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lesens- und bedenkenswerte Abschnitte. Dabei reitet der Anglist und Literaturwis- senschaftler manches seiner beruflichen Steckenpferde, wobei während der Lek- türe vielleicht nicht alle Leser immer im Sattel bleiben dürften.

Das sollte aber nicht von der Auseinandersetzung mit dieser »Rückschau eines Neunzigjährigen« abhalten. Denn selbst demjenigen, der meint, schon ›alles über den U-Bootkrieg‹ gelesen zu haben, bietet das Buch durchaus neue Einsichten und neues Wissen – und sei es nur der wenig bekannte Tatbestand, dass ein Oberfähn- rich zur See in britischer Kriegsgefangenschaft nach dem naturgemäß verspäteten Bekanntwerden seiner Beförderung zum Leutnant zur See den entsprechenden

›Ehrensold‹ nachgezahlt bekam! Vor allem aber wird einem Nachgeborenen sehr deutlich, wie lange und wie intensiv-nachhaltig die Erlebnisse in Krieg und Ge- fangenschaft die Kriegserlebnisgeneration beschäftigt, ja verfolgt und belastet ha- ben. Dieses Buch ist aber auch ein Beispiel dafür, wie die Be- und Verarbeitung des Kriegserlebnisses doch gelingen kann, wenn man sich Mühe gibt und der Heraus- forderung stellt. Allerdings standen diesem Kriegsteilnehmer dafür auch beson- dere, nach dem Krieg erworbene Fähigkeiten zur Verfügung.

Dieter Hartwig

The Oxford Handbook of the Cold War. Ed. by Richard H. Immerman and Petra Goedde, Oxford: Oxford University Press 2013, XX, 660 S., £ 95.00 [ISBN 978-0-19-923696-1]

Dieses Buch mit Beiträgen von einem Team überwiegend britischer und amerika- nischer Spezialisten nimmt der Leser mit hohen Erwartungen in die Hand, nicht zuletzt weil das Werk in einer bereits etablierten Reihe von Geschichtshandbü- chern bei Oxford University Press erschienen ist. Laut Klappentext ist das Ziel der Oxford Handbooks, eine kritische Auseinandersetzung mit neueren historischen Debatten anzubieten. In ihrer Einführung behaupten die Herausgeber, dass das Handbuch »a wide-ranging reassessment of the cold war based on innovative con- ceptual frameworks that have evolved incrementally over time in the field of in- ternational history« darstelle (S. 1). Immerman und Goedde stellen auch fest, dass die Geschichte des Kalten Krieges als globale Geschichte verstanden und in ihrem transnationalen Kontext verortet werden solle.

Das Ergebnis ist sicherlich kein »Nachschlagewerk« im herkömmlichen Sinne, sondern eher ein großer Sammelband, der aus vierunddreißig Überblicksaufsät- zen besteht. Mit Ausnahme der Einführung der Herausgeber (S. 1–11) sowie dem abschließenden Kapitel von Nicholas Guyatt über das Ende des Kalten Krieges (S. 605–622) sind die Beiträge in vier Sektionen eingeteilt: I. Conceptual Frame- works; II. Regional Cold Wars / Cold War Crises; III. Waging the Cold War; IV.

Challenging the Cold War Paradigm. Alle Kapitel sind mit einem Anmerkungsap- parat sowie einer meist sehr knappen Auswahlbibliografie ausgestattet. Da es die Absicht der Herausgeber ist, den Leser in Geschichtsdebatten einzuweisen, be- schränkt sich die Mehrheit der Beiträge, was ihre Quellenhinweise betrifft, auf Sekundärliteratur. Allerdings schaffen es dabei manche Auswahlbibliografien, mehr als eine Seite an Literatur aufzulisten, während andere nicht über eine halbe Seite hinauskommen. Wünschenswert wäre es gewesen, verstärkt auf Aufsätze in Fachzeitschriften hinzuweisen.

© ZMSBw, Potsdam, DOI 10.1515/mgzs-2014-0010

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In diesem Band gibt es trotzdem eine relativ breite Abdeckung mehrerer For- schungsthemen zur Geschichte des Kalten Krieges. Im ersten Teil (Conceptual Frameworks) findet man folgende Beiträge: die Historisierung des Kalten Krieges (Akira Iriye); Ideologie und Kultur (Naoko Shibusawa); Wirtschaft (Ian Jackson); Geo- politik (Geoffrey Warner); Imperialismus (Prasenjit Duara). Im zweiten Teil liegt der Fokus auf den Auswirkungen des Kalten Krieges auf bestimmte geografische Re- gionen: die sowjet-amerikanischen Beziehungn (Vladimir O. Pechatnov); China (Rana Mitter); Großbritannien (Klaus Larres); Westeuropa (Andreas Etges); Osteuropa (Bernd Stöver); Lateinamerika (Lars Schoultz); Südasien (Andrew J. Rotter); Südostasien (Ang Cheng Guan); der Nahe Osten (Salim Yaqub); Afrika (Elizabeth Schmidt); Japan (Antony Best). Das Problem mit all diesen Beiträgen besteht jedoch darin, dass ver- sucht wird, zu viele und sehr breite Themen abzudecken. Wie soll man beispiels- weise Afrika während des Kalten Krieges innerhalb von zwanzig Seiten auch nur im Groben erklären? Darüber hinaus liegen mehrere Kapitel zwischen zwei Polen: Ei- nerseits wird versucht, Einblicke in die historische Problematik und die wichtigsten Ereignisse anzubieten, andererseits wird – oft mehr unterschwellig – ein halbher- ziger Versuch unternommen, die Forschungskontroversen zu beleuchten.

Im dritten Teil geht es um die politische, militärische und diplomatische Füh- rung des Kalten Krieges mit den Themen: Strategien (Vladislav Zubok); Macht und Kultur im Westen (Christopher Endy); das Militär (David R. Stone); die nukleare Re- volution (Campbell Craig); internationale Institutionen (Amy L. Sayward); Handel, internationale Hilfe und Wirtschaftskrieg (Robert Mark Spaulding); und schließlich die Rolle der Geheimdienste (John Prados). Die schwierige Aufgabe, sehr breite The- men in weniger als zwanzig Seiten zu skizzieren und dabei den aktuellen Stand der Forschung miteinzubeziehen, haben die meisten Autoren bestmöglich zu lö- sen versucht. Im dritten Teil kommen mehrere Beiträge sehr nahe an die eigent- liche Kernthematik des Kalten Krieges und die Bereiche, die den Leser der MGZ vermutlich besonders interessieren werden heran.

David R. Stone gelingt es in seinem Kapitel über »das Militär«, einen provoka- tiven Überblick anzubieten, indem er argumentiert, dass die Hauptarena des Kal- ten Krieges – Mitteleuropa – nicht besonders viel Aufmerksamkeit von Historikern erfahren hat; darüber hinaus bietet er dem Leser einen sehr guten Ausschnitt der Forschungsliteratur an. Campbell Craig gelingt es ebenso erfolgreich, innerhalb eines sehr kompakten Rahmens eine Skizze der atomaren Revolution und deren Bedeu- tung für den strategischen Wettbewerb zwischen den zwei Supermächten heraus- zuarbeiten; er hat auch Recht mit seiner These, dass die Bedeutung dieses Wettbe- werbs die sowjetische Strategie sowohl bestimmt als auch verändert hat. John Prados Kapitel zur »Intelligence History« schafft es auf nur wenigen Seiten intelli- gente und stimulierende Gedankengänge zu entfalten. Er argumentiert, dass »In- telligence« insofern eine zentrale Bedeutung für die Außenpolitik hatte, als die Wahrnehmung der gegnerischen »Intelligence«-Kapazitäten einen direkten Ein- fluss auf zentrale Entscheidungen ausgeübt habe; gleichzeitig habe die »Informa- tionsbeschaffung« und die Verwendung von strategischen Aufklärungsflügen das Potenzial besessen, die Beziehungen zwischen den Hauptakteuren erheblich, meist unbeabsichtigt, zu stören. Deswegen war »Intelligence« während des Kalten Krieges teilweise ein Unsicherheitsfaktor.

Diese drei Kapitel stehen exemplarisch für die Stärken aber auch für die Schwä- chen des Grundkonzepts des Bandes. Alle drei Kapitel verankern sehr breite The- men innerhalb des Gesamtrahmens des Kalten Krieges und helfen dem Leser, ihr

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eigenes Detailwissen in einen wesentlich größeren Zusammenhang zu stellen. Sie bieten auch einen kurzen Abriss der neueren Forschung zum jeweiligen Thema, wenn auch mit einer deutlichen Tendenz in Richtung der nordamerikanischen For- schung. Andererseits werden vielen Lesern offensichtliche Lücken in der zitierten Literatur auffallen, beispielsweise findet man keinen Hinweis im Beitrag von Pra- dos auf die Werke des führenden Historikers Richard Aldrich über die Rolle des britischen Geheimdienstes. Fairerweise muss zugegeben werden, dass es anhand der zur Verfügung stehenden Wortzahl den Autoren nur möglich war, sehr be- grenzte Hinweise zur Forschung in ihren Beiträgen zu integrieren.

Im vierten Teil findet man Kapitel zu folgenden Themenkomplexen: oppositi- onelle Bewegungen in Ost und West (Philipp Gassert); die Suche nach »transnatio- nalen« Elementen in der Geschichte des Kalten Krieges (Penny von Eschen); Deko- lonisierung (Cary Fraser); Menschenrechte (Barbara Keys und Roland Burke); Race (Brenda Gayle Plummer); Geschlecht und Frauenrechte (Helen Laville); religiöse Di- mensionen (Dianne Kirby); die internationale Umweltbewegung (Richard P. Tucker);

Globalisierung (Hyung-Gu Lynn). Besonders in diesem Abschnitt des Buches ent- wickelt der Leser das Gefühl, dass etwas übereifrig versucht wird, die Thematik des Bandes an aktuelle Forschungsagenden anzupassen. Sicherlich wäre es durch- aus möglich gewesen, bestimmte Auswirkungen des Kalten Krieges auf Dekolo- nalisierung oder Frauenrechte zu finden; die Beiträge sind jedoch viel zu kurz, um manche historischen Probleme wirklich sinnvoll abhandeln zu können, da es sich hier um Bereiche der Geschichte des Kalten Krieges handelt, die nicht so stark wie die Kernbereiche der Außenpolitik untersucht worden sind.

Die Frage nach dem eigentlichen Nutzen oder der tatsächlichen Absicht des Bandes wird sehr durch das letzte Kapitel über das Ende des Kalten Krieges ver- deutlicht. Nicholas Guyatt unternimmt einen Versuch, auf achtzehn Seiten (inklu- sive Anmerkungsapparat und Auswahlbibliografie mit acht Einträgen), die histo- rische Verortung der Ereignisse durch Francis Fukuyamas inzwischen etwas von den Ereignissen »überholten« Aufsatz, »The End of History« zu beleuchten. Auch wird versucht, die Bedeutung des Endes des Kalten Krieges in den internationa- len Beziehungen seit 1989 zu skizzieren. Diejenigen, die den Mauerfall miterlebt haben, werden an manchen Stellen nicken, an anderen eventuell die Augenbrauen heben. Aber jüngere Studierende, denen die Ereignisse nicht geläufig sind, wer- den vergeblich nach einer Erklärung zu den Ursachen für den Kollaps des Sowjet- imperiums suchen.

Der Wunsch, Studierenden, Historikern und anderen Lesern einen schnellen Zugang zum aktuellen Forschungsstand der Geschichte des Kalten Krieges zu bie- ten, war sicherlich eine lobenswerte Zielsetzung der Herausgeber. Die Mehrheit der Beiträge befindet sich sprachlich auf einem hohen Niveau, der Stil vieler Texte wird aber eine studentische Leserschaft nicht besonders ansprechen. Jüngere Stu- dierende, die einen raschen Überblick zu Themen wie Dekolonialisierung suchen, werden weder ausreichende Informationen noch etwas zu Forschungskontrover- sen finden. Ein zusätzliches Problem bleibt die Frage: Wo ist der Kalte Krieg in manchen Beiträgen? Es wirkt an manchen Stellen, als ob die Herausgeber versucht haben, die »International History« zwischen 1945 und 1990 unter dem Begriff des Kalten Krieges abzudecken. Die allgemeine wissenschaftliche Qualität des Bandes soll hier nicht infrage gestellt werden, dennoch muss festgehalten werden, dass es sich um eine große Ansammlung von Kapiteln handelt, die einzeln sehr breite The- men auf nicht mehr als zwanzig Seiten abhandeln.

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Als Hilfsmittel, das in einer Universitäts- oder Institutsbibliothek steht, und gerne schnell in die Hand genommen wird, um ein bestimmtes Kapitel zu lesen, oder die Anmerkungen zu überfliegen, lässt sich das Oxford Handbook of the Cold War sicherlich empfehlen. Für Professoren oder Dozenten, die schnell einen Vor- trag für ein breiteres Publikum schreiben müssen, bietet das Werk einen schnellen Zugang zu einer Reihe diverser Forschungsthemen. Seine Nützlichkeit hat aber gewisse Grenzen, sodass man sich angesichts des Verkaufspreises zweimal über- legen sollte, ein eigenes Exemplar anzuschaffen.

Alaric Searle

Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945–1949, München:

Oldenbourg 2013, XIII, 1237 S. (= Quellen und Darstellungen zur Zeitge- schichte, 96), EUR 148,00 [ISBN 978-3-486-70411-2]

Das im doppelten Wortsinne schwergewichtige Werk besteht im Grunde aus zwei Büchern: der detaillierten Untersuchung des Wiederaufbaus der deutschen Justiz in den westlichen Besatzungszonen (S. 19–500) und einer umfassenden Darstel- lung der Ahndung der NS-Verbrechen durch westdeutsche Gerichte in den Jahren 1945 bis 1949 (S. 501–1171). Beide Themenkomplexe sind miteinander verbunden, hätten aber auch getrennt behandelt werden können. Edith Raim erarbeitete ihre Studie, die als Habilitationsschrift von der Universität Augsburg angenommen wurde, am Münchner Institut für Zeitgeschichte und konnte dafür auf die von ihr in den letzten Jahren mit erarbeitete Datenbank »Die Verfolgung von NS-Verbre- chen durch westdeutsches Justizbehörden seit 1945 – Inventarisierung und Teil- verfilmung der Verfahrensakten« zurückgreifen. Dieses Findmittel, das die völlig unübersichtliche Quellenbasis erstmals systematisch erschließt, bildete auch die Basis für die zeitlich anschließende Studie von Andreas Eichmüller zur Strafver- folgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik (vgl. MGZ, 72, 2013, Heft 1, S. 216).

Unter den Bedingungen einer Besatzungsherrschaft musste der Wiederaufbau der Demokratie und des Rechtsstaates teilweise auch mit diktatorischen Mitteln beschritten werden. Insgesamt legten die westlichen Besatzungsmächte jedoch, wie Raim zutreffend urteilt, eine »außerordentlich wohlwollende Haltung« an den Tag. Sie kontrollierten den Neuaufbau der Justiz und besetzten die Schlüsselposi- tionen mit unbelasteten Personen, unterließen jedoch weitreichende strukturelle Eingriffe und hoben nur sehr selten einzelne Urteile auf. Am strengsten hand- habten die Amerikaner die Entnazifizierung, sodass zunächst eine große Personal- not herrschte, während das Vorgehen der Briten und Franzosen von Pragmatis- mus geprägt war. Aber auch der anfängliche Rigorismus konnte aufgrund der knappen Personalsituation die Rückkehr belasteter Richter und Staatsanwälte nicht verhindern, so stellten 1949 in Bayern ehemalige Mitglieder der NSDAP oder ih- rer Gliederungen 75 Prozent der wiederbeschäftigten höheren Justizbeamten.

An die detaillierte Untersuchung des Wiederaufbaus des Justizwesens in den Westzonen schließt sich die breite, nicht minder quellengesättigte Darstellung der Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten bis 1949 an. Die Strafverfolgung galt aus alliierter Perspektive als Bewährungsprobe für die deutsche Justiz. Gene- rell waren die alliierten (Militär-)Gerichte für die Ahndung von NS-Verbrechen an

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alliierten bzw. nichtdeutschen Opfern zuständig, während deutsche Gerichte nur Verbrechen an Deutschen (und Staatenlosen) aburteilen durften. Grundlage war dabei das deutsche Strafrecht, in der Britischen und Französischen Zone zusätz- lich auch das Alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10, das wegen seiner rückwirkenden Geltung von deutschen Juristen jedoch mehrheitlich abgelehnt wurde. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme unternahm die westdeutsche Justiz in den ersten Nachkriegsjahren trotz gravierender materieller und personeller Engpässe enorme Anstrengungen. Sie leitete rund 14 000 Ermittlungsverfahren wegen nationalsozi- alistischer Gewalttaten (NSG) ein, die zu 4667 Verurteilungen führten; 70 Prozent aller Verurteilungen in NSG-Verfahren erfolgten somit während der Besatzungs- zeit.

Quantitativ stellten Denunziationsdelikte mit 38,3 Prozent der Verfahren den größten Anteil, gefolgt von Straftaten gegen politische Gegner (16,3 %) und Straf- taten im Zuge des Novemberpogroms 1938 (15,4 %). Insgesamt weist die Daten- bank zum Pogrom 2468 Ermittlungsverfahren gegen 17 700 Beschuldigte nach, die zu 1174 Prozessen mit jeweils mehreren Angeklagten führten. Die überwiegende Zahl der (erstinstanzlichen) Urteile, nämlich 1076, fiel dabei in den Zeitraum 1945 bis einschließlich 1950. Verfolgt wurden auch Straftaten im Zusammenhang mit der »Arisierung«: Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, räuberische Erpressung und Untreue. Im Mittelpunkt der Strafverfolgung standen NS-Verbrechen, die vor Ort stattgefunden hatten und der heimischen Bevölkerung deshalb noch gut im Ge- dächtnis geblieben waren. Neben Straftaten gegen den politischen Gegner und De- nunziationsdelikten gilt dies auch für die Euthanasie-Verbrechen. Die juristische Ahndung der unterschiedlichen Verbrechenskomplexe wird von Edith Raim syste- matisch dargestellt und jeweils mit einer Vielzahl von Verfahren sehr anschaulich beleuchtet.

Wesentlich schwieriger erwies sich die Verfolgung von NS-Verbrechen, die über die Grenzen des Reiches hinaus reichten, wie die Deportation deutscher Juden in den Osten. Hier gelang es den Gerichten im Regelfall nicht, die Täter zur Verantwor- tung zu ziehen, sofern sie sich bürokratisch an die Vorschriften gehalten und keine Exzesse gegenüber den Opfern begangen hatten. Völlig ungenügend blieb auch die Strafverfolgung von Massenverbrechen in den besetzten Gebieten und insbe- sondere in den Vernichtungslagern. Allerdings sind hier auch die alliierten Ein- schränkungen zu beachten, die bis Ende 1949 Bestand hatten. Gleichwohl gab es vereinzelt Prozesse, die sich mit Verbrechen in den Konzentrationslagern Auschwitz, Sobibór und Treblinka sowie in Zwangsarbeitslagern befassten.

Nach der Lektüre dieser voluminösen Studie, der mehr resümierende Zwi- schenabschnitte nicht geschadet hätten, wird deutlich, dass die frühe Nachkriegs- justiz unter schwierigsten Bedingungen beachtliche Anstrengungen zur Strafver- folgung der ungeheuren NS-Verbrechen unternommen und damit einen bislang völlig unterschätzten Beitrag zum Demokratisierungsprozess in Westdeutschland geleistet hat. Umso schwerer wiegt die Tatsache, dass diese hoffnungsvollen An- sätze nach der Gründung der teilsouveränen Bundesrepublik nicht mehr mit glei- cher Intensität fortgesetzt wurden. Mit ihrer Untersuchung, die den Wiederaufbau der Justiz sowie die Leistungen und Defizite der Strafverfolgung erstmals auf breitester Quellenbasis rekonstruiert, setzt Edith Raim nicht nur für die rechtshisto- rische Forschung einen Markstein.

Clemens Vollnhals

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Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundes der Vertriebenen und das »Dritte Reich«. In Zusammenarb. mit Michael Buddrus, Martin Holler und Alexander Post, München: Oldenbourg 2013, X, 594 S., EUR 69,80 [ISBN 978-3-486-71626-9]

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Vergangenheit des Auswärtigen Amtes im Nationalsozialismus sowie von dessen personellen Kontinuitäten nach 1945 durch eine Historikerkommission hat eine Reihe weiterer Untersuchungen nach sich ge- zogen. Mit Ausnahme einiger weniger Ministerien, wie dem Bundesministerium der Justiz und dem Bundesministerium der Finanzen, wurden solche Gremien z.B.

auch für die Erforschung der jüngeren Vergangenheit des Bundeskriminalamtes und des Bundesnachrichtendienstes eingerichtet. In diesen Kontext der NS-Auf- arbeitung in der Bundesrepublik ist die zu besprechende Veröffentlichung zur Ver- gangenheit des Gründungspräsidiums des Bundes der Vertriebenen (BdV) einzu- ordnen. Die Beauftragung des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) durch die Verbandspräsidentin erfolgte auch als Reaktion auf einen Presseartikel im Spiegel (Unbequeme Wahrheiten. In: Der Spiegel, 14.8.2006, S. 46–48), der die nationalso- zialistische Vergangenheit zahlreicher Funktionäre in der Führung des Verbandes anhand von Aktenfunden publik machte. Eine erste – interne – Studie des IfZ, die an die Öffentlichkeit gelangte und heftige Kritik nach sich zog, führte dazu, dass ein breiteres Forschungsvorhaben mit der Möglichkeit ausführlicher Archivrecher- chen lanciert wurde. Michael Schwartz ist Hauptverfasser des umfangreichen Er- gebnisberichts zu diesem Projekt, dessen Erstellung vom Bundesministerium des Innern finanziell gefördert wurde. Unterstützung erhielt Schwartz bei der Archiv- arbeit von Michael Buddrus, Martin Holler und Alexander Post.

Im ersten Kapitel des Buches versucht der Autor sich der Problematik »Vertrie- benenpolitiker und NS-Vergangenheit« zu nähern, indem er öffentliche und nicht- öffentliche Konflikte der westdeutschen Vertriebenenpolitik nachzeichnet. Bereits hier wird deutlich, wie unkritisch die Vertriebenenverbände mit der NS-Vergan- genheit vieler ihrer führenden Funktionäre umgingen und dass interne Kritiker wie der Bundestagsabgeordnete Linus Kather schnell ins Abseits gestellt wurden (S. 42 f.). Die häufigsten Vorwürfe kamen aus der DDR – deren politische Führung benutzte die tatsächliche oder vermeintliche NS-Belastung von bundesdeutschen Politikern oder Militärs bevorzugt zur Propaganda gegen die Bundesrepublik. Im Falle des Bundesministers für Vertriebene, Hans Krüger, führten die zutreffenden Vorwürfe zu seinem raschen Rücktritt (S. 52–68). Es gehört zu den Stärken der Ar- beit, das Schwartz und sein Team den ostdeutschen Ermittlungen durch MfS und DDR-Staatsanwaltschaft akribisch nachspürten und zu dem überraschenden Er- gebnis gelangten, dass einige der in den DDR-Akten erhobenen Anschuldigungen durchaus ihre Berechtigung hatten.

Im Zentrum der biografischen Studien stehen die Lebenswege der dreizehn Gründungsmitglieder des Präsidiums des BdV (Alfred Gille, Hellmut Gossing, Wenzel Jaksch, Linus Kather, Hans Krüger, Heinz Langguth, Rudolf Logmann von Auen, Karl Mocker, Reinhold Rehs, Erich Schellhaus, Josef Trischler, Otto Ulitz und Rudolf Wollner), die vom Autor in Alterskohorten nach dem Vorbild von Ulrich Herberts Studie »Werner Best« eingeteilt werden. Herkunft, soziale Schichtung und Bildungshintergrund sind die Grundlagen, auf denen Schwartz seine biogra- fischen Betrachtungen aufbaut. Gleichzeitig beleuchtet er die politischen Rahmen- bedingungen der deutschen Minderheiten in der Tschechoslowakei, in Polen, Un-

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garn und Jugoslawien. Detailliert wird auf die parteipolitischen Organisationen unter den Auslandsdeutschen eingegangen, die sich in den verschiedenen poli- tischen Richtungen als höchst heterogen erweisen. Im weiteren Verlauf folgt Schwartz dem Werdegang jedes Einzelnen der Gründungsmitglieder im »Dritten Reich« und deren Wirken im Zweiten Weltkrieg. Fast schon chirurgisch seziert er das ihm zur Verfügung stehende Archivmaterial. Allerdings verleitet dies den Autor in einigen Fällen zu unnötig detaillierten Analysen und belastet so den Leser mit Nebensächlichkeiten.

Die Darstellung der Aktivitäten des beschriebenen Personenkreises nach 1945 beschränkt sich auf die vielfältigen, durchaus erfolgreichen Versuche und Strate- gien der NS-Belasteten, ihre Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisatio- nen zu verheimlichen bzw. ihre Rolle im System der NS-Diktatur herunterzuspie- len. Als Musterbeispiel muss hier Alfred Gille gelten, dem es gelang, seinen Dienst in der Besatzungsverwaltung in der Ukraine und in Weißrussland bis zu seinem Lebensende 1971 zu kaschieren (S. 376–411).

In seinem ernüchternden, gleichzeitig abwägenden Fazit stellt Michael Schwartz fest, dass lediglich zwei Mitglieder des Gründungspräsidiums als »dezidierte Nicht-Nationalsozialisten« gelten dürfen (Wenzel Jaksch, Linus Kather). Den rest- lichen elf Mitgliedern haftet der Makel der NS-Belastung an. Das Spektrum dieser Belastung erstreckte sich dabei von der bloßen Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer anderen wichtigen NS-Organisation bis hin zu jenen Fällen, wo die Betrof- fenen in Amt und Würden als systemstabilisierend wirkten bzw. die Verbrechen des NS-Regimes gar förderten oder unterstützten (S. 521–531). Eine große Mehr- heit des Gründungspräsidiums setzte sich aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern (61,6 %) zusammen, diese Quote lag weit über derjenigen der Gesamtbevölke- rung.

Das zurückhaltende Urteil des Autors über die Verstrickung der einzelnen Per- sonen in die Verbrechen des NS-Regimes macht deutlich, welche Grenzen dem His- toriker bei der Ermittlung individueller Schuld von einzelnen Personen in einer Diktatur gesetzt sind und dass ein endgültiges Urteil aufgrund des Aktenmaterials nicht möglich ist. Beispielhaft steht die Biografie von Rudolf Wollner, dem als ehe- maligem Offizier der Waffen-SS keine Tatbeteiligung an Kriegsverbrechen nach- zuweisen ist, auch wenn diese unter den Bedingungen des Partisanenkrieges in Kroatien und Griechenland als durchaus wahrscheinlich gelten kann (S. 504–516).

Bemerkenswert an der Studie sind die intensiven Archivrecherchen, die von den Mitarbeitern des IfZ geleistet wurden. Neben dem Bundesarchiv mit seinen Zweigstellen, der BStU und verschiedenen Landesarchiven erstreckte sich die Quellensuche auch auf entsprechende Einrichtungen in Ungarn, der Ukraine und der Tschechischen Republik.

»Funktionäre mit Vergangenheit« ebnet den Weg für eine tiefergehende Be- schäftigung des BdV mit seiner NS-Belastung und kann als Grundlage für künf- tige Arbeiten ähnlichen Zuschnitts dienen. Darüber hinaus haben Michael Schwartz und seine Mitarbeiter ein Standardwerk zur Geschichte der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 vorgelegt.

Denis Strohmeier

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Michael Knoll, Atomare Optionen. Westdeutsche Kernwaffenpolitik in der Ära Adenauer, Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang 2013, 379 S. (= Militärhistorische Untersuchungen, 13), EUR 64,95 [ISBN 978-3-631-64791-2]

Noch vor der Inhaltsübersicht zitiert Michael Knoll Bundeskanzler Adenauer mit einem Satz, der wie ein Leitmotiv für das ganze Buch gilt: »Wir müssen sie produ- zieren.« In einer Fußnote erläutert er den Zusammenhang, in dem dieser Satz steht.

Demnach hatte Adenauer »den Wunsch nach einer eigenen Kernwaffenproduk- tion« in einer Unterredung am 16. November 1957 mit dem französischen Staats- sekretär Maurice Faure geäußert (S. 5). Es handelt sich dabei um jenes berühmte Gespräch, über das zuerst Hans-Peter Schwarz berichtet hat. Knolls Buch ließe sich auf die Problematik reduzieren, um die es im Kern in diesem Gespräch ging:

Gleichberechtigung der Bundesrepublik auch im atomaren Bereich. Was nicht hieß, aber oft missverstanden wurde: eigene Atomwaffen, möglichst auch noch mit eige- nen Trägerwaffen! Knoll hat so quellennah wie möglich gearbeitet. Und ist dabei früh auf Hindernisse gestoßen. Archivarbeit zu diesem Thema ist fast so etwas wie ein Hindernislauf. Zwar sind inzwischen etliche Dokumente freigegeben worden, dennoch »befindet sich ein Großteil der relevanten Quellen noch in den Geheim- archiven« (S. 38). Gerade unter diesem Aspekt ist bemerkenswert, was Knoll zu- sammengetragen hat.

Ausgangspunkt für »atomare Optionen« waren die Gespräche im Vorfeld des NATO-Beitritts der Bundesrepublik im Oktober 1954 in Paris, als Adenauer die Er- klärung abgab, dass die Bundesrepublik Deutschland auf die Produktion von ABC- Waffen auf ihrem Gebiet verzichte. Galt diese Erklärung nur rebus sic stantibus?

Galt sie nicht für eine Produktion im Ausland oder für den Erwerb einsatzbereiter Kernwaffen? Adenauer erinnerte sich später, US-Außenminister John Foster Dulles habe das so interpretiert und er, Adenauer, habe »mit lauter Stimme« geantwor- tet: »Sie haben meine Erklärung richtig interpretiert« (S. 130). Davon abzuleiten, die Bundesregierung könne erreichen, was Adenauer angedeutet hatte, blieb eine Illusion: die Westalliierten – und die Sowjets – waren sich in vielem uneinig, in einem Punkt nicht: die Deutschen durften niemals über eigene Atomwaffen ver- fügen und/oder einen Finger am Atomknopf haben.

Mit Blick auf die Ausrüstung der Bundeswehr hieß das Rückstufung Deutsch- lands zur untergeordneten Macht innerhalb der NATO. Adenauer war nicht be- reit, diesen nicht-nuklearen Status auf Dauer zu akzeptieren. Darauf haben vor Knoll schon Hans-Peter Schwarz, Hanns Jürgen Küsters und Bruno Thoß mit Nach- druck hingewiesen. Knoll geht diesen Überlegungen intensiv nach, wobei das an- fangs erwähnte Gespräch und die mögliche nukleare Zusammenarbeit mit Frank- reich und Italien im Mittelpunkt stehen. Längere Zitate aus diesem Protokoll hätten die deutsche Position wohl noch deutlicher gemacht. Es ging zu keinem Zeitpunkt um eine deutsche Atombombe, es ging auch nicht um eine deutsche Ver- fügungsgewalt über Atomwaffen. Außenminister Heinrich von Brentano wollte laut Protokoll »eine Konfrontation mit den USA vermeiden und setzte sich für ei- nen transatlantischen Konsens ein« (S. 263). Auch wenn so mancher in Bonn am amerikanischen strategischen Schutzschirm zweifelte und bereit war, Trägersys- teme und atomare Sprengköpfe auf französischem Boden mitzuentwickeln – und das hieß in erster Linie zu finanzieren –, hat niemand an eine nationale Verfügungs- gewalt über diese Waffen gedacht. Frankreichs neuer Ministerpräsident Charles de Gaulle stoppte das Unternehmen sowieso.

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Mit dem Beschluss des Bundestages vom März 1958 bestand aber weiterhin die Möglichkeit, die Bundeswehr mit atomaren Sprengköpfen auszurüsten. Die Bun- desregierung beschloss denn auch im Oktober 1958, den damals modernsten ame- rikanischen Jagdbomber, den Starfighter F 104G, anzuschaffen, der mit Atombom- ben bestückt im Ernstfall weit in die Sowjetunion hineinfliegen konnte. Noch im November 1962 drängte Adenauer US-Präsident John F. Kennedy, die Bundeswehr mit »kleinen nuklearen Waffen« auszurüsten, die gar nicht so klein waren, ver- fügten sie doch über eine um ein Vielfaches höhere Sprengkraft als die auf Hiro- shima und Nagasaki abgeworfenen Bomben. Adenauer verwies in dem Gespräch mit Kennedy auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, der durch das bes- sere deutsche Gewehr entschieden worden sei: »Die kleinen taktischen nuklearen Waffen spielten heute fast die Rolle des Gewehres von damals.« Das erinnerte an den »Artillerie-Fauxpas« Adenauers vom 4. April 1957. An jenem Tag verharmloste er auf einer Pressekonferenz taktische Atomwaffen; die seien »im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie«. Knoll weist darauf hin, dass diese Aussage in der bisherigen Literatur benutzt worden sei, um Adenauers Un- wissenheit über nukleare Waffen zu begründen. Er betont richtig, dass Adenauer über die Gefahren und Einsatzmöglichkeit atomarer Waffen sehr gut informiert war (S. 147). An dieser Stelle wäre ein Hinweis auf Adenauers Brief an US-Außen- minister Dulles vom 13. Juli 1956 angebracht gewesen, der einen ganz anderen Adenauer mit Blick auf Atomwaffen zeigt als den, den er selbst öffentlich gab. Er machte Dulles in deutlichen Worten klar, was ein Nuklearkrieg bedeuten würde:

»Die Vernichtung des größten Teils der Menschheit, insbesondere auch Europas einschließlich Englands. Niemand, der eine christliche und ethische Grundhaltung hat, kann diese Entwicklung vor Gott und seinem Gewissen verantworten.«

Die Bundeswehr würde jedenfalls nie Atomwaffen bekommen. Das hatte auch etwas mit dem Misstrauen gegenüber den Deutschen und deren »incipient appe- tite for the nuclear« zu tun, wie der britische Premierminister Harold Macmillan die deutschen Atomwünsche einmal intern so treffend formulierte. Möglicherweise ist das auch mit ein Grund dafür, dass so manches streng geheime Dokument nie freigegeben wird. Am Ende seiner Arbeit bestätigt Knoll seine Ausgangsthese,

»dass nationale Verfügungsgewalt [über Atomwaffen] für die Bundesrepublik so- wohl aus politischen als aus technischen Gründen unerreichbar war« (S. 27), was allerdings nichts an den Bemühungen sowohl der Adenauer- wie auch der Erhard- Regierung änderte, mindestens an der Mitsprache beim Atomwaffeneinsatz betei- ligt zu werden. Die Amerikaner brachten dann die Multilaterale Atomstreitmacht (Multilateral Force – MLF) ins Gespräch, die ebenso scheiterte wie die von der Er- hard-Regierung vorgeschlagene Gemeinsame Nukleare Streitmacht (GNS). Übrig blieb die deutsche Teilhabe an der dann eingerichteten Nuklearen Planungsgruppe der NATO. Das hatte auch etwas mit dem Atomwaffensperrvertrag zu tun, den erst die Brandt/Scheel-Regierung unterzeichnete. Dies alles ist aber nicht mehr Thema der Arbeit von Knoll.

Mit dem zugänglichen Archivmaterial zeigt Knoll jedenfalls eindrucksvoll das letztlich erfolglose deutsche Bemühen um militärische Gleichberechtigung. Dass wir dabei in einem Kapitel auch noch etwas über die »Anfänge deutscher Kernfor- schung«, die »Entwicklung der Zentrifugentechnologie nach dem Zweiten Welt- krieg«, die »Forschung bei Degussa« sowie etwas über »Isotopentrennung und die Politik« erfahren, ist zwar für den technischen Laien nützlich, aber für das eigent- liche Thema nicht unbedingt notwendig, schmälert jedoch nicht die Leistung von

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Michael Knoll. Da hätte man sich als Leser schon eher ein Personenregister ge- wünscht. Das fehlt leider!

Rolf Steininger

Die Spiegel-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen. Hrsg. von Martin Doerry und Hauke Janssen, München: DVA 2013, 461 S., EUR 29,99 [ISBN 978-3- 421-04604-8]

Am 26. Oktober 1962 besetzten Polizisten unter der Führung von Siegfried Buback, Staatsanwalt bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe, das Redaktionsge- bäude des Spiegel in Hamburg und setzten so auf Wunsch von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß ein lang- jähriges juristisches Verfahren in Gang. Der Spiegel-Beitrag »Bedingt abwehrbe- reit« vom 8. Oktober über die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und die militär- politischen Vorstellungen von Minister Strauß hatte den Anlass geboten. Außer einer Beschreibung und Beurteilung der Übung FALLEX 62 lieferte der Verfasser des Beitrages, Conrad Ahlers, darin zusätzlich eine Generalabrechnung mit der Militärpolitik von Strauß. Jener strebe nach Ahlers Einschätzungen danach, die Verteidigung der Bundesrepublik stärker als bis dahin vorgesehen auf Atomwaf- fen abzustützen. Möglicherweise wolle er dazu für die Bundeswehr Atomwaffen erwerben. Der schwer lesbare Presseartikel erregte anfangs wenig Aufsehen. Dies änderte sich jedoch schlagartig, als Buback den Geheimschutzbeauftragten im Ver- teidigungsministerium Heinrich Wunder – zuvor und später selbst beim General- bundesanwalt tätig und mit Buback bekannt – um eine Stellungnahme zum Arti- kel bat. Gemeinsam mit einem Generalstaboffizier glaubte Wunder auf 25 Seiten zahlreiche Hinweise gefunden zu haben, die einen »Abgrund von Landesverrat«

(so Bundeskanzler Adenauer) nahelegten.

Die Spiegel-Affäre wird heute als bedeutsamer Angriff auf die Pressefreiheit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland interpretiert: Das Bundesverfas- sungsgericht urteilte aufgrund der Verfassungsklage des Spiegel 1964, dass die Pressefreiheit ein konstitutives Element der Demokratie sei.

Der Spiegel widmete sich aus Anlass des 50. Jahrestages am 19. und 20. Sep- tember 2012 erneut der Affäre und lud alles, was Rang und Namen hat zu der Ver- anstaltung ein. Die Vorträge finden sich im besprochenen Band, der nunmehr die zahlreichen Facetten der damaligen Ereignisse und ihrer Akteure anschaulich dar- stellt und analysiert.

Ausgehend von einer Einführung durch Hans-Ulrich Wehler, der eine zeitge- nössische Einordnung der Affäre vornimmt, widmen sich die Autoren den ver- schiedenen Akteuren, Netzwerken und Funktionsträgern. Bemerkenswert ist der Beitrag von Lutz Hachmeister, der »zwischen NS-Netzwerken und gesellschaftlicher Modernisierung« Alt-Nazis und ehemalige Mitarbeiter des Reichssicherheitshaupt- amtes in der Redaktion des Nachrichten-Magazins ausmacht. Der ein oder andere mag sich durch gute Polizeiberichterstattung qualifiziert haben, gleichwohl waren nicht wenige vor 1945 in Polizeiformationen des »Dritten Reiches« willige Helfer bei Verbrechen aller Art. Dass Rudolf Augstein in jeder Hinsicht um die Vergan- genheit seiner Mitarbeiter wusste, kann Hachmeister ebenso wenig erhellen wie die Frage, ob das für die Qualität der Berichte des Spiegel bedeutsam war.

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Eckart Conze gibt einen Einblick in die militärpolitische Situation des Jahres 1962 und spekuliert letztlich auch über ein Dogma der damaligen Zeit, den »Preemp- tive Strike«. Die NATO besaß fraglos den »Atomic Strike Plan«, der den Einsatz von Atomwaffen unter bestimmten Voraussetzungen vorsah und der im Kriegs- falle »abgearbeitet« worden wäre. Strauß und mit ihm Adenauer sahen in einer mit Atomwaffen ausgerüsteten Bundeswehr eine Aufwertung der nur teilsouve- ränen Bundesrepublik Deutschland. Ob Strauß damit auch einen vorbeugenden Atomwaffeneinsatz verband, ist bislang nicht durch Quellen belegbar; auch Conze bleibt den Beleg schuldig. Dass Strauß »nuclear obsessed« gewesen sein soll, wie Henry Kissinger meinte und Peter Merseburger in seinem Beitrag wiederholt (S. 90), überdeckt dabei das Hauptmotiv, dass Strauß jegliches Anzeichen von militärischer Schwäche gegenüber der Sowjetunion für eine »Todsünde« hielt.

Die Rolle des Bundesnachrichtendienstes war, resümiert Jost Dülffer, weniger bedeutend, als man es zur damaligen Zeit annahm. Seine Darstellung zur Verstri- ckung des BND zeugt von einem erheblichen Vertrauensverlust gegenüber dem Präsidenten des Nachrichtendienstes Reinhard Gehlen beim Kanzler und seinem Verteidigungsminister. Aufschlussreich ist jedoch vielmehr das hier dargestellte Bild der Vernetzung des BND sowohl mit der Redaktion des Spiegel als auch mit offiziösen Pressediensten, für die Oberst Adolf Wicht als in Hamburg residieren- der BND-Mitarbeiter tätig war. Nicht der BND, aber einige seiner Mitarbeiter wa- ren folglich in die Affäre verstrickt. Näheres wird wohl im Zuge der Aufarbeitung der Geschichte des BND bekannt werden, wie Dülffer unterstrich.

Die außenpolitische Dimension der Affäre war von der nahezu zeitgleich ab- laufenden Kuba-Krise bestimmt und setzte mit der rechtswidrigen Beauftragung Oberstleutnant Achim Osters ein: Strauß hatte ihm – in einem klassischen Fall von Amtsanmaßung – befohlen, Ahlers an seinem Urlaubsdomizil in Spanien festzu- nehmen. Diese beiden Ereignisse, Kuba-Krise und Spanien-Aktion des Ministers, verliefen parallel und Michael Mayer stellt die sich teilweise überschneidende, aber auf bilateralen und damit nicht wirklich internationalen Kanälen stattfindende Kri- sendiplomatie zwischen der Bundesregierung und der spanischen Regierung dar.

Letztere war sowohl wegen der Umstände der Festnahme von Ahlers als auch der anschließenden Haltung der Bundesregierung dazu, die anfangs so tat, als habe sie damit nichts zu tun, erheblich verstimmt.

Wolfgang Hoffmann-Riehm, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, stellt in seinem Beitrag die grundsätzliche Frage nach dem »Versagen der Justiz«

und noch viel deutlicher nach dem, »was wäre wohl passiert, wenn seinerzeit nichts unternommen worden wäre« und sich später der Verdacht des Landesverrats be- stätigt hätte (S. 137). Zweifellos hatte die konservative Auslegung des Landesver- ratsparagrafen durch den Generalbundesanwalt eine Affäre ausgelöst, die als Ge- neralangriff auf die Pressefreiheit ausgelegt werden konnte. Aber dem Autor gelingt es, die Widersprüchlichkeiten der Anklageerhebung und die anschließende Nichtzulassung der Klage gegen die Spiegel-Verantwortlichen durch den Bundes- gerichtshof aufzulösen. Letztlich wurden sämtliche Strafverfahren zur Spiegel-Af- färe eingestellt – auch das gegen Franz Josef Strauß wegen »Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung«! In der Darstellung geht jedoch unter, dass die Spiegel-Re- daktion zur Entlastung von Augstein und Co. umfangreiche Dokumentationen zum Artikel »Bedingt abwehrbereit« erstellte, die zahllose ähnliche Presseartikel zum Zustand der Bundeswehr, zur Übung FALLEX 62 und zur Verteidigungspo-

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litik der Bundesregierung enthielten und so den Beweis lieferten, dass der Beitrag letztlich kaum wirklich Neues veröffentlicht hatte.

Schließlich löste die Affäre einen »Klimawechsel« im Verhältnis zwischen Poli- tik und Medien aus. Dies erscheint angesichts des langen Abschieds von Konrad Adenauer aus der deutschen Politik und seines partiarchalischen Politikstils nahe- liegend. Die Medien insgesamt, so die Beiträge von Daniela Münkel und Frank Bösch, erlebten bereits seit Mitte der 1950er Jahre einen tiefgreifenden Wandel, der sich in einer zunehmend kritischeren Haltung gegenüber den politisch Agierenden aus- drückte. Von »Konsensjournalismus«, wie Christian von Hodenberg den Journa- lismus in den ersten Jahren der Bundesrepublik bezeichnete, konnte 1962 schon längst keine Rede mehr sein.

Als Gewinner ging der Spiegel aus der Affäre hervor. Seine Auflage und sein Renommee in der Bundesrepublik Deutschland stiegen erheblich an. Er war über Jahrzehnte das »Hamburger Nachrichtenmagazin«, das aus gut unterrichteter Quelle am Sonntagabend in der Tagesschau zitiert wurde. Franz Josef Strauß hin- gegen war nicht der eindeutige Verlierer, der er angesichts des Vorwurfs der Amts- anmaßung hätte werden können.

Zeitzeugengespräche runden den Sammelband ab: Zu Wort kommen die Töch- ter der Protagonisten, die sich schützend vor ihre Väter stellen – vor allem Monika Hohlmeier, die behauptet, dass ihr Vater die Affäre »definitiv nicht in Gang ge- setzt« habe (S. 312); Franziska Augstein, welche die Spiegel-Affäre als Beginn von

»68« verstehen will (S. 321 f.) und damit in der öffentlichen Diskussion über die Spiegel-Affäre Widerspruch erzeugte – ebenso tragen der Rechtsbeistand Aug- steins, Horst Ehmke, sowie weitere damals Agierende und schließlich Helmut Schmidt ihre Sichtweisen bei.

Wer sich mit der Spiegel-Affäre befassen will, kommt an diesem facettenreichen und aussagekräftigen Sammelband nicht vorbei. Man sollte den Band, der auf the- oretische Debatten und methodologische Diskurse verzichtet, allerdings eher als Ausgangspunkt für weitere Forschungen verstehen, denn noch immer sind zahl- reiche Quellen, nicht zuletzt die Vernehmungen des Generalbundesanwalts, unter Verschluss. Warum eigentlich?

Heiner Möllers

Claudia Hiepel, Willy Brandt und Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise, München: Oldenbourg 2012, VI, 346 S. (= Studien zur Internationalen Geschichte, 29), EUR 49,80 [ISBN 978-3-486-71287-2]

In ihrer vorzüglich recherchierten und flüssig geschriebenen Dissertation nimmt sich die Autorin vor, zwei Widersprüchen zu ihrem Thema mit überzeugenden Einwänden zu begegnen. Einerseits ist ihr Ansatz, bilaterale politische Beziehungen am Wirken der beteiligten Persönlichkeiten zu messen, in der Forschung mittler- weile eher negativ besetzt. Zudem erscheint gerade das Verhältnis des deutschen Außenministers und späteren Bundeskanzlers Brandt zum französischen Staats- präsidenten Georges Pompidou in der bisherigen Literatur im Gegensatz zu an- deren Handelnden – Adenauer/de Gaulle, Schmidt/Giscard d’Estaing oder Kohl/

Mitterrand – als persönlich zu belastet, um aussagekräftig zu sein. Der politische Visionär in Bonn und der reine Macher in Paris hatten an sich schon von ihrem Na-

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turell her wenig miteinander gemein. Außerdem liefen ihre europapolitischen Ziele zu weit auseinander, als dass man sich ausgerechnet von ihnen essenzielle Fort- schritte für die Europäische Gemeinschaft erhoffen mochte. Stand der eine als An- glophiler für die von Frankreich bislang stets verhinderte Erweiterung um Groß- britannien, so war dem anderen offensichtlich vorrangig an Nützlichkeitserwägungen für die französische Wirtschaft gelegen.

Als ausgerechnet Pompidou daher 1969 eine Gipfelkonferenz als Ausweg aus der europäischen Stagnation vorschlug, witterte die deutsche Seite schon hinter diesem Weg – vorbei an der Europäischen Kommission – einen typisch franzö- sischen Pferdefuß. Der deutsche Außenminister einer Großen Koalition, der dabei hinter seinem Kanzler Kiesinger hätte zurückstehen müssen, begegnete dem Im- puls aus Paris denn auch zunächst wie seine übrigen europäischen Amtskollegen mit unüberhörbarer Skepsis. Das sollte sich allerdings noch vor dem Regierungs- wechsel zur sozial-liberalen Koalition ändern, sobald Brandt sich von der Ernst- haftigkeit des französischen Vorstoßes überzeugt hatte. Um nicht unglaubwürdig zu werden und auch das wachsende Gewicht der Bundesrepublik nicht allzu stark in die Waagschale zu werfen, schlug Brandt dabei ganz im Sinne seines künftigen französischen Mitspielers eine diplomatisch zurückhaltende Gangart an. Außer- dem musste zuerst die Agrarfrage als der Stolperstein aus dem Weg geräumt wer- den, der die Europapolitik Ende der 1960er Jahre neben dem Beitrittswunsch Groß- britanniens am meisten belastete. Die Mehrheit der EG-Staaten war an einem Abbau der kostenfressenden Überproduktion auf dem Agrarsektor interessiert, während Paris gerade hier bislang keinerlei Entgegenkommen gezeigt hatte. In vertraulichen Signalen ließ Pompidou jetzt erkennen, dass Frankreich zu Bewe- gung in der Beitrittsfrage zugunsten Großbritanniens wie bei einer Drosselung der agrarischen Überproduktion bereit sei, wenn die Bundesrepublik dafür ihre Vor- behalte gegen eine volle Realisierung der vereinbarten Gemeinsamen Agrarpoli- tik (GAP) aufgebe. Anders als für die CDU waren für die städtisch orientierte SPD politische Fortschritte in Europa wichtiger als agrarpolitische Fragen. Ohne öffent- liches Aufsehen verständigten sich Pompidou und Brandt daher schon im Vorfeld des zum Jahresende geplanten Gipfels im vertraulichen Briefwechsel auf eine ge- meinsame deutsch-französische Linie.

Der Gipfel in Den Haag am 1./2. Dezember 1969 konnte auf dieser Basis zumin- dest schon einmal den positiven Absichtserklärungen dienen. Man wollte künftig an eine politische Weiterentwicklung der Gemeinschaft gehen und damit die stän- digen Blockaden bei wechselseitigen Präferenzen auf Spezialgebieten überwinden.

Was diese Absichtserklärung wert war, würde sich freilich erst in der Zukunft be- weisen müssen. Für die sozial-liberale Koalition war ein Erfolg aber schon deshalb wichtig, weil man sich dadurch zugleich westliche Rückendeckung für die beab- sichtigte Aktivierung der deutschen Ostpolitik erhoffte. Das war umso notwen- diger, als man gerade in Paris Bonns Öffnung nach Osten mit unverhohlenem Miss- trauen verfolgte. Doch die folgenden beiden Jahre türmten erst einmal eine nur schwer zu überwindende Hürde davor auf. Als Folge des Vietnamkrieges schlit- terten die USA in eine Währungskrise, und da der Dollar als Leitwährung zu kip- pen drohte, waren auch die westeuropäischen Staaten voll davon betroffen. Aus Pariser Sicht musste sich jetzt erweisen, ob der Bonner Partner wie bisher vorran- gig transatlantisch oder solidarisch-westeuropäisch reagieren würde. In der EG gingen freilich die Meinungen insgesamt auseinander. Frankreich und Italien wollten an festen Wechselkursen festhalten, um ihre an sich schon weichen Wäh-

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rungen und damit ihre wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit nicht weiter zu belas- ten. In Bonn gab dagegen Karl Schiller als Wirtschafts- und Finanzminister mit gro- ßer öffentlicher Unterstützung den Ton an. Abgesegnet von seinem Kanzler ließ der Superminister die D-Mark stattdessen floaten, mit der Folge, dass die west- deutsche allmählich zur westeuropäischen Leitwährung aufzusteigen begann. Wie zuvor und danach immer wieder, prallten letztlich die unvereinbaren Grundprin- zipien von französischem Dirigismus und westdeutschem Marktliberalismus auf- einander.

Die Erwartungen von Den Haag 1969 drohten damit schon 1970/71 unter den deutsch-französischen Unstimmigkeiten schnell wieder begraben zu werden. Zwar zeigte sich die erhoffte französische Bewegung in der britischen Beitrittsfrage. Doch ansonsten blieb Pompidou dem gaullistischen Grundkurs nationaler Präferenzen verhaftet. Außen- und sicherheitspolitische Fragen stellten für ihn weiterhin strikt nationale Domänen dar. Gegen deutsches Drängen auf ein Vorankommen der Eu- ropäischen Politischen Zusammenarbeit bremste Paris daher schnell wieder. In der Nahostfrage wurde im Übrigen überdeutlich, wie schwer so etwas wie eine ge- meinsame europäische Linie zu finden und durchzuhalten war. Wenn Paris aller- dings Westeuropa aus der als Bevormundung empfundenen amerikanischen Do- minanz herauslösen wollte, musste letztlich auch Pompidou an einer politischen Aktivierung der Gemeinschaft gelegen sein. Nur scheute man dafür jede bundes- staatliche Verdichtung, plädierte stattdessen für eine Stärkung der intergouverne- mentalen Kooperation. So blieb denn auch der deutschen Seite wenig mehr als die Suche nach pragmatischen Auswegen, was Brandts Abneigung gegen zu theore- tische Europavorstellungen durchaus entgegenkam.

Für mehr Schwung sollte ein erneuter Gipfel im Herbst 1972 in Paris sorgen, der jedoch bei dem geschilderten Vorlauf in seinen Aussagen äußerst unkonkret blieb. Unübersehbar war demgegenüber, wie sehr sich der Brüsseler Ministerrat von den Regierungschefs an den Rand gedrückt sah. An die Adresse der europa- skeptischen Bürger suchte man immerhin bei »weichen« Themen wie Sozial-, Um- welt- und Bildungspolitik Zeichen zu setzen. Doch letztlich stand weiter die Öko- nomie im Vordergrund: brauchten Paris und Rom mehr Investitionen zur Ankurbelung der Wirtschaft, so blieb Bonn vorrangig an der Währungsstabilität zur Inflationsbekämpfung interessiert, standen hier doch vorgezogene Bundes- tagswahlen vor der Tür. Krisenbewältigung statt Zukunftsvision war letztlich auf allen Seiten angesagt und so rettete man sich denn wieder einmal in einen Formel- kompromiss zwischen den deutschen Präferenzen für einen europäischen Bundes- staat und der französischen Bevorzugung weniger bindender konföderativer Struk- turen. Als Bezeichnung für das erweiterte Europa einigte man sich auf den ausdeutungsfähigen Begriff Europäische Union. Unter solchen Vorzeichen war auch von einem erneuten Gipfel in Kopenhagen 1973 wenig Substanzielles zu er- warten. Die Kontroversen verhakten sich jetzt vor allem in der Frage eines Regio- nalfonds zur Förderung strukturschwacher Räume. Frankreich strebte mit briti- scher Unterstützung einen möglichst umfangreichen Fonds an, der freilich bei der Aufteilung zu Lasten der Bundesrepublik gegangen wäre. So bremste die Bundes- regierung hier denn stark bei den Größenordnungen und hielt konsequent am Vor- rang gemeinsamer Stabilitätsziele in der Währungspolitik fest. Das übergeordnete Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion musste unter diesen Umständen auf Eis gelegt werden.

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Das blieb auch in den letzten Monaten einer europapolitischen Suche nach mehr Substanz unter dem Gespann Pompidou-Brandt so, als der eine bereits unüberseh- bar an seiner schweren Krankheit litt, während der andere immer stärker in die Strudel der Guillaume-Krise im Kanzleramt geriet. Als die USA daher Anfang 1974 zu einer westlichen Energiekonferenz nach Washington einluden, um den Erdöl- exporteuren mit einer gemeinsamen Marschroute der Hauptverbraucherstaaten gegenüberzutreten, kamen die deutsch-französischen Auffassungsunterschiede offen zum Durchbruch. In Paris witterte man schon hinter der amerikanischen Ein- ladung wesentlich einen Schritt zur Wiederherstellung der US-Dominanz über Westeuropa und war deshalb auf offene Konfrontation eingestellt – ein Kurs, den sich Bonn mit Blick auf seine sicherheitspolitischen Abhängigkeiten unter keinen Umständen leisten wollte. Es kam, was kommen musste: Frankreich blockierte, die Bundesrepublik suchte zunächst noch zu vermitteln, um schließlich doch auf die Seite der USA zu treten. Und dennoch kommt die Autorin in ihrem Gesamturteil mit Blick auf die Kontinuitäten in der Europapolitik zu dem überzeugenden Be- fund, dass man trotz aller fortdauernden Hemmnisse zwischen Paris und Bonn 1974 besser dastand als 1969. Wieder einmal hatte die Krisenbewältigung beiden Seiten einige Mindestfortschritte abgerungen, denen der beiderseitige europapo- litische Pragmatismus der beiden Hauptdarsteller Pompidou und Brandt letztlich Rechnung trug. Es blieb daher jetzt und in Zukunft beim zähen Ringen unter Kri- senbedingungen um das Erreichbare, während man die Visionen den Europathe- oretikern überließ.

Bruno Thoß

Georg Schild, 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2013, 234 S., EUR 26,90 [ISBN 978-3-506-77658-7]

Der Kalte Krieg, oder präziser gesagt der Ost-West-Konflikt, hat sowohl Zeithisto- riker als auch Politikwissenschaftler seit mehr als drei Jahrzehnten beschäftigt.

Viele Gesamtdarstellungen dieses für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts so strukturprägenden Konfliktes liegen bereits vor, und es gibt auch zahlreiche Stu- dien, die sich einzelnen Aspekten der macht- und ordnungspolitischen Auseinan- dersetzung zwischen Ost und West en détail widmen. Das Ende des Ost-West-Kon- fliktes brachte nochmals einige große Erzählungen (z.B. Gaddis 2005: The Cold War. A New History) respektive auf neueren, vor allem russischen bzw. osteuro- päischen, Archiven beruhende Darstellungen (siehe Cold War History Project) her- vor. Ein mehr als gut bestelltes Feld könnte man daher annehmen. Nachdem so- mit sowohl die Makro- als auch die Mesoperspektive auf diesen Konflikt hinlänglich bearbeitet wurden, scheint der Trend zur Mikroperspektive zu gehen.

Neben Rolf Steiningers Arbeit zur Kuba-Krise gehört auch die hier zu rezensie- rende Veröffentlichung des Tübinger Historikers Georg Schild in diese Kategorie.

Denn sie widmet sich ausschließlich einem Jahr, und zwar dem Jahr 1983, in die- sem Konflikt. Ein wenig reißerisch benennt der Untertitel dieses eine Jahr als das

»gefährlichste« Jahr dieser seit 1947/48 schwelenden Konfrontation, was wohl den potenziellen Käufer dieses Buches anlocken soll.

Schaut man ins Inhaltsverzeichnis, so erweist sich schnell, dass dem Jahr 1983 zwar ca. 50 Prozent des Buches gewidmet sind, der Ost-West-Konflikt jedoch in seiner Gänze nicht ausgespart wird. Schild interpretiert diesen Konflikt als Lern-

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und Aushandlungskonflikt, in dem es beiden Seiten darum ging, die eigene Posi- tion zu sichern sowie die eigenen Interessen- und Interessenssphären zu schützen und auszubauen. Damit bewegt sich Schild im Mainstream der Interpretationen zu diesem Konflikt. Im Kern ging es um die Aufrechterhaltung und die Neujustie- rung des prekären Gleichgewichtes zwischen beiden Supermächten, zusammen- gehalten durch das gemeinsame (und infolge der Kuba-Krise) erlernte Interesse an der Abwendung der gegenseitigen Vernichtung durch die direkte militärische Konfrontation (die wohl unweigerlich den Einsatz von strategischen Nuklearwaf- fen nach sich gezogen hätte). In diesen Kontext verortet Schild richtigerweise das Jahr 1983. Bereits einige Jahre zuvor war die globale (nicht die europäische) Dé- tente im Wüstensand Afrikas und in Afghanistan beerdigt worden und beide Su- permächte rangen mittels Stellvertretern militärisch um die regionale Vorherr- schaft.

Mit der Wahl Ronald Reagans zum Präsidenten der Vereinigten Staaten (1981) wuchs bei der sowjetischen Staats- und Militärführung die Furcht vor einem hei- ßen Krieg zwischen den Systemantagonisten. Reagans unverhohlene Äußerungen, wonach es das Ziel seiner Präsidentschaft sei, den Sieg über die Sowjetunion, die er, ganz in der manichäischen Tradition US-amerikanischer Politik, als das Reich des Bösen bezeichnete, davonzutragen, wurden auf der Gegenseite in Moskau für

»bare Münze« genommen und trugen zu einer Intensivierung des Sicherheitsdi- lemmas bei. Dass eine militärische Lösung des Ost-West-Konfliktes gar nicht in Reagans Interesse lag, wohl aber von der sowjetischen Führung perzipiert wurde, wird von Schild sehr pointiert herausgearbeitet (S. 120 f.). Aber gemäß dem Tho- mas-Theorem, wonach »die Wahrnehmung die Handlung bestimmt«, bereitete sich die sowjetische Führung auf eine kommende militärische Auseinandersetzung mit den USA vor. Sehr detailliert analysiert Schild die internen Debatten in der US-Ad- ministration und legt offen, dass es der Mehrheit der Amtsträger um die Verände- rung des politischen Systems der UdSSR angesichts des offensichtlichen ökono- mischen Abstieges des Sowjetreiches ging. Dies bedeutete jedoch nicht, dass der amerikanische Präsident Abstand von der Aufgabe nahm, die USA vor hypothe- tisch möglichen Angriffen zu schützen. Ohne Rücksprache mit seinen engsten Be- ratern kündigte Reagan am 23. März 1983 die Strategic Defense Initiative (SDI) an, die Idee eines weltraumgestützten Raketenabwehrsystems, das die USA vor einem möglichen sowjetischen Erstschlag sichen sollte. In der sowjetischen Führung wurde diese Initiative, obgleich es von Beginn an ernsthafte Zweifel daran gab, ob ein solcher weltraumgestützter Schutzschild technisch machbar sei, als der Ver- such interpretiert, die vertraglich vereinbarte Möglichkeit der gegenseitigen Ver- nichtung (Mutual Assured Destruction, MAD) im Kriegsfall obsolet werden zu las- sen und allein den USA die Möglichkeit zu einem nuklearen Erstschlag zu verschaffen. Verstärkt wurden diese Befürchtungen auch durch die in der Zeit- schrift »Foreign Affairs« geführte Debatte um die Frage, ob ein begrenzter Atom- krieg führbar sei. Innerhalb dieser Konstellation führten dann Überreaktionen (z.B.

der Abschuss des koreanischen Passagierflugzeuges KAL 007 oder der Beginn der Operation RYAN) und Fehlwahrnehmungen (hinsichtlich der Intention der NATO mit dem Manöver Able Archer) dazu, dass sich die Situation zuspitzte, ohne je- doch zu eskalieren.

Genauso schnell wie die Lage zwischen den USA und der UdSSR eskalierte, wurde die Spannung wieder herausgenommen. Wiederum war es Reagan, der in verschiedenen Reden und Interviews ein Ende des nuklearen Rüstungswettlaufes

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zwischen den Systemantagonisten forderte. Ob dies auf eine grundsätzliche Um- kehr seines Denkens zurückzuführen oder eher der Tatsache geschuldet war, dass der innenpolitische Rückhalt für seine Außenpolitik dramatisch zurückging, diese Antwort bleibt Schild schuldig. Dennoch war es wiederum der amerikanische Prä- sident, der Druck aus der Auseinandersetzung herausnahm und damit auch die Wahrnehmung der sowjetischen Administration beeinflusste. Damit endete zwar nicht der Ost-West-Konflikt, aber das, wie der Autor es nennt, »gefährlichste Jahr«

des Kalten Krieges.

Georg Schild hat mit diesem Buch eine lesenswerte Abhandlung vorgelegt, die 1983 in den größeren Kontext des Ost-West-Konfliktes einbettet. Es ist sicherlich dem Forschungsschwerpunkt des Verfassers, nordamerikanische Geschichte, ge- schuldet, dass die amerikanische Seite ausführlicher behandelt wird als die sowje- tische Politik und Position. Dennoch nähert sich Schild einer ausgewogenen Dar- stellung beider Seiten und der Dynamik zwischen ihnen bestmöglichst an. Das vorliegende Buch liefert keine neuen Interpretationen, sondern ordnet, syntheti- siert und systematisiert die bereits existierende Literatur zu dem Themenkomplex.

Darüber hinaus ist es, was bei Akademikern nicht selbstverständlich ist, flüssig und somit sehr lesbar geschrieben und entbehrt nicht einer gewissen Dramatur- gie, die sicherlich den Nicht-Fachmann »fesseln« wird und den Leserkreis dieses Buches über die Scientific Community hinaus erweitern kann.

Carlo Masala

Ulf Kaack, Panzer. Alle Fahrzeuge von 1956 bis heute, München: GeraMond 2014, 136 S. (= Typenatlas Bundeswehr), EUR 26,99 [ISBN 978-3-86245-574-4]

Das Buch steht in der Nachfolge ähnlicher Bände des Autors im selben Verlag, die sich mit Schiffen und Flugzeugen befassen. Auf 135 Seiten bietet Ulf Kaack einen Überblick zu den Panzerfahrzeugen auf zumeist ein bis zwei Seiten, jeweils in Gruppen zusammengefasst. Das Ganze ist gestalterisch und typografisch im Ver- gleich zu ähnlichen Bildbänden gut gelungen.

Inhaltlich bietet das Werk weder neue Erkenntnisse noch eine besondere Tiefe.

Eine historische Einleitung auf gerade mal zwei Seiten (S. 6 f.) muss notwendig holzschnittartig bleiben und das wäre an sich akzeptabel. Nicht akzeptabel ist, dass die gemachten Aussagen im Resultat irreführend sind und teils veraltete For- schungsstände weitertragen.

Jedes Kapitel wird mit einem kurzen Einleitungstext und einem Fotomix be- gonnen. Als originelle Idee wird jeweils die einschlägige OSZE-Definition zitiert.

Dies irritiert, wenn Fahrzeuge im Kapitel ebendieser nicht entsprechen (z.B. M39, M107, Spz kurz), weil es keine Anmerkung zu Art, zeitlichem Kontext und dem Entstehungshintergrund der zitierten Quelle gibt.

Mangelnde Kontextualisierung setzt sich auch im Hauptteil fort. Durch extreme Knappheit der Texte werden oft mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Der M39 überzeugte z.B. laut Text die Bundeswehr, wurde dann aber sofort wieder ab- geschafft (S. 36) – warum? Aber auch bei Daten und Zahlen ist Skepsis angesagt.

Das Buch verzichtet auf den Nachweis jeglicher Belege/Quellen. Die summarisch angegebene Literatur aber weist weder Primärquellen noch hochwertige, technik- historische Literatur auf.

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Die historischen Fotos sind zum großen Teil bereits aus anderen Publikationen bekannt. Bei den aktuellen Fotos sind aussagekräftige Bilder dabei, aber die Zu- ordnungen sind nicht selten fragwürdig oder schlicht falsch (z.B. S. 34). Oft sind sie auch nur ausgesprochen seltsam, wenn z.B. laut Bildunterschrift eine Frontal- ansicht eines »Marders« versprochen wird und dagegen die hinten mitfahrenden sieben Panzergrenadiere abbildet.

Sprachliche und stilistische Unsicherheiten sind mehrfach zu finden und be- sonders in den Bildunterschriften ist ein gelegentlicher Verfall in die Verklärung des Militärs festzustellen. Ebenso typisch ist die Nutzung sehr spezieller Fachbe- griffe ohne Erklärung oder Glossar.

Insgesamt scheinen Zweck und Zielgruppe unklar. Das Buch richtet sich offen- bar an Laien, die einen schnellen Überblick wünschen. Diesen bietet es aber nur bedingt; unbelegt und mit der Notwendigkeit weiterer Recherche ein fragwürdiges Konzept.

Ralf Raths

Wulf Beeck, Mit Überschall durch den Kalten Krieg. Ein Leben für die Marine, Berlin: Hartmann Miles-Verlag 2013, 349 S., EUR 24,80 [ISBN 978-3-937885- 70-4]

Unter den ehemaligen Angehörigen der Bundeswehr, von denen wenige autobio- grafische Schriften vorliegen, ragen die Starfighter-Piloten als eine scheinbar ho- mogene Gruppe heraus. Rund 1800 »Flugzeugführer« wurden in den Jahren zwi- schen 1961 und 1988 vorwiegend in den USA auf dieser »missile with a man«

ausgebildet, mehr als 700 sind in einem Veteranenverein organisiert und 108 deut- sche Piloten starben infolge von Unfällen mit diesem als »Witwenmacher« oder

»fliegender Sarg« bezeichneten Waffensystem. Die Bedeutung des Starfighters an sich ist für die Geschichte der Bundeswehr nicht zu unterschätzen: neben dem Technologiesprung vom Unterschall- ins Überschallzeitalter bedeutete dies auch, dass die Luftwaffe und die Marineflieger seinerzeit in der 1. Liga der NATO-Luft- streitkräfte angekommen waren; sie befanden sich auf Augenhöhe mit den Ver- bündeten. Darüber hinaus prägte die Kohorte der 104-Piloten das in der Öffent- lichkeit vorhandene Bild der Luftwaffe der Bundeswehr über Jahrzehnte. Da es zur öffentlichen Wahrnehmung der Bundeswehr und der gesellschaftlichen Stel- lung der Soldaten in diesem Zeitraum bislang kaum Untersuchungen gibt, könnten autobiografische Schriften als Mosaiksteine diese Lücken – wenigstens ansatzweise – schließen, wenn sie neben einer soliden Kontextualisierung auch die Entwick- lungslinien der Streitkräfte vor dem Hintergrund der Geschichte der Bundesrepu- blik Deutschland berücksichtigen und sich nicht ausschließlich auf Autobiogra- fisches beschränken.

Einige Starfighter-Piloten haben bislang versucht, ihr Leben in die Zeitläufte einzupassen und dabei durchaus ansprechende Einblicke in die Geschichte der Bundeswehr geliefert. So jüngst literarisch überzeichnet und durch einen fiktiven

»Zwillingsbruder« als Erlebnisbericht verfremdet: Siegfried Loy, Jahre des Don- ners. Mein Leben mit dem Starfighter, Rosenheim 2011; dagegen die zeitlichen Um- stände schwerpunktmäßig auf die Starfighter-Krise solide reflektierend: Günter Josten, Gefechtsbericht – Kriegstagebücher 1939–1945. Kommodore in der Star- fighter-Krise. Hrsg. von Kurt Braatz und Wilhelm Göbel, Moosburg 2011. Da die

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Starfighter-Piloten der Bundeswehr allmählich aussterben, muss man sich fragen, ob jeder »Zeitzeuge« seine Sicht der Dinge als Buch veröffentlichen sollte. Um es vorweg zu nehmen: nein, selbst wenn man sich dazu berufen fühlt.

Wulf Beeck ist einer, der es dennoch versucht. Der 1937 auf Rügen geborene Marineoffizier beschreibt auf mehr als dreihundert Seiten seinen Lebensweg in der Bundeswehr, die er zwischen 1965 und 1995 »durchsegelt« oder »durchflogen«

hat. Dabei stützt er sich offensichtlich auf Erinnerungen, die er nicht weiter quali- fiziert. (Hat er vielleicht Tagebücher geführt?)

Das Buch zeichnet seinen Lebensweg seit dem Eintritt in die Bundesmarine im April 1965 als chronologische Erzählung nach. Der Leser erfährt vieles aus der mi- litärischen Laufbahn von Beeck, von der Grundausbildung über die fliegerische Vorausbildung in Deutschland sowie die Schulung auf dem Starfighter in den USA.

Seine Zeit als Pilot in einem Marinefliegergeschwader beschreibt der Autor ebenso detailliert wie seine anschließenden Verwendungen an Land, die mit dem Fliegen nichts mehr zu tun hatten, bis er zuletzt doch wieder mit der militärischen Fliege- rei in der trinationalen Ausbildung für Tornado-Besatzungen im englischen Cottes- more in Verbindung kam. Beeck besitzt keinen »normalen« Lebenslauf in der Bun- deswehr, seine Vita unterscheidet sich erheblich von denen anderer Offiziere und Marineflieger: sein spätes Eintrittsalter mit immerhin schon mehr als 25 Jahren und das Ende der Militärfliegerei aus gesundheitlichen Gründen sowie die vollkom- men unterschiedlichen, manchmal auch kurios erscheinenden Verwendungen in der Zeit danach sprechen für eine untypische Offizierlaufbahn innerhalb der Ma- rine und der militärischen Luftfahrt. So gesehen erscheint das Buch auf den ersten Blick reizvoll: ein Insider beschreibt, wie es bei ihm war. Man fragt sich gleich, ob sich Analogien zu anderen Biografien ergeben, ob man über andere Personen et- was erfährt, wie die Marine aus der Binnensicht erscheint und vieles mehr.

Von der Handelsmarine kommend und mit dem nautischen Rüstzeug verse- hen, zudem als Privatflieger auf Segel- und Motorflugzeugen schon geschult, war Beeck für die Verwendung als Flugzeugführer geradezu prädestiniert. Er durch- lief seine Offizier- und fliegerische Grundausbildung seit dem April 1965 und zeigte dabei hervorragende Leistungen, bevor er in den USA in der Klasse 69-A ab dem Jahr 1969 auf der Luke Air Force Base in Arizona auf dem Lockheed F-104G Starfighter ausgebildet wurde. Auch hier gehörte er zu den Besten. Interessant ist an diesem Teil des Buches, wie Beeck den »american way of life« annimmt. Nicht nur den Wechsel des Autos – er tauscht seinen VW gegen ein US-Mobil, mit Kli- maanlage! – auch weitere bedeutende Annehmlichkeiten der USA schildert er dem Leser: Sonnenbrillen mit geraden Bügeln, Pool am Haus und dergleichen.

Nach der Ausbildung folgte sein Einsatz im Marinefliegergeschwader 2 in Egge- beck nahe Flensburg, als Line-Pilot, also ohne exponierte Führungsverwendungen.

In seinem Geschwader erlebte er die Höhen und Tiefen des Einsatzes im Starfigh- ter, inklusive eines unmittelbar erlebten Absturzes (S. 213 f.) und Todes von Joa- chim von Hassel, Sohn des ehemaligen Bundesverteidigungsministers Kai-Uwe von Hassel, der 1970 ums Leben kam (S. 229–234). Während die bisherigen Schil- derungen noch unbekümmert wirken, wechselt Beeck in der Beschreibung seiner

»operativen Fliegerei« vom stellenweise forschen in den mitunter ernsten Ton. Den- noch bleibt die Erzählung immer an der Oberfläche und steigt nicht tiefer in das Erlebte und Erfahrene ein. Auch den anfänglich noch vorgesehenen Einsatz der Marinestarfighter als Jagdbomber zum Nuklearwaffeneinsatz beschreibt der Autor intensiv: anschaulich schildert er seine Vorbereitung auf einen Atombombenab-

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wurf, den die Piloten seinerzeit »im Schlaf beherrschen« mussten (S. 161–164). Spä- ter wird diese Einsatzoption für die Marineflieger auch aus finanziellen Gründen verworfen. Erkenntnisse dazu liefert der Autor nicht, auch nicht, wie er darüber dachte.

Die in der NATO üblichen Staffelaustausche im Zuge bilateraler Ausbildungs- vorhaben skizziert er ausführlich (S. 202–212; 218–228), reduziert sie im Wesent- lichen jedoch auf das Zwischenmenschliche, die touristischen Highlights und even- tuelle Probleme bei der Zusammenarbeit, beispielsweise mit Griechen und Türken – mit den anderen Luftwaffen gab es derlei Probleme offensichtlich gar nicht. So bleibt es für den Leser ein Rätsel, wieso sich solche »Urlaubsreisen« mit Einsatz- ausbildungen verbinden ließen.

Nach medizinischen Untersuchungen wegen einer plötzlich auftretenden Be- wusstlosigkeit (S. 244–248) wurde Wulf Beeck aus der Fliegerei »abgelöst« – wann das war, lässt sich dem Text, der kaum Datierungen anbietet, nicht entnehmen. Er leistete in der Folgezeit nahezu fast 20 Jahre seiner Dienstzeit bei Dienststellen der Marine ab, wohin die Personalführung ihn versetzte, weil sie ganz offenkundig mit ihm nichts anzufangen wusste. So war er Segeloffizier an der Marineschule Mürwik und konnte darüber hinaus, nach Gefälligkeiten für einen segelfreudigen Heeresgeneral, den Panzerführerschein erwerben. Seine Segelkenntnisse befä- higten ihn auch zum »Bergeoffizier« bei einigen Kieler Wochen sowie bei den Se- gelwettbewerben der Olympischen Sommerspiele 1972 die vor Kiel stattfanden (S. 238–243).

Leider vergibt sich der Autor konsequent die Chance, sein durchaus wechsel- haftes Leben in der Marine so eingehend darzustellen und mit der Geschichte der Marine der Bundeswehr zu verknüpfen, dass es auch für Außenstehende interes- sant sein könnte. Immer dann, wenn der Leser tiefergehende Schilderungen er- hofft, kürzt der Autor nach dem Motto ab: »was ich dem Leser ersparen möchte«.

Jahreszahlen werden vermieden und auch seine Zeitgenossen immer nur umschrie- ben – muss man da heute noch Rücksichten nehmen?

So bietet diese Lebenserinnerung leider keinen tieferen Einblick in die Ge- schichte der Bundesmarine und ihrer Angehörigen, und so werden Memoiren we- der den Ansprüchen an ein Fach- noch an ein Sachbuch gerecht.

Heiner Möllers

Raketentruppen der NVA-Landstreitkräfte. Geheimhaltungsgrad aufgehoben.

Hrsg. von Roland Großer, Halle (Saale): Projekte-Verlag Cornelius 2012, 404 S., EUR 29,50 [ISBN 978-3-86237-858-6]

Die Raketentruppen der NVA. Hrsg. von Kurt Schmidt. Mit einem Geleitwort von Armeegeneral a.D. Heinz Keßler. Mitautoren: Hans-Dieter Augusti [u.a.], Berlin: Militärverlag 2013, 223 S., EUR 19,95 [ISBN 978-3-360-02717-7]

Bernd Kirchhainer, Dieter Reichelt und Lothar Herrmann, Die 43. Fla-Raketen- brigade »Erich Weinert«. Fakten und Geschichten, Friedland: Steffen 2012, 381 S., EUR 19,95 [ISBN 978-3-942477-31-4]

Horst Stechbarth, ehemaliger Generaloberst und langjähriger Chef der NVA-Land- streitkräfte, stellt im Vorwort des ersten hier vorzustellenden Buches über die Ra- ketentruppen fest, dass der Leser dort »auf viele Fragen eine Antwort« (S. 9) fin-

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