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PROFUND-12-2010-Patientenorientierung-Aphasie

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34 Pat i e n t e n o r i e n t i e r u n g

ein langer, verzweifelter Weg ge- wesen. Ein Weg, der ihn in den ersten Jahren nach seinem Schlag- anfall in die Isolation treibt. Denn aus Angst, mit seiner Ein-Wort- Sprache auf Unverständnis zu sto- ßen, zieht er sich lieber von der Außenwelt zurück. Für ihn und sei- ne Frau eine starke Belastungspro- be. Neben seinem beruflichen Aus bei der Bundeswehr muss er später auch noch das Aus seiner Ehe und die Trennung von seinen beiden Töchtern verkraften. Psychisch sei diese Zeit für ihn „eine absolute Katastrophe“ gewesen.

Sprachstörung durch linksseitige Hirnschädigung

Aphasie, mit diesem Begriff kön- nen die wenigsten Menschen etwas anfangen. Auch Thomas Wechsung litt bereits einige Jahre daran, be- vor ihm ein Arzt einen Namen für seine Krankheit präsentierte. Der Begriff stammt aus dem Griechi- schen und bedeutet „Sprachlosig- keit“. Bereits im 19. Jahrhundert wurde mit Aphasie eine Sprachstö- rung nach erworbener Hirnschädi- gung bezeichnet. Auslöser für die Krankheit können ein Schlaganfall,

aPHaSie – PlötzlicH SPracHloS

Thomas Wechsung ist 28 Jahre alt, als ihm nach einem Volleyballspiel plötzlich die Stimme versagt. Seine Worte, seine Gedanken – sie sind zwar nach wie vor in seinem Kopf,

kommen ihm aber nicht mehr über die Lippen. Am nächsten Tag ist der Spuk vorbei.

Thomas Wechsung geht zur Tagesordnung über. Ein großer Fehler, wie er heute weiß.

E

ine Woche lang macht er sich über den Vorfall keine weite- ren Gedanken. Warum auch?

Es scheint ja alles wieder in Ord- nung zu sein. Doch dann bleibt er- neut die Sprache weg. Wieder schenkt er dem Vorfall nicht die dringend notwendige Beachtung.

Bei seinem Arbeitgeber meldet er sich zwar krank, doch er wartet weiter ab, ohne einen Arzt aufzu- suchen. Am Abend erleidet der pas- sionierte Sportler einen schweren Schlaganfall, ausgelöst durch ein Blutgerinnsel in der Halsschlag- ader. Thomas Wechsung ist sofort rechtseitig gelähmt, kann sich nicht

mehr äußern oder verständlich ma- chen. Im Krankenhaus wird er in ein einwöchiges künstliches Koma versetzt. Als er wieder aufwacht, ist für ihn nichts mehr wie es war.

Das ist nun 19 Jahre her.

Heute ist der gebürtige Thüringer 47 Jahre alt. Wir treffen uns in Nürnberg, wo wir uns in der „Mut- macherei Semmlinger“ verabredet haben. Claudia Semmlinger ist Fundraiserin und unterstützt Selbst- hilfegruppen bei der Generierung öffentlicher und privater Fördergel- der. So entstand ihr Kontakt zu den

„Jungen Aphasikern“, jener Selbst- hilfegruppe, deren stellvertretender Vorsitzender Thomas Wechsung heute ist.

ein langer, verzweifelter Weg Auf den ersten Blick wirkt er kern- gesund. Niemand sieht ihm heute mehr an, dass er nach seinem schweren Schlaganfall viele Mona- te in Krankenhäusern und Reha-Kli- niken verbracht hat. Hier hat er mühsam wieder laufen und spre- chen gelernt. Zu achtzig Prozent sei er heute körperlich wieder her- gestellt, erzählt er. Bis dahin sei es

1991 erlitt Tho- mas Wechsung eine Aphasie in Folge eines Schlaganfalls.

Seine Sprach- störungen hat

er weitestge- hend überwun- den. Auch Dank einer Selbsthilfe- gruppe, deren stellvertreten- der Vorsitzen- der er heute ist.

ProFunD – das Mitgliedermagazin der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) – ausgabe 12/2010

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ein Schädelhirntrauma, ein Hirntu- mor, eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems oder eine Hypoxische Hirnschädigung sein. Oft sind von einer Aphasie alle sprachlichen Modalitäten betroffen – also sowohl die Sprachprodukti- on und das Sprachverständnis als auch das Lesen und Schreiben. Je nach Symptomkomplex gibt es un- terschiedliche Formen von Aphasien.

Zum Beispiel die Wortfindungs- störung: Der Betroffene sucht nach dem treffenden Begriff, kann ihn aber nicht benennen. Oder die Ver- ständnisstörung: Der Betroffene hört die Sprache, kann sie aber nicht dekodieren. „Das ist, als wür- de man auf einmal in China auf- wachen. Man kann normal den- ken, aber man kann die Schriftzei- chen um einen herum weder münd- lich noch schriftlich entschlüsseln“, erklärt Claudia Semmlinger. Dies sei die schwerste Form der Apha- sie. Und dann gebe es auch noch die so genannte Apraxie: Dabei könnten Handlungsabfolgen – zum Beispiel das Eingießen einer Tasse Tee – nicht mehr eingehalten wer- den. Wobei das Denken des Pati- enten ganz normal funktioniere.

„Das ist etwas, was wir uns nur schwer vorstellen können“, bestä- tigt Claudia Semmlinger, „weil wir immer glauben, wir dächten nur in Sprache. Aber das stimmt nicht.

Wir denken auch in Konzepten.“

Modellprojekt zur beruflichen integration von aphasikern Was hat Thomas Wechsung gehol- fen, der heute ganz offensichtlich

glücklich und zufrieden vor mir sitzt, obwohl ihm das Sprechen manch- mal nach wie vor schwer fällt? „Ich hatte das Glück, dass ich eine Um- schulung zum Industriemechaniker machen konnte. Seit 1999 arbeite ich hier in Nürnberg bei den Rum- melsberger Anstalten. Dort bin ich anerkannt. Alle wissen, dass ich manchmal nicht sprechen kann.

Auch die Auszubildenden, die ich anlerne. Aber niemand hat ein Pro- blem damit. Alle akzeptieren mich so, wie ich bin.“ Claudia Semmlin- ger lächelt. Sie weiß, dass Thomas Wechsung eine Ausnahme ist. „Die meisten Betroffenen schaffen es auf Grund ihrer multiplen Behinderun- gen nicht zurück ins Arbeitsleben, werden Frührentner oder landen in Harz IV. Das sind schlimme soziale Schicksale.“ Sie wünscht sich des- halb mehr Initiativen wie das Mo- dellprojekt IBRA in Nürnberg. Da- hinter verbirgt sich die „Integrative Berufliche Rehabilitation von Perso- nen mit Aphasie“. Die enge Verzah- nung von medizinischer und beruf- licher Rehabilitation soll Betroffenen hier die Chance einer dauerhaften Integration in Beruf und Arbeit ge- ben. „Hätten wir mehr von diesen Einrichtungen, könnten wir vielen Aphasikern die Rückkehr in ein fast normales Leben ermöglichen.“

Das gehirn kann sich regenerieren Thomas Wechsung ergänzt Claudia Semmlingers Wunschzettel: „Wir brauchen Ärzte, die Aphasikern Mut machen und sie nicht nach ein oder zwei Jahren als austherapiert entlassen und ihnen keine logopä-

dischen Behandlungen mehr ver- schreiben.“ Die Fundraiserin nickt.

Das sei in der Tat ein Problem. „Die landläufige Meinung ist, was nach ein oder zwei Jahren an Fähigkei- ten nicht zurückkommt, ist unwieder- bringlich verloren. Doch das ist falsch. Aus der Hirnforschung weiß man, dass die Verschaltungen im Gehirn kontinuierlich neu gebildet werden. Aber dazu muss das Ge- hirn gefordert werden. Die Chan- cen, dass sich etwas verbessert, sind in jedem Fall vorhanden.“

Thomas Wechsung hat sein Leben auf diese Weise zurückbekommen.

Weil er irgendwann den Mut hat- te, mit den richtigen Leuten über seine Krankheit zu sprechen. Durch den Kontakt mit der Selbsthilfegrup- pe „Junge Aphasiker“ hat er seine Redehemmung verloren, wodurch sich sein Sprechen und sein psychi- sches Befinden kontinuierlich ver- bessert haben. Als stellvertretender Vorsitzender der Gruppe hilft er heu- te selbst jungen Betroffenen. Er un- terstützt sie im Alltag und motiviert sie, im Rahmen der Selbsthilfe Auf- gaben zu übernehmen, mit denen sie ihren Rehabilitationsprozess po- sitiv beeinflussen können. „Niemand weiß besser, was ein Aphasiker braucht, als ein Aphasiker“, meint Claudia Semmlinger. Thomas Wechsung nickt und lächelt.

Kontakt für Betroffene und deren Angehörige über www.junge-apha- siker-nuernberg.de und www.mut- macherei.de.

Marion Munke (KVB)

ProFunD – das Mitgliedermagazin der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) – ausgabe 12/2010

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