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Sinn statt Sucht Die christliche Fazenda da Esperança in Boppard Von Petra Pfeiffer

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SWR2 Glauben

Sinn statt Sucht

Die christliche Fazenda da Esperança in Boppard Von Petra Pfeiffer

Sendung: 29.11.2020, 12.05 Uhr Redaktion: Petra Pfeiffer

Produktion: SWR 2019

Sich neu orientieren nach dem Entzug. In der familienähnlichen Gemeinschaft einer

„Fazenda“ finden Suchtkranke ihren Selbstwert wieder. Und, wenn sie wollen, eine Beziehung zu Gott.

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MANUSKRIPT

Atmo 01 Rosenkranz (liegen lassen unter Text und O-Tönen)

Ex-Junkies beim Rosenkranzbeten... Früh am Morgen ist es, 7 Uhr, die Jungs noch im Halbschlaf. Sie haben sich auf die hufeisenförmige Couch fallen lassen, liegen mehr als sie sitzen. Eingehüllt in Decken - es ist frisch im Wohnzimmer dieser besonderen Männer-WG.

O-Ton 01 Raphael Rosenkranz 0‘21

Am Anfang, der Rosenkranz – ich hab‘ gedacht, bin ich jetzt hier in einer Sekte? Aber nach einer Zeit gibt mir das persönlich morgens so einen Moment der Ruhe vor der Arbeit. Ein bisschen meditativ, Jesus in der Mitte zu spüren, seine Gegenwart.

O-Ton 02 Sebastian Rosenkranz 0‘18

Ich bete morgens den Rosenkranz gerne, mache auch dieses Abendgebet, aber meine Schwierigkeit ist, die Probleme, die mich

beschäftigen, vor Gott zu tragen. Ich bin da auch nie ran geführt worden oder so erzogen worden, also der Glaube hat da nie eine Rolle gespielt.

O-Ton 03 Raphael Weihnachten 0‘34

Vor einem Jahr war ich gerade zehn Tage auf der Fazenda, dann war Weihnachten, ich war hier alleine, ohne meine Eltern, mir ging’s nicht gut, ich hatte gerade den Drogenentzug hinter mir, viel Unruhe in mir und ich habe Ängste gehabt: Wie wird dieses Weihnachten, werde ich meine Familie vermissen, ich habe keine Drogen, noch keine neue Hoffnung geschöpft. Und dann wurde aus diesem Weihnachten eine Therapie, Weihnachten mit meiner zweiten Familie, wir haben was Schönes gegessen, wir haben uns gegenseitig beschenkt, mir ging’s natürlich auch schlecht, aber trotzdem hat es mir das Gefühl gegeben: ok, beginnt jetzt etwas Neues. Am Anfang wird man getragen von den Leuten, mit der Zeit lernt man, alleine zu gehen und zu gucken: Wer bin ich? Und dann am Ende des Jahres fängt man an, anderen Leuten zu helfen,

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andere zu tragen, das, was man am Anfang erfahren durfte, weiterzugeben.

Atmo Rosenkranz nochmal hoch

Es ist Anfang September, ein strahlender Herbsttag. Mein erster Besuch in Boppard auf der Fazenda da Esperanҫa – dem Bauernhof der

Hoffnung. Es ist eine von weltweit 125 Fazendas; die erste wurde von einem deutschen Franziskanerpater in Brasilien gegründet.

Atmo 02 Tiere

Ein riesiges Gelände hoch über dem Mittelrheintal – mit Schweinen, Schafen, Hühnern. Erst geht es durch ein großes überbautes Tor, dann steil hinauf zu einer reichlich sanierungsbedürftigen Villa von 1910.

Unten im Torhaus wohnen die Jungs, oben in der Villa die Hofleiter

Teresa und Roland Mühlig mit ihren beiden kleinen Töchtern. Sie Anfang 30, er Anfang 40:

O-Ton 04 Mühlig Erwartungen 0‘58

RM: Wir erwarten von niemandem, dass er mit einer Vorprägung kommt, wir haben auch nicht vor, irgendjemanden zu taufen. TM: Die meisten haben schon mehrfach versucht, mit den Drogen aufzuhören, aber bereit zu sein, Denkmuster, die man hatte, ein Weltbild und auch ein Selbstbild, das man hatte, loszulassen, um sich ein neues schenken zu lassen, in einem minimalen Ansatz erwarten wir diese Bereitschaft, damit es

klappen kann. RM: Alle, die kommen, sind eingeladen – das erwarten wir schon – teilzunehmen an den Gebeten, auch wenn man nicht mitbetet.

Ich glaube, worauf man sich einlassen sollte, ist, sich lieben zu lassen und die Liebe der Mitbrüder zu spüren, dabei idealerweise die Liebe Gottes zu spüren und dahin zu kommen, diese Liebe weiterzutragen, dann fängt das an, was wir Rekuperation nennen, also das neue Leben zu finden.

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Rekuperation beinhaltet auch: sich wiederfinden. Auf diesem Weg sind im September in Boppard zwei 18jährige: Max und Jakobus, der

20jährige Raphael, Sebastian, 35, und Helmut, Ende 50. Den Jüngeren sieht man nicht an, was sie hinter sich haben, es sind aufgeschlossene, nette Jungs, jede Frau würde sie auf der Stelle als Freund der eigenen Tochter akzeptieren. So wie Raphael: modisch geschnittenes blondes Haar, dunkler Kapuzenpulli, groß, schlank, offener Blick. Etwas hastig erzählt er von seiner Drogenkarriere. Es sind die typischen Stationen, und dennoch erschütternd:

O-Ton 05 auf Klänge 0‘36

dass ich täglich angefangen hab, Cannabis zu konsumieren, war so mit 13,14, auch in der Schule, vor der Schule, nach der Schule, bis man abends einschläft – viel Speed konsumiert, Speed hält einen wach, hält einen fit – beim Sport hat mich die Droge eher gepusht, ich fahre ja BMX seit 13 Jahren, das gibt einem so einen Extrakick, nimmt auch die

Ängste weg, einfach drauflos fahren – meine Familie, das letzte Jahr war schlimm, wir haben uns nur noch angeschrien – ich war auf dem

Gymnasium, von dort zur Realschule und dann irgendwann später von der Realschule auf die Hauptschule.

Und was sonst noch zur Sucht gehört: klauen, dealen, Kontakt mit der Polizei. Zu den illegalen Drogen kommt irgendwann noch Alkohol, Raphael isst kaum, schläft kaum, rastet gelegentlich aus. Seinen Hauptschulabschluss schafft er trotzdem mit einer 1 vor dem Komma, beginnt eine Ausbildung zum Altenpfleger. Die macht ihm Spaß, doch er kommt nicht weg von den Drogen. Mit 19 dann der totale Absturz:

O-Ton 06 Raphael Herzrasen 0‘44

Ich bin 1.90 groß und habe noch 60 Kilo gewogen am Schluss, immer Augenringe, körperlich immer fertiger, immer mehr Partys, immer mehr Drogenexzesse. Einmal nachts, ich hatte viele Ecstasy-Pillen

genommen, habe ich gedacht: Jetzt wirst du verrückt im Kopf, jetzt wirst du nie wieder normal, ich habe mir Sachen eingebildet, so

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horrortripmäßig, Angstzustände. Und dann kam irgendwann die Nacht, da kam totales Herzrasen, richtig schlimm, und ich habe in dem Moment gedacht, ich müsste jetzt noch mehr Nasen ziehen, dann habe ich immer mehr gezogen und ich dachte: Jetzt bleibt gleich dein Herz stehen, denn es schlug irgendwann so schnell, ich habe richtig Atemnot bekommen, ich hatte Probleme mit dem Schlucken, Schweißausbrüche – in dem Moment dachte ich: Gleich kippst du um und dann war’s das.

Das ist der Wendepunkt. Sterben will er nicht. In die Psychose rutschen auch nicht. Aber er weiß keinen Ausweg. Völlig verzweifelt vertraut er sich seiner Mutter an, gesteht ihr, dass er am Ende ist, ihre Hilfe braucht.

Eine intensive Erfahrung für beide, erzählt Raphael. In dieser Situation fällt der Mutter ein, dass sie irgendwo einen Flyer von der Fazenda in Boppard hat. Auf einmal geht alles ganz schnell: Noch am selben Tag meldet sich Raphael in einer Klinik zum Entzug an, danach will er auf die Fazenda. Als er sie besichtigt, kommen ihm doch noch einmal Zweifel.

O-Ton 07 Raphael Mach‘ ich das jetzt wirklich? 18‘‘

Ich fahre hier hoch und sehe so ein Schild: Rauchen verboten. Und ich habe gedacht: okay, nicht rauchen? Ja, und auch kein Handy und auch kein Fernseher und auch kein Einzelzimmer. Und jeden Tag Rosenkranz beten und jeden Tag acht Stunden arbeiten, dann habe ich erst noch gedacht: Mache ich das jetzt wirklich? Ein Jahr? Ein Jahr?

Ein Jahr ist für einen jungen Menschen, der gerade mal 18, 19 oder 20 ist, eine unvorstellbar lange Zeit. Zumal die Hausordnung streng ist. Das Eingangstor steht zwar weit offen, jeder kann jederzeit die Therapie abbrechen. Aber so lange sie hier leben, dürfen die Bewohner das Gelände der Fazenda nicht alleine verlassen. Besuch ist in den ersten drei Monaten überhaupt nicht erlaubt, später nur an den Besuchstagen.

Alles zum Schutz der Rekuperanten, sagt Teresa Mühlig, auch das Rauch- und Handyverbot:

O-Ton 08 Teresa Restriktionen 41‘‘

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Rauchen ist eine Sucht, das muss man ganz klar sagen, und fördert einfach noch weiter dieses Verhalten, vor sich selbst zu fliehen in irgendeine Coolness, und das mit den Smartphones, da geht es auch nicht darum, dass wir Smartphones schlecht finden. aber zum einen ist es eben noch ein Kontakt nach Hause, oft in alte Kreise, der Zugang zum Internet, Zugang wieder zu den alten Dealern und davor wollen wir die Jungs schützen, und diese Hilfe ist schon wichtig, da eine klare Grenze zu ziehen.

Selbst der Kontakt zur eigenen Familie kann für die Exjunkies

problematisch sein. Manche sind in die Sucht gerutscht, weil sie mit den übersteigerten Erwartungen der Eltern nicht zurechtkamen. Andere deshalb, weil im Elternhaus alles erlaubt war. Bei dem 35jährigen Sebastian ist es wieder anders. Er stammt aus einer völlig zerrütteten Familie:

O-Ton 09 Sebastian zum Trinken gezwungen 15‘‘

Meine Eltern haben sich ziemlich früh scheiden lassen, ich war vier oder fünf, meine Mutter hat schnell einen neuen Mann kennengelernt, der war Alkoholiker, und dann ist es halt so gewesen, dass er mich gezwungen hat, Alkohol zu trinken, harten Schnaps, so fing halt mein Leben an.

So ging es auch weiter. Sebastian wurde hin- und her gezerrt: von der Pflegefamilie zur Oma, dann wieder zurück zur Mutter, am Ende zum leiblichen Vater, aber nur, meint Sebastian, weil der dafür Geld bekam.

Später, während seiner Ausbildung zum Koch, brachte ihn sein Chef mit Kokain in Berührung, verleitete ihn dazu, seinen Körper zu verkaufen.

Für Sebastian ist es ein großer Schritt, dass er auf der Fazenda gelernt hat, anderen Menschen wieder zu vertrauen.

O-Ton 10 Sebastian Paranoia 38‘‘

Die Leute, die ich zurzeit um mich habe, tun mir wirklich sehr gut, die Beziehung zu Roland und Teresa ist gut. Klar, ich bin oft gegangen, aber sie haben mich immer wieder aufgenommen, sie haben mich nie hängen lassen. Wir sind hier alle in einer Extremsituation. Am Anfang habe ich

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Angstzustände gehabt, ich habe gedacht, die Leute reden über mich, nur um mich hier loszuwerden. Was ich hier für eine Paranoia geschoben habe, das war schon nicht mehr feierlich, aber mittlerweile bin ich über diesen Berg drüber, diese Situation hatte ich schon oft, aber ich habe mir noch nie die Chance gegeben, darüber hinweg zu kommen.

Es ist bereits sein siebter Anlauf auf einer Fazenda, der dritte in

Boppard. Dieses Mal soll alles anders werden, dieses Mal will er sein Jahr packen. Dennoch: Als ich das Städtchen am Rhein verlasse, bin ich mir nicht so sicher, dass ich Sebastian bei meinem nächsten Besuch wiedersehen werde. Hält er durch oder bricht er erneut ab?

Klänge 02

Das Konzept der Fazendas unterscheidet sich erheblich von

herkömmlichen Therapieeinrichtungen – nicht nur durch die strengen Regeln. Anders als in einer „normalen“ Suchtklinik herrscht auf den Höfen eine familiäre Atmosphäre. In Boppard verbringt Hofleiter Roland Mühlig viel Zeit mit den Jungs, vom Rosenkranz am Morgen bis zum Erfahrungsaustausch am Abend. Er hat schon seinen Zivildienst auf einer Fazenda gemacht und arbeitet seither ununterbrochen für den dahinterstehenden Verein. Teresa Mühlig hat einen anderen Teilzeitjob, kommt aber jeden Mittag mit den beiden Kindern ins Torhaus, wo die Jungs abwechselnd für alle kochen. Die Mühligs verstehen sich als

Begleiter, sie wollen anderen die Freude vorleben, die sie am Leben und im Glauben entdeckt haben.

O-Ton 11 Mühlig Blick weg von sich selber 53‘‘

TM: Die Botschaft des Evangeliums ist, dass Gott jeden Menschen persönlich liebt, das ist der Kern unserer Spiritualität, und das wollen wir allen Menschen, die zu uns kommen, so gut es geht erfahrbar machen.

Zu zeigen: Gott findet dich wunderbar, und dieser innere Kern in dir ist da und du kannst ihn wieder neu zum Vorschein bringen. RM: Ich glaube schon, dass es wichtig ist, den Blick von sich selber wegzuwenden, dass das, was einen in die Sucht treibt, etwas Egoistisches ist. Und was hilft,

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ist: zu gucken, was braucht der andere, wie kann ich ihm eine Freude machen und – das ist ja auch christliche Lehre und das passiert ja hier – dadurch für mich selber eine Erfüllung erfahren, die ich in meiner

egoistischen Suche und in meiner Sucht nicht erfahren habe.

Die Vergangenheit der Ex-Junkies, also wie und warum sie in die Sucht geraten sind, wird auf der Fazenda nicht systematisch thematisiert. Das läuft eher nebenher: bei Spaziergängen, Ausflügen oder wenn einer tatsächlich eine massive Krise hat.

O-Ton 12 Teresa Unterschied zur Therapie 20‘‘

Es fängt damit an, dass man sich dafür interessiert: Wo kommst du her, was hast du erlebt, was sind deine Träume, aber eben in dem Maß, wie es bei jedem passt, wie es sich ergibt, da gibt’s keinen Plan jetzt, dass irgendwelche Raster über die Vergangenheit gelegt werden, um Dinge zu analysieren.

Die Mühligs haben keine therapeutische Ausbildung, aber eine Menge Erfahrung. Wie schaut ein Fachmann von außen auf diese Art von Drogennachsorge? Franz Siemen ist Drogenberater bei der Caritas in Boppard, er macht Einzelberatung, Gruppentherapie und vermittelt Drogensüchtige in konventionelle stationäre Einrichtungen. Für seine Klientel ist die Fazenda nur selten eine Option – die Regeln zu restriktiv, die Spiritualität befremdlich. Dennoch ist er der Auffassung, dass eine Fazenda für manche Drogenabhängige genau der richtige Ort sein kann:

O-Ton 13 Siemen exotische Geschichte 38‘‘

Ich denke, dass Menschen, die diesen Weg freiwillig gewählt haben, dort letztlich auch auf ganz viele gemeinschaftliche Dinge stoßen, auf Hilfe, auf Nächstenliebe, aber auch auf Hilfe bei der Bewältigung ihrer

Lebenskrise. Für mich ist die Fazenda eine – von mir aus – exotische Geschichte, die aber nicht nur ihre Berechtigung hat, sondern auch Chancen bietet. Und wenn es nicht für viele ist, dann aber doch für wenige.

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Atmo 03 nochmal Tiere

Mein zweiter Besuch auf der Fazenda – einige Wochen sind vergangen.

Sebastian ist noch da, macht insgesamt einen zufriedenen Eindruck. Er ist fürs Füttern der Schweine, Hühner, Gänse, Wachteln und Schafe zuständig. Die Verantwortung für die Tiere tut dem 35jährigen mit dem kurz und akkurat gestutzten Bart sichtlich gut. Er arbeitet konzentriert und gewissenhaft, überlegt immer wieder kurz, ob er auch nichts vergessen hat.

O-Ton 15 Sebastian Gutes für Tiere 7‘‘

Ich tu den Tieren was Gutes, wenn ich mich um sie kümmere, und noch mehr Gutes tue ich ihnen, wenn ich mich gut um sie kümmere.

Auch was ihm selbst gut tut, hat der - auf den ersten Blick - etwas introvertierte Sebastian inzwischen herausgefunden. Er versucht, Probleme nicht mehr wegzuschieben. Ob es um aktuelle Konflikte mit seinen Mitbewohnern geht oder ob Erfahrungen aus der Vergangenheit hochkommen – er teilt sich und seine Gefühle mit. Die intensive

Gemeinschaft auf der Fazenda unterstützt ihn dabei, die Masken fallen zu lassen:

O-Ton 16 Sebastian Mensch, der abhaut 29‘‘

Ich habe nie über irgendwas geredet, hier kommt jemand auf dich zu und fragt: Wie geht’s dir? Dann kannst du mal sagen: alles ok. Aber wenn das fünf Mal am Tag passiert, du kannst nicht die ganze Zeit sagen, es geht mir gut, obwohl es dir schlecht geht, und irgendwann lernt man, über das Problem, das einen bedrückt, zu reden. Ich habe immer alles in mich hineingefressen, und dann wird aus vielen Problemen eine große Baustelle, ich bin halt immer geflüchtet, ich war ein Mensch, der ewig abhaut.

Probleme und Konflikte im Zusammenleben bleiben auf der Fazenda nicht aus. Sauberkeit und Ordnung sind – wie in vielen WGs - beliebte Streitthemen. Und es gibt Tage, an denen nervt es einfach, so wenig

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Privatsphäre zu haben. Die Jungs beten zusammen, essen zusammen, verbringen ihre Freizeit zusammen, und sie arbeiten auch zusammen.

Arbeit ist nämlich – neben der familiären Gemeinschaft und der

Spiritualität – der dritte wichtige Pfeiler der Therapie auf allen Männer- und Frauenfazendas rund um den Globus.

Atmo 04 Kaffeeverpacken und -mahlen

Heute ist in Boppard Kaffeeverpacken dran. Im Haus duftet es nach frisch gerösteten Bohnen. Max, Jakobus und Raphael arbeiten Hand in Hand. Abwiegen, mahlen, in Tüten füllen, verschließen, Aufkleber drauf.

Es gibt Espresso- und Filterkaffee, kleine und große Tüten, ganze Bohnen und gemahlene. Die Kaffeebohnen kommen von einer

Kooperative in Brasilien. Der fertig abgepackte Kaffee wird im eigenen Hofladen, aber auch auf anderen Fazendas verkauft. Zu einem stolzen Preis: 6.90 Euro für 250 Gramm. Die Einnahmen aus dem Kaffeeverkauf sind wichtig, denn die Fazenda muss sich zum größten Teil selbst

tragen. Was bedeutet: Die Bewohner arbeiten, dafür zahlen sie nichts für ihren Aufenthalt.

O-Ton 17 Teresa Leitung leck 17‘‘

Wir haben zwar eine große Villa, theoretisch, aber ich nehme an, dass seit den 60er Jahren hier nichts mehr gemacht wurde. Unsere Fenster sind einfach verglast, Holzrahmen ohne Dichtung, immer mal wieder läuft eine Leitung leck und man ist froh, wenn es nicht schon durch drei Etagen durchgelaufen ist…

Im obersten Stockwerk der Villa, für die der Verein einen

Erbpachtvertrag mit einer kirchlichen Stiftung hat, befinden sich große, spartanisch eingerichtete Räume. Jugendherbergscharme längst

vergangener Zeiten. Die Rekuperanten sind dabei, die Zimmer nach und nach zu renovieren, damit sie weiterhin an Firmgruppen oder für

Freizeiten vermietet werden können. Das Geld, das reinkommt, reicht gerade so für Heizung, Strom, Wasser, das Allernotwendigste.

Lebensmittel bekommt die Fazenda von der Tafel. Auch dieses einfache

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Leben ist Teil der Spiritualität: Jesus sei schließlich auch nicht im Luxus zur Welt gekommen, meint Teresa Mühlig, sondern in einem Stall.

O-Ton 18 Teresa Stall 15‘‘

Es ist für mich auch immer wieder ein Glaubensakt zu sagen, wir haben hier diese Stallsituation und zu glauben, dass Gott hier wirklich ist. Und je mehr ich mich darauf einlasse, desto mehr spüre ich, dass an vielen Ecken kleine Wunder und große Wunder auch passieren.

Atmo 05 Raphael Wort 6‘‘

Ich würde sagen, dann versuchen wir heute das Wort zu leben: Lege dein Leben in Gottes Hände.

Jeder Tag auf der Fazenda steht unter einem bestimmten Wort. Einer der Bewohner entwickelt es aus dem Tagesevangelium, das gemeinsam gelesen wird – direkt im Anschluss an das Rosenkranzgebet am frühen Morgen. Mit einem Wort hat Raphael eine ganz besondere Erfahrung gemacht. Er sollte – Teil der Therapie - beim Fazenda-Hoffest vor rund 60 Besuchern in der Hauskapelle seine Geschichte erzählen. Von seiner Sucht und seinem jetzigen Leben.

O-Ton 19 Segen für alle 21‘‘

Und dann war das Wort: Ein Segen sein für alle. Ich habe überlegt, ich sag’s das erste Mal vor meinen Eltern, die saßen in der ersten Reihe, und ich hatte Angst: Was ist, wenn sich meine Eltern in ein oder zwei Punkten angegriffen fühlen. Und dann habe ich gedacht: Nein, ich bin jetzt ein Segen für alle, ich erzähle es eins zu eins so, wie es war, auch mit den schlimmen Dingen, und schau, was passiert.

Das hatte Raphael nicht erwartet: Seine Eltern nahmen ihn in die Arme – und die ganze Kapelle klatschte. Ein berührender Moment für den

jungen Mann mit den vielen Talenten. Sieben Jahre Drogen haben bei ihm offenbar keinen bleibenden Schaden angerichtet. Raphael ist sportlich, spielt Keyboard und Gitarre, und von Fazenda-Leiter Roland Mühlig hat er sogar das Töpfern gelernt:

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O-Ton 20 Töpfern mit Atmo am Ende 26‘‘

Als ich hierhin kam, ich habe ja früher viele chemische Drogen konsumiert, dadurch war ich noch sehr zittrig und nervös, habe ich versucht zu töpfern um mich abzulenken, ich wusste kaum, wie kriege ich meine Finger beruhigt, ich habe nur in den Ton reingezittert und im Endeffekt kamen irgendwelche nicht so schönen Gefäße raus, wenn überhaupt was raus kam.

Inzwischen ist er sehr routiniert. Vom Tonklumpen bis zum fertigen Espressotässchen dauert es exakt sieben Minuten. Die Tasse hat einen ebenen Boden, eine gleichmäßige Form und eine dünne Wand. Wenn sie gebrannt und glasiert ist, kann sie im Hofladen verkauft werden.

Töpferatmo nochmal hoch

Die anderen Jungs haben sich mit der Töpferscheibe nicht angefreundet, sie sind in ihrer Freizeit lieber im Kraftraum, spielen Fußball oder chillen.

Für etwas Abwechslung im Fazenda-Alltag sorgen die Geburtstage, an denen alle gemeinsam etwas unternehmen oder auch mal Pizza essen gehen. Und einmal im Monat ist Besuchstag, dann kommen Eltern und Geschwister. Sebastian bleibt an diesen Tagen allein. Der 35jährige mit der schwierigen Kindheit hat keinen Kontakt zu seinen Eltern.

O-Ton 21 Sebastian für andere freuen 26‘‘

Irgendwo ist es schon schwierig, aber ich kann mich unheimlich für andere freuen, gerade die jüngeren Jungs hier, wo ich dann sage:

Kümmert euch mal um eure Familie, ich mache das, was hier so anliegt, kein Stress. Das macht auch eine gute Gemeinschaft aus, dass man sich gegenseitig unterstützt, auch wenn es einen ein bisschen schmerzt, für mich ist es okay, für mich ist es gut.

Atmo 06 Kaffeemaschine + Leute

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Vier Wochen später, Ende Oktober. Heute ist das Fazenda-Hofcafé im ersten Stock der Villa geöffnet, es ist Sonntag. Ein wunderschöner Raum in Pastelltönen empfängt mich, mit traumhaftem Blick über Rhein und Weinberge. Ich schaue mich im Café um, zwei der Jungs fehlen. Schnell stellt sich heraus: Sebastian und Max sind gerade für vier Wochen auf einer anderen Fazenda, in Bayern – das gehört zum Therapie-

Programm. Dafür sind viele Besucher gekommen, hauptsächlich

Familien mit kleinen Kindern. Aber auch Ältere, die hier einfach Kaffee trinken und Kuchen essen. Der ist spendiert – von Leuten, die die Fazenda unterstützen, weil sie vom Erfolg der Arbeit überzeugt sind:

O-Ton 22 Hofcafé Besucher 28‘‘

Besucher: Das fällt bei vielen Jungs stark auf, wie die sich körperlich verändert haben, wieder zugenommen haben, wieder Power, wieder Saft, in den Armen, in den Körpern, das finde ich schon sehr

beeindruckend, was da getan wird für die Jungs.

Besucherin: Manchmal sieht man wirklich am Gesichtsausdruck, dass sich eine totale Veränderung vollzogen hat, die strahlen, haben eine ganz andere Ausstrahlung.

Ich hatte gehofft, Johannes beim Hofcafé zu treffen, einen Ehemaligen.

Sein Aufenthalt auf der Fazenda liegt eineinhalb Jahre zurück.

Inzwischen macht er in Köln eine Ausbildung zum Speditionskaufmann.

Er kommt immer noch regelmäßig nach Boppard, ist aber gerade für einige Zeit verreist. Ich kann ihn deshalb nur via Internet interviewen. Er fühlt sich stabil, weil er auf der Fazenda etwas erkannt hat, was für ihn entscheidend war:

O-Ton 23 Johannes Nächstenliebe 46‘‘

Die Nächstenliebe zu leben auf jeden Fall. Denn Sucht ist ja irgendwo auch eine Suche. Und ich habe ja eine andere Therapie bereits

abgeschlossen, eine staatliche Therapie, die auf dem normalen Weg funktioniert, da haben wir immer Werkzeuge bekommen, gegen die Sucht anzukämpfen, im Prinzip kämpft man in dem Moment auch gegen sich selber. Und die Fazenda hat einen ganz anderen Ansatz gemacht,

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sie hat uns anstelle der Sucht etwas gegeben, was uns zufrieden und glücklich macht, das war die Nächstenliebe. Der Kern der Bibel ist ja im Prinzip immer die Nächstenliebe, und durch das konkrete Anwenden und Leben hat das etwas mit mir gemacht, so dass ich zufrieden geworden bin, ohne dass ich da Suchtmittel brauche oder so etwas.

Die Verbindung in die Drogenszene hat der 23jährige radikal gekappt.

Wichtig für ihn: ein stabiles soziales Netz und eine Wohnung, in der er sich wohlfühlt. Und was ist aus seinem Vertrauen auf Gott geworden?

Hält er fest am Rosenkranzbeten und Bibellesen, wie er es auf der Fazenda eingeübt hat?

O-Ton 25 Johannes ab vom Pfad 20‘‘

Da muss ich ehrlich sagen, da bin ich ab vom Pfad. Es tat mir sehr gut auf der Fazenda, ich bin auch immer noch der Meinung, dass in der Bibel viel Wahres drinsteckt und auch viel Alltagstaugliches, aber jetzt im Alltag gehe ich nicht mehr in die Kirche, ich bin da ziemlich über Kreuz, wenn ich das so sagen darf. (lacht)

Atmo 07 Weihnachtsmarktgedudel

Weihnachtsmarkt in Boppard. Zwischen Kinderkarussell Bürsten, Schmuck und Selbstgenähtem hat auch die Fazenda ihren Stand aufgebaut. Es gibt Fazenda-Kaffee, von den Jungs selbst gebackene Lebkuchen, Marmelade, Getöpfertes. Hier treffe ich Sebastian wieder, er hat seinen Monat auf der Fazenda im bayerischen Bickenried hinter sich.

Eine gute Erfahrung:

O-Ton 26 Sebastian Formation 34‘‘

Ich habe Dinge erlebt, die ich noch nie erlebt habe, viele Erfahrungen gesammelt und viele schöne Momente erlebt. Wir hatten verschiedene Ausflüge, wir waren in den Bergen, in Assisi und man hat auch

verschiedene Themen: z.B. das Evangelium in die heutige Zeit

übersetzen. Jetzt am Samstag musste ich die Betrachtung machen für alle, mir ging es erst sehr schlecht, mir ist alles auf den Magen

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geschlagen, weil es mir so viel Stress gemacht hat, ich habe gutes Feedback bekommen von allen und man überlebt es.

Er ist jetzt 7 Monate auf der Fazenda, so lange hat er noch nie durchgehalten. Darauf ist er stolz. Sebastians Gedanken wandern mittlerweile immer häufiger in die Zukunft. Nach seinem Jahr auf der Fazenda will er erst mal Geld verdienen. Neben der Arbeit sind

Gemeinschaft und Spiritualität zu wichtigen Elementen seines Lebens geworden. Daran möchte er unbedingt festhalten.

O-Ton 29 Sebastian Zukunft 28‘‘

Ich möchte noch weiter in meinem Glauben wachsen. Für mich ist es wichtig, dass ich für meine Kinder ein Vater sein kann, für mein Leben ein guter Hirte vielleicht, und für meine Freunde ein guter Freund sein kann, also Fazenda ist für mich Familie, aber auch Freunde, ich lerne viele wertvolle Menschen kennen, und die will ich auch weiter in meinem Leben behalten, und nicht wie früher … so weit bin ich jetzt, und ich denke, dass ich noch weiterkommen kann, aber dafür habe ich ja jetzt noch ein bisschen Zeit.

Anders bei Raphael. Seine Zeit auf der Fazenda ging Mitte Dezember zu Ende. Im Rahmen einer kleinen Feier bekam er sein „Fazenda-Diplom“

überreicht. Keine Garantie, dass er nie wieder rückfällig wird, eher eine Bestätigung, dass er gelernt hat, wie er sich in Krisen selbst helfen kann.

Dieses Weihnachtsfest feiert er also wieder mit seiner Familie: den Eltern, den Brüdern, der Oma. Auf dieses Ziel hat er ein Jahr lang hingearbeitet, es hat ihm Kraft gegeben. Ein anderes Ziel hat er erst einmal zurückgestellt. Seine Ausbildung zum Altenpfleger muss warten.

Jetzt will Raphael erst einmal ein halbes Jahr nach Brasilien. Er wird als Freiwilliger auf der Fazenda da Esperanҫa in Sao Paolo mitarbeiten:

O-Ton 30 Raphael richtiger Weg 10‘‘

Das was mir geschenkt wurde, will ich weiterschenken, ich will auch eine Auslandserfahrung machen, bin momentan dabei, Portugiesisch zu

lernen, das ist der richtige Weg für mich.

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