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2 |IP Special • 2 / 2020

Plädoyer gegen die Wahrheit

Zum Sylke-Tempel- Fellow ship-Programm

Von Tamara Or

N

a gut, ich gebe zu, der Titel ist provokant gewählt. Provokant war auch Sylke Tem- pel, der zu Ehren die Stiftung Deutsch- Israelisches Zukunftsforum das Sylke-Tempel- Fellowship-Programm eingerichtet hat. In einer ihrer scharfsinnigen Ausführungen zur „Methode Trump“ erklärte sie – ganz im Sinne von Hannah Arendt –, dass wir den Begriff der Wahrheit lieber aus den medialen politischen Diskussionen her- aushalten und den Philosophen oder Propheten überlassen sollten. Recht hatte sie. Der Begriff der Wahrheit wird im politischen Diskurs nur im Plu- ral demokratischen Ansprüchen gerecht.

Dennoch erfreut sich zurzeit kaum ein ande- rer Begriff der öffentlichen politischen Debatte so großer Beliebtheit – eng umschlungen von seinem Antonym. Joe Biden schimpfte Donald Trump im ersten Duell der Präsidentschaftskandidaten einen Lügner, dieser verwies auf gegen ihn gerichtete

„Fake News“. Israels Premier Benjamin Netanjahu sicherte im Vorfeld der dritten Parlamentswahlen innerhalb von anderthalb Jahren der israelischen Öffentlichkeit zu, dass das gegen ihn laufende Ge- richtsverfahren „die ganze Wahrheit“ ans Licht bringen werde. In Deutschland demonstrieren im Rahmen sogenannter Hygienedemos Zehn- tausende Menschen mit Verschwörungstheoreti- ker*innen, die entgegen jeder Faktizität „die Wahr-

heit“ erkannt haben und deren abstruse, partiell menschenverachtende und wenig erleuchtende Mythen sich wie mit Lichtgeschwindigkeit im di- gitalen Raum ausbreiten. Wer mit wenig Wissen und Skrupel bepackt ist, läuft einfach schneller.

Hinter der Proklamation der Wahrheit verbirgt sich häufig nicht das Ergebnis eines Erkenntnis- prozesses, sondern der Anspruch auf die alleinige Deutungshoheit über einen Sachverhalt, das Er- heben der eigenen Perspektive zur obersten Le- gitimationsinstanz, der allein Wahrheitsgehalt zugesprochen wird. Journalismus sucht nicht nach der einen Wahrheit, sondern nach den vielen un- erzählten Geschichten, nach Perspektivenvielfalt auf einen Sachverhalt. Genau das erwarten wir von unseren Sylke-Tempel-Fellows, die ihre Stim- men auch künftig über Ländergrenzen hinweg als junge Expert*innen, Journalist*innen und medial Aktive in gesellschafts- und außenpolitische De- batten in Deutschland und in Israel einbringen.

Es waren drei Länder – Deutschland, Israel und die USA –, die Sylke Tempel besonders am Herzen lagen. In allen drei Ländern hat sie gelebt und gearbeitet. Gemeinsam mit unseren Koopera- tionspartnern (siehe S. 51) und unter der Schirm- herrschaft des Vorsitzenden der Atlantik-Brücke, Bundesminister a.D. Sigmar Gabriel, haben un- sere Fellows in diesem Jahr einzelne Aspekte des übergeordneten Jahrgangsthemas „Israel und Deutschland im US-Wahljahr. Nationale Narrative, Identitäten und Außenpolitik“ miteinander und mit ihren Mentor*innen Raphael Ahren, Dr. Nicola Albrecht, Dr. Max Czollek, Kerstin Müller, Christi- na Pohl und Adar Primor diskutiert. In ihren Bei- trägen zeigen sie aktuelle Grenzverschiebungen und neue Legitimationsdebatten in allen drei Län- dern und in ihren Beziehungen zueinander auf.

Das Plädoyer gegen die Wahrheit ist ein Plä- doyer für Perspektivenvielfalt im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit und für eine demokratische Kultur der Balance, in der es nicht um die eine Wahrheit geht, sondern um ein bestmögliches Miteinander – Werte, für die das Fellowship-Pro- gramm steht und für die auch Sylke Tempel ge- stritten und gelebt hat.

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