Welche Rolle spielen Medikamente in der Behandlung von autistischen Kindern?
Ronnie Gundelfinger
Interessenkonflikte
Honorare für Vorträge und Weiterbildungsveranstaltungen von
• Roche: bisher noch kein Medikament
• Opopharma: Medikinet, Elvanse, Intuniv
• Neurim: Slenyto
Unbezahlte Beratertätigkeit für Aprofol: Folinsäure
Wie wirken Psychopharmaka?
Psychopharmaka wirken im Gehirn und sollen psychische Prozesse beeinflussen, psychische Symptome vermindern und/oder psychische Leistungen verbessern!
Das Gehirn besteht aus Nervenzellen (Neuronen) und nicht-neuronalen Zellen, v.a. Stützzellen (Gliazellen), Blutgefässen, Hirnhäuten.
Psychopharmaka beeinflussen Funktion der Neuronen.
Grundmodell einer Nervenzelle
Wie arbeiten die Nervenzellen?
• Ein Neuron erhält einen Impuls und leitet ihn zu anderen Nervenzellen weiter.
• Die Verbindung zwischen Nervenzellen heisst Synapse.
• Ein Neuron empfängt im Durchschnitt Impulse von 1000 Synapsen und leitet sie über mehr als 1000 Synapsen weiter.
• Es gibt zwei Übertragungssysteme: elektrisch und chemisch
• Die elektrische System erfolgt nach einem ja/nein Modell
• Das chemische System ist flexibel und kann Impulse bei der Übertragung hemmen oder verstärken.
• Psychopharmaka beeinflussen die chemische Überleitung!
Die Synapse
Die Synapse
• Zwischen den Neuronen vermittelt eine chemische Substanz. Sie heisst
Neurotransmitter. Es gibt ca. 20 Neurotransmitter. Jedes Neuron produziert nur 1 Neurotransmitter.
• Die wichtigsten Neurotransmitter sind Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Adrenalin, Glutamat und GABA.
• Ein elektrischer Impuls löst die Ausschüttung des Neurotransmitters in den Synapsenspalt aus.
• Der Neurotransmitter bindet sich an einen Rezeptor der nächsten Zelle und löst dort ein Signal aus. Rezeptoren sind spezielle Proteine an der Zelloberfläche.
• In der Empfängerzelle kann der Impuls unterschiedliche Prozesse auslösen.
• Der Neurotransmitter wird nach der Ausschüttung entweder im Synapsenspalt abgebaut oder über einen Transporter wieder in Nervenzelle aufgenommen.
Wie wirken Psychopharmaka?
• Psychopharmaka können sich an die gleichen Rezeptoren wie
Neurotransmitter binden und so ihre Wirkung verstärken oder abschwächen.
• Psychopharmaka können die Wiederaufnahme durch den Transporter verlangsamen und dadurch die Konzentration des Neurotransmitters im Synapsenspalt erhöhen.
• Psychopharmaka können den Abbau des Neurotransmitters im Synapsenspalt beeinflussen und so seine Konzentration erhöhen oder vermindern, z.B.
Antiepileptika.
Wie wirken Psychopharmaka?
• Neuronen, die mit dem gleichen Neurotransmitter funktionieren, bilden im Gehirn Netzwerke, z.B. das dopaminerge oder das serotonerge System.
• Die meisten Neurotransmitter wirken im Körper auch ausserhalb des Gehirns.
Innere Organe haben auch Rezeptoren.
• Fast alle Psychopharmaka wirken auf Dopamin, Noradrenalin oder Serotonin.
• Die meisten Synapsen wirken mit Glutamat, das eine exzitatorische, also verstärkende Wirkung hat.
• GABA ist der wichtigste inhibitorische, also hemmende Neurotransmitter.
• Es gibt viele Hinweise, dass ein verändertes Verhältnis von Glutamat zu GABA bei autistischen Störungen eine Rolle spielt.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen UAW
Neurotransmitter wirken nicht nur auf einen Rezeptortyp und entfalten ihre Aktivität in verschiedenen Hirnregionen, aber auch an Körperorganen.
Es ist deshalb nicht überraschend, dass neben der erhofften Wirkung auch unerwünschte Wirkungen (Nebenwirkungen) auftreten.
Es ist wichtig, kurz- und langfristige, seltene und häufige sowie lästige, gravierende und gefährliche UAW zu unterscheiden!
Medikamenten-Namen
Zuerst kommt eine chemische Formel, der die Firma dann den Substanz-Namen gibt.
Substanz: Methylphenidat
Präparate: Ritalin (Original), Concerta, Medikinet, Equasym Substanz: Risperidon
Präparate : Risperdal (Original), Risperidon- Mepha, -Sandoz - …. (Generikum) Substanz: Aripiprazol
Präparate : Abilify (Original), neu auch Generika Substanz: Sertralin
Präparate : Zoloft (original), Sertralin-Sandoz, -Helvepharm, -Spirig, - Mepha
Off-label
Medikamente durchlaufen einen langwierigen Zulassungsprozess. In der Schweiz entscheidet Swissmedic, welches Medikament für welche Krankheit in
welchem Altersbereich zugelassen wird.
Danach entscheidet das BAG, ob das Medikament auf die Liste der Medikamente kommt, die von der Krankenkasse finanziert werden.
Der Prozess ist aufwändig und teuer, viele Pharmafirmen sind nicht daran interessiert, wenn das Medikament nur für einen kleinen Kreis in Frage kommt, z.B. Kinder mit Autismus.
Es gibt für einzelne Medikamente Studien mit autistischen Kindern. Trotzdem sind diese Medikamente nicht zugelassen. Ein Arzt darf sie «off-label» verwenden, muss die Eltern aber darüber informieren.
Ein Beispiel wäre Melatonin bei Schlafproblemen.
Guidelines (Leitlinien) evidence based
RCT (randomized controlled trial) Randomisierte, doppel-blind kontrollierte Studien Ia Metaanalyse mehrerer RCTs
Ib 1 grosse RCT
II nicht randomisierte Studie III Fallstudien
IV Expertenmeinungen
Welche Medikamente gibt es?
Im Alltag gebräuchliche Einteilung nach Ziel-Symptomen, also
• Antidepressiva, zB. Fluoxetin, Sertralin, Citalopram
• Antipsychotika (Neuroleptika), zB. Risperidon, Aripiprazol (Abilify), Pipamperon (Dipiperon)
• Stimulantien, zB. Methylphenidat (Ritalin, Concerta, Medikinet…..)
• Stimmungsstabilisatoren, zB. Valproat, Carbamazepine, Lithium
• Angstlöser, zB. Benzodiazepin (Temesta)
• Schlafmittel, zB. Melatonin
Was wollen wir behandeln und was behandeln wir?
Kernsymptome sind
• Probleme der Kommunikation und Interaktion
• Repetitives und eingeengtes Verhalten
• Sensorische Überempfindlichkeiten
Mögliche Begleitsymptome sind
• Reizbarkeit, Wutausbrüche und selbstverletzendes Verhalten (85 %)
• Ängste (40 - 50%)
• ADHS ( 30 - 50%)
• Schlafprobleme (50 - 80%)
• Depressionen
• Zwänge
• Bipolare Störungen und Psychosen
Was wollen wir behandeln und was behandeln wir?
Kernsymptome sind
• Probleme der Kommunikation und Interaktion
• Aktuell sind keine Medikamente verfügbar, Studien mit Oxytocin und einem Vasopressin-Agonisten
• Repetitives und eingeengtes Verhalten
• Studien mit Risperidone und Aripiprazol zeigen einen gewissen Effekt auf repetitives Verhalten und Stereotypien
• Sensorische Überempfindlichkeiten
• Keine Medikamente bekannt, einzelne Betroffene berichten von positivem Effekt von Cannabidiol CBD
Start low, go slow !!
Reizbarkeit, Wutausbrüche, selbstverletzendes Verhalten
Am besten untersucht ist Risperidon, mehrere Studien und Zulassung in den USA 2006.
UAW: Appetitsteigerung, Gewichtszunahme, metabolische Veränderungen Müdigkeit
Speichelfluss
Prolactin-Erhöhung
Ebenfalls zugelassen in den USA ist Aripiprazol (Abilify).
UAW: Gewichtszunahme etwas seltener Müdigkeit
Keine Prolactinerhöhung
Pipamperon (Dipiperon) wird in USA nicht verwendet, keine Studien, ähnliche
Hyperaktivität, Konzentrationsstörung
Methylphenidat (Ritalin) ist in Studien mit autistischen Kindern untersucht worden.
49 % der Kinder und Jugendlichen sind Responder.
18 % brechen Behandlung wegen starker UAW ab
(Reizbarkeit, emotionale Durchbrüche, sozialer Rückzug, Schlafstörung, Appetitverlust).
Als Alternative kommen Atomoxetin (Strattera) oder Guanfacin (Intuniv) in Frage.
Strattera gibt es neu als Lösung. MPH-Tropfen können in gewissen Apotheken bestellt werden.
Ängste, Zwänge, Depression
Bei «neurotypischen» Kindern und Jugendlichen werden diese Störungen alle mit SSRI (selective serotonin reuptake inhibitors) behandelt
Depression eher mit Fluoxetin (Fluctine)
Ängste und Zwänge mit Sertralin (Zoloft, Sertralin-Sandoz, - Mepha, - Spirig usw.)
Studien mit autistischen Kindern und Jugendlichen haben keine eindeutigen Verbesserungen mit SSRI gezeigt.
Schlafstörungen
Verschiedene Studien mit kurzwirksamem Melatonin zeigen, dass Kinder damit schneller einschlafen. Es ist aber nicht klar, ob sie gesamthaft länger schlafen.
Kurzwirksames Melatonin hat auch wenig Einfluss auf nächtliches Erwachen.
Ein retardiertes Melatonin (Slenyto) für Kinder ist von Swissmedic zugelassen und damit in Apotheken verfügbar. Das BAG hat aber bisher die Aufnahme in die Liste der kassenpflichtigen Medikamente abgelehnt. Im Moment wird es evtl. von Zusatzversicherungen oder IV übernommen. Erste Studien, darunter eine Langzeitstudie über 2 Jahre, zeigen Verbesserungen beim Einschlafen, beim nächtlichen Erwachen und eine verlängerte Gesamtschlafdauer ohne signifikante Nebenwirkungen. Bei besserem Schlaf auch weniger
Verhaltensauffälligkeiten am Tag.
Bei ungenügender Wirkung können niedrig dosierte Neuroleptika eingesetzt werden, zB.: Risperidon, Quetiapin (Seroquel, Sequase)
Folinsäure
Eine RCT Studie 2016 (Frye et al.) mit positiven Resultaten, v.a. bei der Sprachentwicklung.
Eigener Behandlungsversuch mit den gleichen Dosierungen:
Von 12 behandelten Kindern war für die Eltern bei einem Kind ein positiver Effekt erkennbar.
Die Sache ist kompliziert!!
Folsäure wird mit einem Transporter in die Placenta und durch die Blut-Hirn- Schranke transportiert. Es gibt Autoimmun-Antikörper gegen diesen
Transporter. Dadurch wird die Funktion des Transporters gestört, so dass trotz normalem Folsäure-Spiegel im Blut der Mutter zu wenig via Placenta zum
Baby und in sein Gehirn kommt.
Es gibt Hinweise, dass diese Antikörper bei Kindern mit ASS viel häufiger
vorkommen als bei Kontrollkindern, ebenso bei Eltern von Kindern mit ASS.
Es gibt ausserdem Hinweise, dass Substanzen in Kuh-, Schaf-, Ziegen- und Kamelmilch die Produktion von den Folat-Rezeptor Antikörpern steigern.
Die Glutamat – GABA Hypothese bei Autismus
Es gibt viele Hinweise, dass bei ASS das Verhältnis von Glutamat (exzitatorisch) zu GABA (inhibitorisch) in Richtung einer Übererregbarkeit (zu viel Glutamat) verändert ist.
Durch Blickkontakt wird eine subcortikale Route via Thalamus und Amygdala aktiviert, führt zu Entwicklung der Gesichtserkennung und zu einer normalen sozialen Regulation.
Bei Kindern mit ASS reagieren Amygadala überempfindlich auf Blickkontakt,
dadurch entsteht ein aversiver Stimulus, Blickkontakt wird vermieden, soziale Regionen im Gehirn entwickeln sich weniger.
Übererregbarkeit spielt auch eine Rolle bei Epilepsie.
GABA intrauterin exzitatorisch, postpartal Übergang zu inhibitorischer Funktion.
Dieser Wechsel wird vom intrazellulären Chlorid gesteuert. Oxytocin und Bumetanid beeinflussen intrazelluläres Chlorid.
Reagieren ASS Neurone weiterhin wie intrauterine Neurone??
Bumetanid
Eigentlich ein Diuretikum, beeinflusst Verhältnis GABA/Glutamat
Eine RCT Studie 2012 zeigte Verbesserung im CARS, wenig UAW (Hypokaliämie) Kontrollstudie 2017: n = 88, 2 – 18 J
0,5 mg, 1 mg oder 2 mg zweimal am Tag
Verbesserungen im CARS, im SRS nach 3 Monaten Behandlung
UAW abhängig von Dosierung, deshalb 2 x 1 mg/Tag am besten, keine Zunahme der UAW nach 6 Monaten Behandlung
Studien mit MRI und eye tracking zeigen positive Veränderungen im Blickverhalten Studie (2020) aus Shanghai bestätigt positive Resultate und GABA/Glu Hypothese, N=83, 3 – 6 J, n=41 bekommen 2 x 0,5 mg/Tag für 3 Monate
UAW: 4x leichte Hypokaliämie, 4x Appetitminderung, 1x Müdigkeit, 1x leichte Hyperurikämie
Oxytocin und Vasopressin
Oxytocin-Forschung mit Tieren seit den 70 - er Jahren :
Fördert mütterliches Verhalten bei weiblichen Ratten, die noch keine Kinder hatten Verstärkt Reaktion des Gehirns auf soziale Reize
Seit 20 Jahren Studien mit neurotypischen Menschen:
• Verstärkt Vertrauen (Spielstudien) und Empathie
• Verbessert Emotionserkennung im Test
Uneinheitliche Resultate bei Erwachsenen mit ASS
Bei Kindern widersprüchliche Resultate, zuletzt wieder grosse Studie in den USA mit 280 Kindern, Placebo kontrolliert, 24 Wochen ohne Verbesserung der
autistischen Symptome (L.Sikich et al., NEJM 14.10.2021).
Vasopressin: Eine Studie mit 30 Kindern zeigt Verbesserung des Sozialverhalten und leichte Abnahme von Ängsten und repetitivem Verhalten.
Balovaptan
Grosse News im Januar 2018:
FDA gibt neuem Roche Medikament «breakthrough designation», erleichtert Forschung.
Balovaptan ist Vasopressin-Rezeptor Antagonist. Es soll soziale Interaktion und Kommunikation verbessern. Erste Studien mit Erwachsene positiv.
Weitere Studien waren unbefriedigend, so dass Roche 2020 die Studien gestoppt hat!
Cannabis (Marihuana, Haschisch)
Wie alle pflanzlichen Mittel besteht auch Cannabis aus Hunderten von Substanzen, v.a. viele Cannabinoide.
• Tetrahydrocannabinol (THC) macht high, hat starke schmerzstillende Wirkung
• Cannabis, also CBD+THC wird eingesetzt bei chronischen Schmerzen, MS, Übelkeit bei Chemostatika …..
• Cannabidiol (CBD) hat beruhigende Wirkung, wird bei gewissen Epilepsieformen verwendet.
• Cannabisöl hat in der Regel etwa 30% CBD und 1 -1,5 % THC
Erste israelische Studie: 60 Kinder 5 – 17 J, maximale CBD Dosis 10 mg/kgKG/Tag Verbesserung v.a. bei Ängsten, aber auch in der Kommunikation, weniger
Ausbrüche, im Ganzen weniger Stress für die Eltern
Zweite Studie mit 156 Kindern (10 % <5j, 45 % 6-10j, 45 % 11-18j)
Ausgewertet 120 Kinder: 50 % deutliche Besserung, 30 % mässige Besserung,
Viele offene Fragen
Mikrobiom Behandlungen:
• Substanz, die neuroaktive Metaboliten im Darm bindet, so dass sie mit dem Stuhl ausgeschieden werden.
• Stuhltransplantation Stammzellen:
ca. 15 laufende Studien, erst 1 Studie publiziert, kein Effekt