittler bleibt?

Sicher ist jedenfalls, daß die Autonomie der medialen Systeme auf der Ebene der sozia­

len Handlungskoordinierung weder eingeholt noch institutionell eingebunden, rückge­

bunden oder gar ordnungspolitisch überholt werden kann. Die elektronischen Medien ha­

ben in einem unglaublichen Tempo alle subjektiv-objektiven Vermittlungsprobleme der kritischen Linken sowie alle ihre Hoffnungen auf die Restituierung irgendeines Referen­

ten ihrer Diskurse (Subjekt, Geschichte, Natur) - anthropologischer Traum jenseits von Entfremdung und Verdinghchung - zerstört. In diesem Sinn erscheinen sowohl die wie­

derholt emphatisch vorgetragenen „Virtualisierungen“ machtfreier, kommunikativ ent­

zerrter „autonomer politischer Öffentlichkeiten“ als auch die im Interesse einer Organi­

sierung pohtischer Gegenöffenthchkeiten aktualisierten Kritiken an manipulativen und betrügerischen Techniken sozioökonomisch formbestimmter Medien merkwürdig anti­

quiert. Sie sind m. E. sowohl der Sache wie dem Geschehen nach unangemessen und blei­

ben ihm äußerlich. Was die Adressaten medialer Botschaften denken oder tun, wer sie be­

trügt oder belügt, und wie sie verführt und manipuliert werden, wird, wie zeitgemäßere Medienanalysen zeigen, immer beliebiger und durch den Einsatz zunehmend komplexer werdender Datenverarbeitungsmaschinen in der Informationsgewinnung und -Weitergabe

28 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge (Frankfurt a. M. 1980) 462.

(16)

immer ungreifbarer. Wichtig ist nur, daß gesendet wird, daß die Maschine läuft, nicht, was bzw. was nicht gesendet wird. Differenzen, Störungen oder Brüche ergeben sich höchstens an den Schnittstellen und Verbindungsstellen, wo Mensch und Maschine Inter­

faces bzw. Synergien bilden, und wo Teilsysteme nicht rausch-, sprich störungsfrei in Me­

dienverbundsysteme integriert und dadurch Informationen nicht an ihren Bestimmungs­

ort transportiert werden können. H ier sind Interventions- bzw. Interzeptionsmöglichkei- ten, d. h. medienästhetische Spielzüge sicher weiterhin möglich. Das Menschliche ereignet sich nur noch dort, wo, wie Lacan sagt, die symbolische Maschine kurzfristig angehalten wird, sei es durch eine Störung, eine Unterbrechung oder einen Unfall.

Mithin wird wohl auch das gegenwärtig so euphorisch betriebene Bemühen von Me- dienkünstlem, die in der Nachfolge von Brecht, Benjamin und Enzensberger den uncinge- lösten Traum von der Umwandlung der Medien in eine universelle Interaktionsmaschine hegen, in einer neuen Illusion enden. Denn das Publikum läßt sich von neuen MedienBil- dern und BilderWelten vielleicht faszinieren und zum Konsumieren verführen, zum akti­

ven Mitmachen jedoch kaum animieren. Passiv und der Indifferenz verfallen, verfolgt es lieber die Schattenbilder an der Höhlenwand. Demnach bleibt alles wie gehabt. Das Publi­

kum gefällt sich weiterhin in der Rolle des Konsumenten, den Produzenten fällt die Auf­

gabe zu, neue Märkte und Vernetzungsmöglichkeiten für die Ausweitung des Medialen auszukundschaften, und die Medien werden senden, senden, senden ...

Inhalt und Umfang des japanischen Kunstbegriffs*

Von Günter SE U B O L D (Bonn)

Wohl kaum dürfte die These, daß der japanische Kunstbegriff ein anderer sei als der abendländisch-europäische, Verwunderung auslösen. Warum sollte nicht, was nach Kul­

tur und Gesellschaft so augenscheinlich differiert, auch im Bereich der (schönen) Kunst sich niedergeschlagen haben! Und schon ein erster Blick auf die japanische Geschichte der Kunst wie auf deren Theoriegeschichte wird einem diese Vermutung bestätigen. Daß man so etwas Schlichtes und Alltägliches wie Teetrinken - mag man im Westen das Ganze, un­

deutlich genug, aber etwas erhabener, mystischer und esoterischer, auch als „Teezeremo­

nie“ oder gar „Teekult“ 1 bezeichnen - als „Kunst“ begreift, löst beim europäischen Beob­

achter durchaus Verwunderung aus.

Dieser erste Blick wird allerdings noch weitere, darüber hinausgehende Irritation her- vorrufen: Seit der Berührung der japanischen Kultur mit der europäischen im 16. Jahr­

hundert ist der Einfluß europäischer Kunst und Kunstvorstellung nachweisbar; und der im gegenwärtigen Japan dominierende Kunstbegriff ist der aus dem Westen übernomme­

ne.

* Folgender Aufsatz ist durch meine Studien während einer von der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) gewährten einjährigen Fellowship an der Töhoku-Universität in Sendai ermöglicht worden. Hierfür gilt nicht nur der JSPS und der mit ihr in Deutschland zusammenarbeitenden Hum­

boldt-Stiftung, sondern auch meinem Gastprofessor Tadashi Közuma und dem Initiator meines Auf­

enthaltes, Herrn Dr. Weinmayr, mein herzlicher Dank. Darüber hinaus bin ich all jenen Professoren und Studenten zu Dank verpflichtet, die meine Bemühungen durch ihre Gesprächsbereitschaft und Hilfe gefördert haben; in besonderer Weise waren dies Prof. Shino, Sendai, und Prof. Fujita, Tökyö.

1 Vgl. A. Berliner, Der Teekult in Japan (Leipzig 1930).

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