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Befreiungstheologie eine Lebenskunst?

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R AINER M ARTEN

Befreiungstheologie – eine Lebenskunst?

Originalbeitrag erschienen in:

Eckhard Lade (Hrsg.): Christliches ABC für heute und morgen: Handbuch für Lebensfragen und

kirchliche Erwachsenenbildung.

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Befreiungstheologie - Eine Lebenskunst?

von Prof. Dr. Rainer Marien

Was gehen uns, uns Philosophen!, die Verarmten und Entrechteten, die Ohn- mächtigen und Entwürdigten der menschlichen Gesellschaften an? Nichts, gar nichts!, wäre die Antwort, ginge es nach dem Existentialontologen Martin Heidegger. Der empfiehlt - im Alter von Ende 40 - die sich in der „Seinsverlas- senheit" „austobende Menschenmasse" der „Vernichtung" durch höhere Kräfte an. Als Achtzigjähriger schreibt er einem Vertrauten, daß es keinen Grund gebe, „warum das, was jetzt die Erde bevölkert ..., ins Endlose weiter- existieren soll". Menschen, die sprachlich, völkisch und geistig nicht ihr voll gewahrtes Heimat- und Herkunftsrecht haben, finden in seinem Denken kei- nen Wesensort: Sie haben kein Wesen; sie sind wesenlos. In dieser Philoso- phie ist Befreiungstheologie vorweg um allen geistigen Kredit gebracht. Denn was gehen die Verarmten und Entrechteten die Theologen an? Alles, lautet die Antwort, zumindest dann, wenn Befreiungstheologen das Wort haben. Es bedarf also schon einer besonderen Philosophie, um mit der Theologie, die die Befreiung der Verarmten im Sinn hat, in ein Gespräch zu kommen. Ich will Ihnen diese Philosophie heute vorführen, dies allerdings so, daß sie selbst nicht thematisch wird. Sie geht ganz in die Deutung der Befreiungstheologie als einer Form von Lebenskunst ein.

Die Befreiungstheologie gibt sich altruistisch. Hören Sie nur, wie Clodovis Boff 1978 Leonardo Boff zitiert:

Das Wichtigste ist nämlich nicht die Theologie der Befreiung, sondern die Befreiung.

So groß gemeint dies Wort ist, so irreführend ist es auch. Denkt die Befrei- ungstheologie etwa an ihre eigene Instrumentalisierung? Nein, sie will sich selbst als Befreiungstheologie, weil sie in der Vollendung ihrer selbst genau die Befreiung sich vollenden sieht, die ihr den Namen gibt. Befreiungstheolo- gie und Befreiung haben ein und denselben kairologischen wie eschatologi- schen Sinn; ihr „und" ist für ihr Verständnis wegweisend.

Befreiungstheologie ist - in formaler Prinzipialität - durchgängig eine Theolo- gie des „und": Auf ganz eigene Weise weiß sie sich dem alle Theologie umfas- senden und jede Theologie durchherrschenden „und" verpflichtet, das in sei- ner einfachsten und eindeutigsten Wendung

Gott und Mensch

heißt. Das nämlich ist ihr unüberholbarer Selbstentwurf: So, wie Gott und Mensch eins sind, so sollen auch Theologie und Befreiung eins sein. Wird

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dennoch eigens gewichtet, daß das Wichtigste nicht die Theologie der Befrei- ung, sondern die Befreiung sei, dann muß diese Wahrheit auch eine andere aushalten:

Das Wichtigste ist nicht Gott, sondern der Mensch.

Jesus, so versteht es der angesprochene Theologe, ist Gott und Mensch.

Nimmt er nun die Befreiung für wichtiger als die Theologie, dann muß es ihm auch wichtiger sein, daß Gott Mensch als daß der Mensch Gott ist. Das eigen- ste „und", wie es ihn thematisch fasziniert, läßt deutlich erkennen, daß es sich so verhält. Aus über dreißig einschlägigen „und", die ich mir aufgelistet habe, wähle ich für heute vier:

Theorie und Praxis,

Spiritualität und Engagement, Kirche und Gesellschaft, Gott und der Andere.

Wo - gut essentialistisch - in der Theorie auf das Eigentliche und Wesentliche gesetzt wird, und - gut autoritär - in der Praxis auf das Hierarchische, verlie- ren diese „und" die ihnen eigene Kraft des Verbunden- und Geschiedenseins:

Jeweils „rettet" sich eins der beiden zum anderen, und zwar so, daß es im anderen die Eine Wahrheit als die seine findet. Sie werden überrascht sein, wie leicht das geht:

Theorie ist die eigentliche Praxis.

Spiritualität ist das eigentliche Engagement.

Kirche ist die eigentliche Gesellschaft.

Gott ist der eigentliche Andere.

Wird es von den Oberen so theoretisiert und praktiziert, dann mag der Gläubi- ge dem nicht nachstehen, und er tut es für gewöhnlich auch nicht: Die Spiri- tualität seines Glaubens ist ihm bereits das Engagement selbst. Sieht der

„wahrhaft" Gläubige sich selbst gefährdet, dann sieht er seinen Glauben ge- fährdet, nicht jedoch sein Leben, nicht Haus und Hof, Gesellschaft und Staat.

Die Kirche wieder braucht sich nicht selbst zu überschreiten, um „alle Völker zu lehren". Eschatologisch und damit „eigentlich" gesehen, ist sie schon alles Volk, in dem sich die Gegenwart des dreieinigen Gottes erfüllt. Alle Mensch- heit gehört vorweg zu ihrem Binnenverhältnis. Nur darum ist es überhaupt möglich, daß sie in ihrer Zeitgestalt einem Missionsbefehl nachkommt: ge- genwärtig in Angriff zu nehmen, was zukünftig bereits ist.

Gott schließlich ist selbst der Andere, der ebenso konkrete wie allgemeine: Er ist ja in jedem Anderen der Andere. Wie also sollte ein Theologe und Gläubiger aus seiner reinen Gottesbeziehung heraustreten müssen, um nicht gerade in ihr - über alle Zufälle und Begegnungsmöglichkeiten des Lebens hinweg - schon bei allen Anderen zu sein?

Fazit: Wird - gut essentialistisch und hierokratisch - auf die Reinheit und Ein-

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che Praxis, Spiritualität das eigentliche Engagement, Kirche die eigentliche Welt und Gesellschaft, Gott der eigentliche Andere.

Für die theoretische und praktische Selbstbestimmung der Befreiungstheolo- gie ist es entscheidend, diesen Essentialismus und Hierokratismus zu verab- schieden. Sie nimmt das einzigartige „und" des geistigen und geistlichen Menschen in allen seinen Peripektiven ernst. Deutet sie es als Vermittlung, Synthese und selbst Identität (auch das unvermeidliche Wort „Dialektik" fehlt nicht), dann will sie doch nie der einen Seite den unendlichen Vorzug geben.

Dabei ist sie alles andere als unparteiisch. Ihre „Vermittlung" des im „und"

Auseinander- und Zusammengehaltenen versucht ja gerade dadurch dem

„Einen" und „Anderen" gerecht zu werden, daß sie gewichtet und wertet.

Eben darum, weil sie ganz selbstverständlich theozentrisch denkt und ver- fährt, wirft sie das ganze Gewicht ihres Interesses über sich hinaus auf ein anderes als sie selbst. Sie weiß nämlich, daß sie sich dadurch nicht von sich selbst entfernt, sondern sich vielmehr- im Prinzip - ihre eschatologische Voll- endung zumutet, wenn nicht zuspielt. Deshalb darf es nicht wunder nehmen, wenn es die Befreiungstheologie gerade als Theologie so will und wollen muß, daß sich Theorie aus der Praxis versteht, gläubige Spiritualität aus dem gläu- bigen Engagement, Kirche aus ihrer Gesellschaftlichkeit und Weltbezogen- heit, Gott aus dem anderen Menschen. Die „Synthese" von Theorie und Pra- xis gründet in der Praxis, entsprechend die von Spiritualität und Engagement im Engagement, die von Kirche und Gesellschaft in der Gesellschaft, die von Gott und dem Anderen im Anderen.

Doch nun zur Lebenskunst: zu meinem eigenen Geschäft. Ich bin kein Theo- loge, nicht einmal ein Vertreter christlicher Philosophie. Lebenskunst, wie ich sie als Kunst gelingend geteilten Lebens denke, stellt den Entwurf einer philo- sophischen Ethik dar, die aus sich keine Gretchenfrage beantwortet. Dennoch habe ich ein eigenes Interesse an der Befreiungstheologie, sofern sie positive Anstöße für eine Ethik gelingenden Lebens zu geben verspricht.

Der Befreiungstheologe, wie ich ihn sehe, besinnt sich - in Verantwortung lebendiger Zeitgenossenschaft - neu auf seine Herkunft als Theologe. Diese Besinnung steht unter den Zeichen des Glaubens und der Lebensteilung.

Denn das ist unfraglich seine Herkunft: der gemeinsame Glaube und das ge- meinsame Leben. Das Wahrmachen der eigenen Herkunft steht somit im Zei- chen der - befreienden - Evangelisation von Armen und der Lebensteilung mit Armen.

Das Element befreiungstheologischer Selbstbesinnung und Selbstverantwor- tung ist der Glaube. Zeigt sich theologisches Wissen nicht nur von rationaler, sondern mehr noch von „geschmacklicher" Art (sapientia!), dann lebt der Theologe als Wissender vom Glauben und im Glauben; sein Wissen verdankt sich im letzten dem Glauben, nicht aber sein Glaube dem Wissen.

Wie Theologie zu dem ihr eigenen Wissen gelangt, ist sie ein Sich-Besinnen, Sich-Begeistern und Sich-Vergewissern aus Glauben. In diesem Wissend- werden erdenkt der Glaube sich selbst, erfüllt er sich mit Geist, überzeugt er

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sich selbst davon, im Grunde seiner selbst den Grund seiner selbst immer schon erblickt zu haben: die zeitlose Herkunft aus dem Anblick Gottes, wie er eschatologisch verheißen ist.

Die - gläubige - Selbstbesinnung des Befreiungstheologen beginnt wissend- vergewissert mit der eschatologischen Hoffnung, dies aber in der Form ihrer Verkündigung. Auf dem Wege zu seiner Herkunft hat er das eigentlich Aposto- lische des Theologen wiedergewonnen. Anstatt seine volle Berufung in einem gottgeweihten Gelehrtentum zu finden, weiß er sich auf Grund seines Glau- bens zur Evangelisation bestellt. Evangelisieren heißt: die christliche Hoff- nung im Glauben wissend-vergewissert zu praktizieren. Wie darum der Glau- ben nicht ohne die ihm eigene Hoffnung lebt, so auch diese nicht ohne die ihm eigene Liebe. Evangelisierung ohne Lebensteilung mit den Evangelisierten müßte unter den Bedingungen, unter denen der 13efreiungstheologe antritt, den kläglichen aufklärerischen Versuchen der Bewußtseinsveränderung glei- chen: Der eine Kopf sucht auf einen anderen Kopf verändernden Einfluß zu gewinnen, um ihn dazu zu bewegen, doch etwas den Hals zu drehen („umzu- kehren", „umzudenken"). Nein, hier ist lebensteilige Gegenwart in praktischer Absicht gefragt. Das Evangelium der Hoffnung wäre in seinem Mund ein lee- res Wort, wenn es nicht mit der Eucharistie der Liebe einherginge. Wer sich aber in christlicher Liebe mitteilt, teilt auch schon mit denen, die für sein Den- ken und Handeln empfänglich sind.

So finden sich Besinnung, Begeisterung und Vergewisserung, denen sich der Befreiungstheologe kraft seines Glaubens verschreibt, praktisch in seinem Evangelisieren wieder, das Evangelisieren aber, wie es kraft der in ihm mitge- teilten Hoffnung auf seinen Grund kommt, im geteilten Leben mit denen, die sich als empfänglich für jene Hoffnung erweisen. Wer aber sind die, bei denen er so auf dem Wege in seine Herkunft zu sich selbst kommt? Mit wem vermag er als der Theologe, der er ist, sein Leben zu teilen, so daß sich unter Men- schen das ihm eigene uti et frui zeitigt? Auf diese weitgestellte Frage möchte ich eine beschränkte Antwort geben: Befreiungstheologie, wie sie sich in der Gestalt der lateinamerikanischen zu erkennen gibt, deute ich als eine Form von Lebenskunst, die ihre Spezialität darin hat, sich auf das Gelingen einer dreieinigen Lebensteilung zu verstehen, nämlich auf die Lebensteilung des Theologen mit

1. nach Gründen Suchenden, 2. nach Möglichkeiten Suchenden, 3. Hilfe Suchenden.

Zum ersten ist er als Wissenschaftler unter Wissenschaftlern und Intellektuel- len gefordert, ohne jedoch allein Wissenschaft im Blick zu haben, zum zwei- ten als gesellschaftlich leitend Verantwortlicher unter ebensolchen, ohne je- doch allein das Funktionieren der Gesellschaft im Blick zu haben, zum dritten und letztlich als „Nächster" unter „Nächsten", ohne jedoch allein Hilfe für die Armen und gesellschaftlich Marginalisierten im Blick zu haben. Die Kraft des Glaubens bindet alles drei, es überhöhend, in eins: in die Geschichte des Menschen als die seiner einstigen Befreiung durch den Gott des Evangeli- ums.

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1. Die

Lebensteilung mit nach Gründen Suchenden

Christlich-theologische Rationalität - das klingt nach christlicher Logik und Kausalität. Das Gewissen des Wissenschaftlers und überhaupt des kritischen und skeptischen Intellektuellen versagt sich der Theologie, möchte man mei- nen, ganz von selbst. Der Philosoph, der mit „Lebenskunst" eine Ethik des gelingenden Lebens entwirft, sieht das anders. Er kann sich eine Lebenstei- lung mit Befreiungstheologen denken, so weit jedenfalls, wie er sie selbst als Künstler versteht.

Theologie, die weiß, daß sie in ihrer Art der Vergewisserung Gottes und der göttlichen Trinität autonom verfährt, ist als Wissenschaft eine Kunst. Wer - entsprechend - als Theologe und Künstler seine Rationalität, Spiritualität und Existentialität zum Einsatz bringt, gehört dabei nicht verschiedenen Welten an. Diese drei Vermögen, theologisch er selbst zu sein, sind in der Art, wie er dies als Künstler ist, vollends vermittelt. Gerade dann, wenn es zu seiner Künstlerschaft gehört, die Kunst der gelingenden Lebensteilung zu üben, hat er in nichts sich selbst zu verlassen, nicht von einer Welt in eine andere zu wechseln. Wird seine Lebensteilung mit Anderen, die sich ebenfalls „mensch- lich" vergewissern und damit in ihrem je eigenen Wissensverhalten von Grund auf zu verantworten suchen, exemplarisch als die mit Philosophen vorgeführt, dann ist an keine Verrenkung und keinen Spagat des Theologen zu denken, an keine „diachrone Bilokation".

Das, worin sich der Befreiungstheologe autonom bewegt, ist kein Verhältnis zweier Welten, kein Verhältnis von Geistlich und Ungeistlich, Heilig und Unhei- lig, Göttlich und Gottlos, nicht einmal eines von Eigen und Fremd, sondern eines von Grund und Gegründetem. Soweit er sich in der ihm eigenen Art rational, spirituell und existentiell einbringt, lebt er eine Spannung von Grund und Gegründetem aus. Nennen wir den Grund den Willen Gottes, dann heißt alles dadurch Gegründete entsprechend das göttlich Gewollte. Beide Namen reichen zu, die Eine Welt zu markieren, in der der Befreiungstheologe in geisti- ger, geistlicher und individueller Selbstverantwortung lebt und sich menschli- cher Lebensteilung öffnet.

Eine unter vielen Möglichkeiten, den Befreiungstheologen in seiner Einen Welt vorzuführen, wie sie sich von Grund zu Gegründetem spannt, ist sein für le- benspraktische Realität offenes Gehör, sofern es sich als wissendes und zu- gleich als poetisches erweist. Wie er nämlich an seinem Ort zu seiner Zeit dem geschichtlichen Menschen zugewandt ist, hört er einen Schrei. Niemand sonst könnte diesen Schrei hören. Es ist ein Schrei zum Himmel, der die Un- gerechtigkeit und Unerträglichkeit menschlicher Verhältnisse, wie sie Men- schen für Menschen herstellen, beklagt und anklagt. Es ist ein Klage- und Anklageschrei, der eigentlich gar nicht mehr Menschen, sondern allein noch dem Ohr Gottes gilt. Es müssen darum schon ganz besondere Theologen sein, auf ganz besondere Weise wissenschaftlich und künstlerisch Verant- wortliche, die ihren Grund in Gott nehmen, um ausgerechnet für diesen Schrei bereits unter Menschen ein Ohr zu haben. Ihr „Geheimnis": Sie verantworten

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diesen Schrei, obwohl er nicht aus ihrem Munde ertönt, selbst, weil sie die Richtung bestimmen, in die er zielt.

Dieses Hören ist, so haben wir das zu verstehen, reine Poesie: Menschliche Realität ist auf autonome, nicht willkürliche Weise künstlerisch gedeutet und gestaltet, wobei die Vergewisserung Gottes der tragende Grund ihrer künstle- rischen Tätigkeit ist. Alle Poesie, die dem Befreiungstheologen gelingt, hat aber ihren Grund in der Poesie Gottes: des Willens Gottes, eben des Gottes als Grund. Die Poesie der zum Himmel schreienden Ungerechtigkeit und Er- bärmlichkeit findet ihr zureichendes Wort, wie der Theologe weiß, allein in einem umfassenderen Poem, das die Poesie des Willens und des Verspre- chens Gottes einschließt, die Poesie von Schuld (Sünde) und Entsühnung, von Übel und Befreiung (Erlösung).

Ist das die theologische Vorgabe, dann hat sich die Lebensteilung von Befrei- ungstheologe und Philosoph, die sich in gegenseitiger geistiger und künstle- rischer Befruchtung vollzieht, weder in ideologischen Vorbehalten noch in Aufforderungen zur partiellen Selbstaufgabe zu verfangen. Beide reklamieren ja mit demselben Resultat das Gewissen menschlichen Lebens. Wenn die Begründung menschlicher Entrechtung, Entmachtung und Entwürdigung als einer so und nicht anders zu beurteilenden beim Befreiungstheologen in der Einsicht mündet, daß den Armen und Entrechteten Gerechtigkeit nur wider- fährt, sofern es gelingt, sie bereits als Ver-armte In re und nicht allein als Ent- armte in spe zu brauchen und das heißt das Leben mit ihnen zu teilen, dann trifft er genau die Sicht, die auch diejenige der philosophischen Ethik gelin- genden Lebens ist.

2. Die Lebensteilung mit den nach Möglichkeiten Suchenden

Der Befreiungstheologe ist für eine mögliche Lebensteilung mit Menschen, die gesellschaftlich etwas anleiten und bewegen, auf diejenigen verwiesen, die Augen und Ohren für gesellschaftlich produzierte Entrechtung, Entwürdi- gung, Verarmung und zugleich für Möglichkeiten, hier etwas zu ändern, ha- ben. Innerhalb welcher Gruppierungen er sie auch findet - er wird sie lebens- teilig so zu nehmen haben, daß sie für ihn fruchtbar werden: für eine Subtheo- logie. Gemeint ist damit eine Theologie von unten, durch die christliche Verge- wisserung und Spiritualität ganz von selbst in einer entsprechenden Politik von unten wirksam werden - in eins evangelisch und politisch. Diese Theolo- gie ist nicht länger auf dem Feldherrnhügel postiert, von dem aus sich in stra- tegischer Aufsicht, ja in hierarchischer Engels- und Himmelsperspektive die irdischen Heerscharen - theoretisch beziehungsweise ideologisch - ordnen lassen in für Himmel und für Hölle Bestimmte, in kluge und törichte Jungfrau- en, in Arme und Reiche, Gerechte und Ungerechte. Jetzt haben sich vielmehr Wissen und Spiritualität lebenspraktisch mitzuteilen, um darin zu überzeugen, daß sie für menschliche Belange fruchtbar sind. Menschen wachen Auges für

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menschenverachtende und -vernichtende Ungerechtigkeit vermögen so ein- ander lebensteilig zu brauchen, um sich in der je eigenen Gewißheit zu stär- ken, daß keine noch so bedrückende geschichtliche Gegenwart ein Grund von vollkommener Verzweiflung oder purem Zynismus sein kann und sein darf.

3. Die Lebensteilung mit Hilfe Suchenden

Aus der ihm eigenen Einheit von Rationalität, Spiritualität und Existentialität ergibt sich für die Lebensteilung, wie sie sich dem Befreiungstheologen als Möglichkeit seiner selbst eröffnet, über die mögliche geistige und politische hinaus eine im letzten notwendige christliche: dem Nächsten ein Nächster zu sein, dem Hilfsbedürftigen ein Helfender. Ohne ein gelingendes Verhältnis zu den Armen und Entrechteten wäre der Befreiungstheologe nicht der, als der er sich entwirft: der Evangelist der Armen, der ein Apostel Christi ist. Gelingt ihm die praktische Erfüllung seines Selbstentwurfs, dann wird er jedoch unmög- lich selbst ein Armer und Entrechteter, sofern das die Selbstaufgabe als Theo- loge bedeutete. Teilt er die Gegenwart der Armen in praktischer Absicht, dann tut er das doch als der Künstler, der er ist. So begegnen ihm die Armen nicht zuletzt als Potential der Evangelisation. Das aber ist bereits Poesie. In seinem Verhältnis zu den Armen verwandelt sich auch schon deren Arm- und Ent- rechtetsein: Es steht im Lichte der Frohen Botschaft Gottes. In dieser aber steht auch er selbst. Er teilt das evangelische Wort der Hoffnung mit und teilt das eucharistische Brot der Hoffnung aus. In dieser Mitteilung und Austeilung teilt er als Helfender das'christliche Leben voll und ganz mit den Hilfe Suchen- den: Ihre Hoffnung ist die seine, seine die ihre.

Teilt der Befreiungstheologe einmal das Bäckerbrot mit Hilfsbedürftigen, legt er selber mit Hand an und hilft er mit leibhaftiger Tatkraft, dann ergibt sich das für ihn aus lebenspraktischen Situationen ganz von selbst. Nichts bringt ihn jedoch dabei dazu, sich selbst aufzugeben. Die gemeinsam gehörte und ge- schmeckte Verheißung manifestiert sich dann allein neu in leibhaftiger Gegen- wart. Lebt er, wenn es sich so gibt, einmal wirklich ärmlich mit Armen, dann rechnet er sich dieses Armsein nicht als Opfer und insgeheim als Verdienst zu.

Ganz im Gegenteil. Die geteilte Armut hat sich ja bereits als Armut gewandelt.

Sie ist, um es mit einem neuen Wort zu wiederholen, auratisiert durch die Verheißung Gottes. Die Befreiungstheologie zeigt sich damit nicht weniger praxisdefinit als die Armut, die sie in ihrem transzendenten Glanz erst durch evangelische Praxis und Poesie hervorbringt. Der Arme, den der Befreiungs- theologe braucht und der zugleich ihn zu brauchen versteht, ist in eins leben- dige Anklage und lebendige Hoffnung. Der durch die Befreiungstheologie Evangelisierte ist schon befreit, weil er auratisch verändert ist, mag auch wei- terhin das Brot zu wenig und die Ungerechtigkeit schier unerträglich sein.

Wie ich es denke, wird die Befreiungstheologie keine Strategien des politi- schen Kampfes um soziale Veränderung zu entwickeln haben, wenn das be-

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deutete, daß sie an Mittel dächte, die in ihrer Eigenart ihren Zielen fremd sind.

Aus der gelingenden Lebensteilung, wie sie für diese Theologie geistig und politisch möglich, christlich aber notwendig ist, kann sie allein auf die Lebens- teilung selbst setzen. Gerechtigkeit hat praktisch nur ein Ziel: Gerechtigkeit.

Zugleich gilt, daß Gerechtigkeit als Ziel nur ein Mittel hat: Gerechtigkeit. Dar- um eben ist Theologie von unten angesagt: Die eschatologische Hoffnung auf Gerechtigkeit verlangt nach gegenwärtig praktizierter Gerechtigkeit. Der Be- freiungstheologe als wahrer Lebenskünstler wird dafür kraft seiner Poesie und seines Glaubens offen sein, um von seiner intellektuellen Kraft, seinem politi- schen Gespür und seiner lebendigen Tatkraft nicht weiter zu reden.

Aus:

Eckhard Lade, Redaktion und Herausgeber, Christliches ABC heute und morgen, Handbuch für Lebensfragen und kirchliche Erwachsenenbildung

DIE Verlag, Bad Homburg, 1978 ff., Ergänzungslieferung Nr. 1/1998

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