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Arbeitslosenversicherung wird ins Rekord-Defizit getriebenMittelfristig droht ein Schuldenberg von 50 Milliarden Euro

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1. Arbeitsförderung stabilisiert Beschäftigung

Kurzarbeit und andere Fördermaßnahmen erweisen sich als bewährte Instrumente zur Überbrückung wirtschaft - licher Turbulenzen. Sie haben dazu beigetragen, dass die Arbeitslosigkeit – trotz massiver Auftragseinbrüche – in Deutschland weniger stark angestiegen ist als in vielen an- deren Ländern. Allein die Kurzarbeit wurde Mitte dieses Jahres von 1,3 bis 1,4 Mio. Arbeitskräften genutzt. Rein rechnerisch konnten so – bei einem Arbeitszeitausfall von gut einem Drittel – etwa 430.000 Arbeitsplätze gesichert werden. Weitere 280.000 sozialversicherte Jobs wurden über Lohnkostenzuschüsse und beschäftigungspolitische Leistungen gefördert und für nochmals 145.000 Menschen wurden Zuschüsse zur Existenzgründung gewährt.

Unter Einbeziehung aller arbeitsmarktpolitischen Maß- nahmen (inkl. Kurzarbeit) wurde der Arbeitsmarkt insge- samt um rund 1,5 Mio. Arbeitskräfte entlastet. Die Ent las - tungswirkung liegt um gut 400.000 über Vorjahresniveau.

Von der Politik wird dies – gerade jetzt vor den Wahlen – allzu gerne gesehen. Doch drückt sie sich vor den Wahlen systematisch vor klaren Aussagen, wie – und von wem – die enormen krisenbedingten Lasten der Arbeitslosenversi- cherung finanziert werden sollen.

Die wichtige Stabilisierungsfunktion der Arbeitslosen- versicherung für Beschäftigung und Konjunktur wird jetzt zwar noch betont. Das dürfte bei einem Kassensturz nach den Wahlen aber schnell in Vergessenheit geraten. Doch kein Politiker kann sich rausreden, dass die Schulden - explosion in der Arbeitslosenversicherung infolge der Krise nicht vorauszusehen gewesen war.

2. Aktuelle Finanzentwicklung in der Arbeitslosenversicherung

Während die Arbeitslosenversicherung (ohne Berücksichti- gung der Rücklage zum Versorgungsfonds der BA) im ver- gangenen Jahr noch ein leicht positives operatives Plus er- zielen konnte, ist sie mit der Krise tief ins Minus gerutscht.

Der ursprüngliche Haushaltsplan für 2009 (vom Oktober

2008)1 musste bereits zum zweiten Mal für dieses Jahr nachgebessert werden. Wurde ursprünglich noch mit Aus- gaben von 40,7 Mrd. Euro und einem Defizit von 5,9 Mrd.

Euro kalkuliert, ist nunmehr ein Minus von gut 16 Mrd. Euro für 2009 eingeplant (siehe Tabelle 1, S. 286). Insbesondere die Ansätze für das Arbeitslosengeld I mussten erhöht wer- den und die finanzwirksamen Beschlüsse der Konjunkturpa- kete – wie zur Kurzarbeit2– mussten eingearbeitet werden.

Die finanzielle Rücklage von 16,7 Mrd. Euro wird sich nach dem aktuellen Haushaltsplan auf rd. eine halbe Milli- arde Euro reduzieren. Was in den letzten drei Jahren an Rücklagen aufgebaut werden konnte, wird jetzt in nur ei- nem Jahr fast vollständig aufgezehrt sein. Selbst dann, wenn die Arbeitslosigkeit nicht ganz so stark steigen sollte wie zunächst befürchtet, ist keine grundlegende Änderung oder Besserung in Sicht.

Der langjährige Beitragssatz zur Arbeitslosenversiche- rung von 6,5 Beitragspunkten wurde ab 2007 stufenweise auf 2,8 Punkte in diesem und dem kommenden Jahr redu- ziert und damit mehr als halbiert. Der Beschluss dazu er- folgte im Herbst letzten Jahres, als die ersten Krisenzeichen bereits klar erkennbar waren. Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt wurden die Beiträge auf den niedrigsten Stand seit 1975 gesenkt. Allein in den ersten sieben Monaten die- ses Jahres summiert sich das Defizit bei der Bundesagen- tur für Arbeit (BA) auf 11,7 Mrd. Euro. Sowohl auf der Ein- nahme- wie Ausgabenseite verschlechtert sich das Ergeb- nis nachhaltig. So liegen die Beitragseinnahmen um 17,1 Prozent unter dem Vorjahresniveau und die Ausgaben um rund ein Zehntel über dem Stand des Vorjahres.

Die größte Einzelposition bei den Ausgaben betrifft das Arbeitslosengeld I, für das bisher 1,4 Mrd. Euro bzw. 15,5 Prozent mehr aufgewendet werden mussten als im Vor - jahreszeitraum. Die Zahl der Leistungsempfänger steigt wieder an. Sie lag im Juli 2009 mit 1,162 Mio. Beziehern von Arbeitslosengeld I aber immer noch auf einem relativ nied-

Arbeitslosenversicherung wird ins Rekord-Defizit getrieben

Mittelfristig droht ein Schuldenberg von 50 Milliarden Euro

Von Wilhelm Adamy

Der Arbeitsförderung kommt wieder einmal eine wichtige Rolle beim wirtschaftlichen Krisenmanagement zu. Sie hat bisher Schlimmeres auf dem Arbeitsmarkt verhindert. Doch mit der Wirtschaftskrise gerät die Arbeitslosen- versicherung in eine schwere finanzielle Schieflage. Die Politik schweigt dazu, wie die enormen krisenbedingten Lasten geschultert werden sollen. Wenn aber die Arbeitslosenversicherung für die krisenbedingten Finanzlöcher (allein) haftet, werden die kleinen Leute die Zeche – in Form von Beitragserhöhungen und Leistungsabbau – bald (wieder) bezahlen müssen.

1 vgl. dazu Wilhelm Adamy: Arbeitsmarktpolitik in Krisenzeiten: Bilanz aus 2008 – Düstere Perspektiven für 2009, in SozSich 2/2009, S. 64 f.

2 vgl. dazu Wilhelm Adamy, a. a. O., S. 65 f.; Hans Nakielski/Rolf Winkel: Was sich 2009 im Bereich Arbeit und Soziales ändert(e), in SozSich 1/2009, S. 27 ff.; SoSiplus1/09, S. 7; SoSiplus5/09, S. 2; SoSiplus6/09, S. 2

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rigem Niveau. Die Sicherungslücken bei der Arbeitslosen- versicherung sind aber nicht zu übersehen. Denn nach wie vor haben nur rund ein Drittel der registrierten Arbeitslosen Anspruch auf Arbeitslosengeld I. Ihre durchschnittliche Unterstützungsleistung liegt im Schnitt bei 757 Euro im Monat. Die anderen Arbeitslosen sind auf das Fürsorge - system Hartz IV angewiesen3oder bekommen gar keine Leistungen.

Die negativen Folgen von Krisen schlagen sich auf dem Arbeitsmarkt großteils erst mit zeitlichen Verzögerungen nieder. Pro 1.000 Empfänger von Arbeitslosengeld I entste- hen beispielsweise Mehrausgaben von 15 Mio. Euro pro Jahr. Erstmals könnten im kommenden Jahr die Ausgaben für das Arbeitslosengeld I auf ein Niveau steigen, was an- nähernd den gesamten Beitragseinnahmen entspricht.

Noch nie in der Nachkriegsgeschichte rutschte die Arbeitslosenversicherung so tief in die roten Zahlen wie in diesem und – voraussichtlich auch – im kommenden Jahr.

Auch für 2010 muss ein Defizit von 15 bis 20 Mrd. Euro be- fürchtet werden. Das zuvor schlechteste Haushaltsergeb- nis wurde 1993 erzielt, als die Arbeitslosenversicherung einen Großteil des einigungsbedingten Strukturwandels auffangen musste. Damals musste am Jahresende ein ne- gativer Finanzierungssaldo von 12,5 Mrd. Euro verbucht werden. Bei einem heute weit höheren Defizit liegen die Einnahmen der Arbeitslosenversicherung immer noch un- ter und die Ausgaben über dem damaligen Niveau. Dies gilt selbst unter Einrechung der knapp 8 Mrd. Euro Einnahmen für einen Mehrwertsteuerpunkt, den der Bund – im Gegen- zug für die Senkung des Beitrags um einen Prozentpunkt – an die BA abführt4sowie der 5 Mrd. Euro an Ausgaben für den Eingliederungsbetrag, die der Bund wieder aus dem Beitragsaufkommen herauszieht, um systemwidrig seinen eigenen Haushalt zu entlasten.5

Im Unterschied zu heute wurde das Defizit der Arbeits - losenversicherung 1993 noch aus Steuermitteln ausgegli- chen. Diese Defizithaftung des Bundes für unerwartete kurzfristige finanzielle Risiken bei gesetzlichen Pflicht leis - tungen zählte lange zu den zentralen Eckpfeilern der Finanzverfassung der Arbeitslosenversicherung. Im Zuge des letzten Konjunkturaufschwung wurde diese Zuschuss- pflicht des Steuerstaates aber 2006 abgeschafft.6 Dies erfolgte in völliger Verkennung der Krisenanfälligkeit unse- res Marktsystems und in Überschätzung der finanziellen Reserven der BA. Die Öffentlichkeit hat dies kaum regi- striert, spülte die gute Konjunktur doch Überschüsse in den Haushalt der BA. Jetzt, in der größten Krise der Nach- kriegsgeschichte, könnte sich dies schnell rächen, da zu- gleich mit der Abschaffung der Defizithaftung überzogene Beitragssenkungen durchgesetzt wurden.

In der mittelfristigen Planung von April 2009 geht die Bundesregierung bisher von 4,6 Mio. Arbeitslosen in 2010 und einer Abnahme bis 2013 auf dann immer noch gut 4,1 Mio. aus. Das daraus abgeleitete Finanzszenario der BA zeigt, dass auch in den nächsten vier Jahren stets tiefrote Zahlen geschrieben werden, die sich bis Ende 2013 schnell auf einen Schuldenberg von etwa 50 Mrd. Euro auftürmen könnten. Selbst wenn sich einige konjunkturelle Indikato- ren etwas erfreulicher entwickeln sollten als von der Bun- desregierung unterstellt, wird die Arbeitslosenversiche- rung keinesfalls aus eigener Kraft ein auch nur annähernd ausgeglichenes Ergebnis erzielen können. Werden keine zusätzlichen Einnahmequellen erschlossen, wird auf Jahre eine Arbeitsmarktpolitik auf Pump unvermeidbar sein. Die Belastbarkeit dieses – die Konjunktur stabilisierenden – Sozialsystems wird jedenfalls schnell überzogen, wenn keine neuen solidarischen Finanzierungsquellen aufgetan werden. Es sei denn, diese Krisenlasten werden in nicht zu rechtfertigender Weise einseitig Arbeitslosen und Beschäf- tigten – in Form von drastischen Leistungskürzungen und/oder Beitragssatzsteigerungen – aufgebürdet.

Tabelle 1: Einnahmen und Ausgaben der Arbeitslosenversicherung in Mrd. Euro

Ist 2008 ursprüngliches Soll 2009* aktuelles Soll 2009**

Einnahmen insgesamt 38,3 34,8 34,7

– Beiträge 26,5 22,6 22,4

Ausgaben insgesamt 39,4 40,7 51,0

– Kurzarbeit 0,1 0,3 3,4

– Erstattung der SV-Beiträge – – 1,1

– Arbeitslosengeld I 13,9 15,4 18,1

– Insolvenzgeld 0,7 0,6 1,4

Finanzierungssaldo – 1,1*** – 5,9 – 16,3

* nach dem Haushaltsplan vom Oktober 2008 Quelle: eigene Zusammenstellung nach Haushaltsdaten der BA

** nach dem Stand vom Juli 2009

*** Ohne die einmalige Rücklage zum Versorgungsfonds der BA in Höhe von 2,5 Mrd. Euro ergibt sich ein Finanzierungssaldo von + 1,382 Mrd. Euro.

3 »Fast jeder dritte Neu-Arbeitslose landet direkt bei Hartz IV«, in SoSiplus 7–8/09, S. 2

4 mehr dazu in Abschnitt 3 5 mehr dazu in Abschnitt 5

6 vgl. Wilhelm Adamy: Haushaltsbegleitgesetz 2006: Finanzieller Druck auf Sozialversicherungen wird erhöht. Bund will sich aus der Defizithaftung für Arbeitslosenversicherung ausklinken, in SozSich 3/2006, S. 93 ff.

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3. Beitrag der BA zum staatlichen Finanzierungsdefizit

Die Finanz- und Wirtschaftskrise macht sich in allen öffent- lichen Haushalten negativ bemerkbar. Doch bisher hat sich diese Krise in besonderer Weise im Haushalt der Arbeitslo- senversicherung niedergeschlagen.

Insgesamt summiert sich das Finanzierungsdefizit des Staates im ersten Halbjahr 2009 auf 17,3 Mrd. Euro – nach einem Überschuss von noch gut 7 Mrd. im Vorjahreszeit- raum.7Von diesem negativen Finanzierungssaldo entfallen allein auf den relativ kleinen Haushalt der Arbeitslosenver- sicherung 10 Mrd. Euro im ersten Halbjahr, während nach Angaben des Statistischen Bundesamtes die anderen Sozi- alversicherungszweige per Saldo noch ein positives Ergeb- nis in annähernd gleicher Höhe verbuchen konnten. Da aus Mitteln der Arbeitsförderung für die Leistungsempfänger der BA auch Beiträge zu den anderen Sozialsystemen (Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) gezahlt werden, sind die krisenbedingten Belastungen dieser Versiche- rungssysteme zwangsläufig weit niedriger. Die Arbeitslo- senversicherung hingegen wurde durch die Krise weit stär- ker belastet als Länder und Kommunen und annähernd im gleichen Umfang wie der Bund. Für den Bund weist das Sta- tistische Bundesamt im ersten Halbjahr dieses Jahres ein Minus von 11,45 Mrd. Euro aus und für die Länder eines von 6,16 Mrd. Euro. Für die Gemeinden insgesamt wurden noch Einnahmeüberhänge von rd. 500 Mio. Euro registriert.

Im weiteren Jahresverlauf wird sich die Lage der Staats- finanzen insgesamt drastisch verschlechtern. So sind die staatlichen Konjunkturprogramme im ersten Halbjahr weit- gehend noch nicht finanzwirksam geworden und die ge- winnabhängigen Steuern und andere steuerrelevante Be- zugsgrößen werden noch deutlich zurückgehen. Auch wur- den bisher noch nicht die anteiligen Steuern in Höhe von knapp 8 Mrd. Euro des Bundes zur Finanzierung eines Bei- tragssatzpunktes bei der Arbeitslosenversicherung über- wiesen. Der seit 2007 fällige Mehrwertsteuerpunkt zur Gegenfinanzierung eines Beitragspunktes in der Arbeits - losenversicherung wird jetzt erstmals nicht mehr – wie bis- her – in gleichen Monatsraten, sondern als Einmalbetrag zum Jahresende überwiesen. Der Bund verschafft sich so Liquiditätsspielraum im Laufe des Jahres von fast 2 Mrd.

Euro pro Quartal – zu Lasten der Beitragszahler. Die Arbeitslosenversicherung wäre deshalb – trotz noch aus- reichender Finanzreserven – im Herbst in vorübergehende Liquiditätsprobleme geraten. Um eine Diskussion darüber vor den Wahlen möglichst zu vermeiden, wurde mit den Konjunkturprogrammen die Möglichkeit eröffnet, dass die BA nun doch genau jene Raten an Steuermitteln, die kurz- fristige finanzielle Engpässe vermeiden, vorab abrufen kann. Dies ist aber nur eine kurzatmige Flickschusterei. Die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise ausgelösten dicken Haushaltslöcher können so nicht geschlossen werden – weder bei der BA noch im Staatshaushalt.

Die staatlichen Schulden werden insgesamt sprunghaft auf neue Größenordnungen ansteigen. Der Regierungsent- wurf für den Bundeshaushalt für 2010 sieht bereits einen

Anstieg der Nettokreditaufnahme um 37 Mrd. Euro auf 86 Mrd. Euro vor. Die staatliche Defizitquote wird deutlich stei- gen und könnte nach Einschätzung des Finanzplanungs - rates eine Größenordnung von bis zu sechs Prozent errei- chen.8Selbst wenn sich die Konjunktur etwas günstiger entwickeln sollte, dürfte die im EU-Vertrag festgelegte Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das gesamtstaatliche Defizit für längere Zeit über- schritten werden.

Der davon ausgehende Konsolidierungsdruck trifft alle öffentlichen Haushalte, aber angesichts des drohenden Schuldenberges die Arbeitslosenversicherung in besonde- rer Weise. Die im Juni 2009 verabschiedete neue Schulden- regelung wird gleichfalls dazu beitragen. Danach soll ab 2011 die strukturelle Nettokreditaufnahme des Bundes bis 2016 in gleichmäßigen Schritten auf eine Obergrenze von 0,35 Prozent des BIP zurückgeführt werden. Es verwundert sehr, wenn angesichts des drastischen Anstiegs der Neu- verschuldung aller öffentlichen Haushalte und der sehr engen nationalen und europäischen Haushaltsregeln einige Parteien jetzt vor den Wahlen sogar noch Steuer- senkungen in Aussicht stellen.

4. Extrem konjunkturanfällige Arbeitslosenversicherung

Die Arbeitslosenversicherung zählt zu den wichtigen Kon- junkturstabilisatoren, die kurzfristig die Wirtschaftsent- wicklung erkennbar stützt. Sowohl auf der Einnahmen- wie Ausgabenseite schlägt sich der Wirtschaftsabschwung deutlich nieder und hinterlässt hier sichtbarere Spuren als in den anderen Sozialsystemen. In der Renten- und Kran- kenversicherung tragen die Beitragszahlungen für Arbeits- lose und Kurzarbeiter auch bei Beschäftigungseinbrüchen zur Stabilisierung der Einnahmen bei. Solange die Arbeits- losenversicherung Lohnersatzleistungen an die Betroffe- nen und Beiträge an die anderen Sozialsysteme zahlt, sind bei ihnen die Mindereinnahmen begrenzt.

Auf der Ausgabenseite schlägt die Krise und die Ent- wicklung der Arbeitslosigkeit gleichfalls unmittelbar und stärker durch als bei anderen Sozialsicherungssystemen.

Seismographisch spiegeln der Haushalt und der Finanzie- rungssaldo der BA das Auf und Ab der Konjunktur mit leich- ter Verzögerung wider. Die finanziellen Ausschläge sind bei einem – gemessen an den anderen öffentlichen Haushalten – relativ kleinen Budget recht groß. So ist die Beitrags- und Einnahmeentwicklung der Rentenversicherung weit stabi- ler und das Haushaltsvolumen hier gut vier bis fünf Mal größer als das der Arbeitslosenversicherung. Dennoch ha- ben die Rentenversicherungsträger sogar die gesetzliche Verpflichtung zu einer Nachhaltigkeitsrücklage (Schwan- kungsreserve), was sozialpolitisch zu begrüßen ist. Aus dieser Rücklage sollen kurzfristige Defizite gedeckt und

7 vgl. Pressemitteilung Nr. 311 des Statistischen Bundesamtes vom 25. 08. 2009

8 vgl. Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, August 2009, S. 68 ff.

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Einnahmeschwankungen ausgeglichen werden. Auf diese Weise sollen kurzfristige Beitragssatzänderungen mög- lichst vermieden werden und die Rentenversicherung nicht in die roten Zahlen geraten. Die Arbeitslosenversicherung hingegen wird – ohne garantierte Rücklagen – sehenden Auges in ein Rekorddefizit getrieben, das schnell zur finan- ziellen Manövrierunfähigkeit führen könnte.

Dabei sind ihre Ausgaben über den Konjunkturzyklus hinweg längerfristig weit hinter der gesamtwirtschaftli- chen Entwicklung zurückgeblieben. Während 1995 bei- spielsweise auf die Arbeitslosenversicherung noch ein An- teil von 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entfiel, sank dieser Anteil bis 2008 nahezu kontinuierlich auf 1,2 Prozent des BIP (siehe Tabelle 2). Gemessen an der wirt- schaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes hat sich das Gewicht der Arbeitslosenversicherung in den letzten 15 Jahren halbiert. Nach den Prognosen der Bundesregierung wird diese Quote infolge des Wirtschaftseinbruchs in die- sem Jahr voraussichtlich zwar wieder auf 1,7 Prozent des BIP steigen. Auch in der schwersten wirtschaftlichen Krise der Nachkriegszeit wird aber das relative Niveau vieler vor- angehender Jahre voraussichtlich nicht erreicht.

Tabelle 2: Anteil von Arbeitslosen- und Renten- versicherung am Bruttoinlandsprodukt

Arbeitslosen- Renten-

versicherung versicherung

1991 2,3 % 8,7 %

1995 2,6 % 10,0 %

2000 2,4 % 10,5 %

2005 2,0 % 10,7 %

2006 1,6 % 10,3 %

2007* 1,3 % 10,0 %

2008** 1,2 % 9,8 %

2009** 1,7 % 10,6 %

2012** 1,6 % 10,1 %

* vorläufig ** geschätzt

Quelle: Sozialbudget der Bundesregierung 2008

Ein weiteres Spezifikum der Arbeitslosenversicherung ist darin zu sehen, dass hier die Risiken weit schwerer zu pro- gnostizieren und zu kalkulieren sind als in den anderen Sozialsystemen. Wie die aktuelle Wirtschafts- und Finanz- krise zeigt, werden Arbeitsmarktprognosen schnell zur Ma- kulatur und ist das Risiko der Arbeitslosigkeit versiche- rungsmathematisch kaum zu kalkulieren. Arbeitslosigkeit ist kein nur individuell versicherbares Risiko. Um gesetzli- che Pflichtleistungen auch bei kurzfristig stärkeren Kon- junktureinbrüchen erfüllen zu können, ist die Arbeitslosen- versicherung auf einen potenten öffentlichen Geldgeber

angewiesen. Bei einer solidarischen Finanzierung kann dies nur der Zentralstaat sein.

Um unerwartete konjunkturbedingte Ausgabeüber- hänge kurzfristig ausgleichen zu können, wurde jahrelang die Defizithaftung und Nachschusspflicht des Bundes zu einem zentralen Eckpfeiler des Finanzsystems der Arbeits- losenversicherung erklärt. Doch sie ist mittlerweile gestri- chen. Jetzt versucht die Politik, beruhigend einzuwirken. Es wird erklärt, es bestehe eine neue ≥»Ausgleichsverpflich- tung des Bundes« für den Fall, dass die Arbeitslosenversi- cherung mit ihren Einnahmen nicht auskommt und die Rücklage aufgezehrt ist. Doch bei genauerer Betrachtungs- weise erweist sich diese modifizierte Ausgleichszahlung lediglich als Verschuldungsoption der BA. Sie kann ledig- lich Darlehen beim Bund aufnehmen, die aber zurückge- zahlt werden müssen. Ausgerechnet in der Jahrhundert- krise wird die BA so mit ihren Krisenlasten allein gelassen und soll sich am eigenen Schopfe aus dem finanziellen Sumpf ziehen. Die Bundesbank stellt richtigerweise fest:

Da der BA-Haushalt auch bei einem Beitragssatz von 3,0 Prozent ab 2011 »kaum strukturell auszugleichen sein wird, ist nicht damit zu rechnen, dass die Bundesdarlehen unter diesen Bedingungen getilgt werden können«.9

5. Umverteilung von unten nach oben stoppen

Beitragszahler wie Arbeitslose brauchen gleichermaßen ein klares Signal, dass der Staat die absehbaren finanziel- len Lasten der Arbeitslosenversicherung in den nächsten Jahren trägt. Dies ist auch ein Gebot der Verteilungsge- rechtigkeit. Denn die neuen Milliardenschulden der BA sind Sonderlasten der Krise und gehen weit über die originären Aufgaben der Arbeitslosenversicherung hinaus. Diese Las - ten müssen von allen Steuerzahlern nach ihrem Leistungs- vermögen gezahlt werden. Eine Finanzierung über Beiträge würde hingegen die kleinen und mittleren Arbeitseinkom- men und Betriebe weit überdurchschnittlich belasten und eine Umverteilung von unten nach oben darstellen. Ohne- hin wird den Beitragszahlern bereits ein jährliches Sonder- opfer zur Entlastung des Bundeshaushaltes aufgebürdet.

Pro Jahr nimmt sich der Bund aus den Arbeitslosenbeiträ- gen 5 Mrd. Euro heraus, um seinen eigenen Haushalt zu entlasten und steuerpolitische Aufgaben damit zu finanzie- ren. Seit 2005 summiert sich diese Last bereits auf 20 Mrd.

Euro, die der Bund aus dem Versicherungssystem heraus- gezogen hat. Der größere Kreis der Steuerzahler wird so entsprechend entlastet. Dieser Eingliederungsbetrag ist verteilungs- wie verfassungsrechtlich äußerst problema- tisch10und muss dringend abgeschafft werden. Er darf kei- nesfalls mit den knapp 8 Mrd. Euro an Bundeszahlungen verrechnet werden; denn diese knapp 8 Mrd. Euro aus der Mehrwertsteuererhöhung wurden damit begründet, durch eine steuerliche Umfinanzierung die Lohnkosten um einen Beitragssatzpunkt zu verringern.

Der Verwaltungsrat der BA wie auch der Deutsche Ge- werkschaftsbund und die Bundesvereinigung der Deut- schen Arbeitgeberverbände haben die Einführung des Ein-

9 ebenda, S. 79

10 vgl. Friedhelm Hase: Der neue »Eingliederungsbeitrag«. Rechtlich umstrit- tene Beteiligung der BA an der Finanzierung der Grundsicherung für Arbeit- suchende, in SozSich 1/2008, S. 25 ff.

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gliederungsbetrages und die Abschaffung der staatlichen Defizithaftung entschieden abgelehnt. Zugleich betonen sie, dass die besonderen Lasten der Arbeitslosenversiche- rung in der aktuellen Wirtschaftskrise »wie andere Förder- maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen auch aus Steuermitteln finanziert werden (müssen)«.11

6. Haushaltslöcher solidarisch schließen

Die wichtige Aufgabe der Arbeitslosenversicherung für Konjunktur und soziale Stabilität wird aktuell zwar immer wieder betont. Doch vor der chronischen Unterfinanzierung der Arbeitslosenversicherung werden die Augen allzu gerne verschlossen. Aber die Fakten sind klar: Unter Sta- tus-quo-Bedingungen wird die Arbeitslosenversicherung finanziell auf Grund laufen und einen Großteil ihrer Leis - tungen – sofern diese nicht drastisch gekappt werden – nur noch auf Pump finanzieren können. So hat denn auch der Bund bereits allein für 2010 einen Betrag von 20 Mrd. Euro für ein überjähriges Darlehen an die Arbeitslosenversiche- rung in seinen eigenen Haushalt eingeplant. Wenn jedoch zusätzliche Einnahmequellen verschlossen werden, wird der finanzielle Druck sehr schnell über die Ausgabenseite auf Arbeitslose weitergegeben; eine prozyklische Politik und steigende Armut wären die Folge.

Dabei hat die Arbeitslosenversicherung mit Unterstüt- zung seines Verwaltungsrates im Konjunkturaufschwung der letzten Jahre wie kein anderer öffentlicher Haushalt fi-

nanzielle Vorsorge betrieben. Jetzt in der Krise bringen die Beitragszahler bereits eine Vorleistung in Höhe der Rück la- gen sowie das Sonderopfer des Eingliederungsbetrages von fast 17 Mrd. Euro auf. Der nicht vermeidbare Schulden- berg in Folge der Krise muss jetzt auf solidarische Weise abgetragen werden.

Die Parteien müssen dringend aufzeigen, wie die durch die Banken verursachten und durch überzogene Beitrags- senkungen vergrößerten Haushaltslöcher geschlossen werden sollen. Wer die Fehler von Banken mit Milliarden- beträgen auszubügeln versucht, muss sicherstellen, dass dennoch auftretende Folgelasten nicht allein vom Sozial- staat geschultert werden müssen. Die Systemrelevanz der Arbeitslosenversicherung darf keinesfalls niedriger einge- schätzt werden als die der Banken. Der Sozialstaat wird finanziell überfordert, wenn er mit den Folgelasten jetzt allein gelassen wird. Wer jedoch angesichts der sich ab- zeichnenden Finanzierungskrise des Sozial- wie des Steu- erstaates noch Steuersenkungen verspricht, tut so, als ob es die größte Finanz- und Wirtschaftskrise gar nicht gibt. Er will den Menschen vor der Wahl offensichtlich Sand in die Augen streuen oder nach den Wahlen den Druck auf die Sozialsysteme verschärfen.

Der Autor:

Dr. Wilhelm Adamy leitet den Bereich Arbeitsmarkt- politik beim DGB-Bundesvorstand und ist Sprecher der Arbeitnehmergruppe im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit

11 Erklärung des BA-Verwaltungsrates vom 08. 05. 2009

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