Die Ebenbürtigkeit des Fremden -
Über die Aufgaben arabistischer Lehre und Forschung
in der Gegenwart*
Tilman Nagel, Göttingen
I.
Der Kulturkritiker Ivan Illich berichtet die folgende Begebenheit, die er
in Dakar erlebte: Mit einem Begleiter ging er an einem Bettler vorUber,
der vor einer Moschee saß; möglichst verstohlen steckte ihm Illich eine
Münze zu. Der Begleiter, der dies dennoch bemerkt hatte, forderte Illich
auf die Handlung zu wiederholen und dem Bettler dabei ins Gesicht zu
schauen. Dieser spendete darauf dem Geber einen arabischen Segens¬
wunsch. Illich kommentiert das Geschehen wie folgt: „Was da vor sich
ging, ... war eine Feier der Unvergleichbarkeit von zehn Franken und
Allahs Segen. Und gerade deshalb konnten wir uns in die Augen sehen als
Du und Du. Die Unvergleichbarkeit der Spende hatte unsere Ebenbürtig¬
keit bezeugt."'
Wie geht man mit dem Fremden um, das der Gegenstand orientalisti¬
scher Studien ist? Und wenn auf diese Frage eine plausible Antwort mög¬
lich ist - was folgt dann aus ihr für die Orientalistik als eine universitäre
Lehr- und Forschungsdisziplin? Im Kern ist die Antwort in Illichs Episode
enthalten. Indem ich mich auf mein engeres Fachgebiet, die in Göttingen
nun seit 250 Jahren gepflegte Arabistik, beschränke, will ich versuchen,
diesen Kern freizulegen. Hierbei soll zunächst gezeigt werden, wie gegen
Ende des 18. Jahrhunderts die Einsicht in die Fremdheit des Orients, ins¬
besondere des islamischen, gewonnen wurde; wie dann aber im Gefolge
des Siegeszuges der technischen Rationalität diese Einsicht verblaßt und
in der Soziologie und Politologie, die die technische Rationalität nach-
* Vortrag, gehalten zur Eröffnung der Ausstellung Begegnung mit Arabien -
250 Jahre Arabistik an der Universität Göttingen am 28. Mai 1998.
' Zitiert bei M. Gronemeyer: Das Leben als letzte Gelegenheit. Darmstadt
1993, S. 158. Das IV. Kapitel dieses Buches trägt die tJberschrift Das Fremde ist
ausgestorben und enthält lesenswerte Erwägungen zu unserem Gegenstand.
Medaillon mit Angaben über das Aussehen des Kalifen 'Utmän (reg. 644-656)
- aus einem sunnitischen Gebetbuch -
(SUB Göttingen)
ahmen, fast ganz verdeckt wird. Die Arabistik ist von alldem nicht unbe¬
rührt geblieben. Doch geben ihr in jüngster Zeit aufkeimende Zweifel, ob
Soziologie und Politologie wirklich einem allgemeingültigen Gefüge
menschlicher Gesellung auf der Spur seien, ihren eigentlichen Gegen¬
stand, nämlich den Orient als ein ebenbürtig Anderes, zurück. Hierauf
werde ich am Schluß eingehen.
n.
Als Johann David Michaelis (gest. 1791) vor 250 Jahren in den „Göttingi-
schen Zeitungen von gelehrten Sachen" eine Einführung in die arabische
Sprache und eine Lehrveranstaltung über den Koran ankündigte, galt es
noch als selbstverständlich, daß die Geschichte des Nahen Ostens ein
unaussonderbarer Teil unserer eigenen Vergangenheit sei. Die Überliefe¬
rung des Alten und des Neuen Testaments verband sich in jener Weltge¬
gend mit dem hellenistischen Erbe; in der philosophischen Durchdrin¬
gung der christlichen Heilsbotschaft verschmolzen beide Elemente zu
einem Ganzen, das für die Aneignung jeglicher Art von Bildung grund¬
legend war. Daß das Arabische der Träger eines wesentlichen, wenn auch
heiklen Teiles dieses Erbes war, wußte man seit den Auseinandersetzun¬
gen des 13. Jahrhunderts um den Averroismus. Ausgeblendet blieb aller¬
dings der Islam, dessen Reich sich wie ein Schatten auf jene Weltgegend
gelegt zu haben schien. Was es mit ihm auf sich habe, war noch kein
Gegenstand in sich selbst begründeter wissenschaftlicher Neugierde.
Michaelis dozierte über den Koran, weil dieser ein leicht zu beschaffender
arabischer Lesestoff sei, der aber bedauerlicherweise den Fehler habe,
stilistisch nicht an die altarabische Poesie heranzureichen. Diese nämlich
hielt er für das eigentliche Ziel arabistischer Bemühungen, glaubte er
doch, in der altarabischen Dichtung einen wahrheitsgetreuen Spiegel der
rauhen Lebensverhältnisse zu erkennen, denen die großen Gestalten des
Alten Testaments ausgesetzt gewesen waren. Nicht also nur als ein
Medium der Bewahrung griechischer Weisheit, wie dies fiir das Werk des
Averroes galt, sondern auch als Wegweiser zum Verständnis der Bibel
taugte das Arabische. Man mag die Naivität belächeln, mit der man um
die Mitte des 18. Jahrhunderts Teile der arabischen Literatur in die graue
Vorzeit zurückdatierte und sie damit zu einem Mittel erklärte, mit dem
man sich der eigenen Wurzeln zu vergewissern hoffte. Die Späteren haben
Michaelis oft dafür gerügt, daß er die Abwegigkeit dieser Annahmen nicht
erkannte. Doch sollte man folgendes bedenken: Indem man nach den
Lebensverhältnissen der Epochen Abrahams oder Moses fragt und zur
Erläuterung eine dem Alten Testament fremde Überlieferung heranzieht,
beginnt man die Fremdheit dessen zu ahnen, was uns in der Bibel überlie¬
fert wird. Der Göttinger Orientalist Eichhorn (gest. 1827), ein Schüler
Michaelis' und neben der hebraistischen Hauptprofession ebenfalls ein
Arabist, betrachtet in seinen epochemachenden Arbeiten das Alte Testa¬
ment nicht mehr als ein ohne weiteres verständliches Zeugnis unserer
Heilsgeschichte, sondern als eine Sammlung von Schriften einer uns fern¬
stehenden Welt, die dank „ihrem Inhalt und ihrem alten, originellen
Geist" unser Forschungsinteresse beanspruche.^
In jener Zeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts öffneten sich
manchen Gelehrten, allen voran Johann Jacob Reiske (gest. 1774), die
Augen flir den Islam als eine eigenständige welthistorische Größe, und
damit wandelte sich die Arabistik von Grund auf War sie bis dahin eine
Disziplin, die sich mit einem Teilspekt unserer eigenen Vergangenheit
befaßte, so hatte sie es von nun an mit einem Ausschnitt aus der Mensch¬
heitsgeschichte zu tun, der als fremd, wenn nicht gar feindselig empfun¬
den wurde. Der Orient wurde als das Andere wahrgenommen, angesichts
der im Laufe des 19. Jahrhunderts sichtbar werdenden politischen Über¬
legenheit Europas wohl gar als das Unzulängliche, das Überlebte. Mit die¬
sem Anderen ließ man sich möglichst nur unter der Voraussetzung ein,
daß es sich anschicke, seine Fremdheit abzustreifen und so zu werden wie
wir - eine Haltung, die, meist unbewußt, den Umgang der Europäer mit
dem Orient bis heute bestimmt. Eben indem der fromme Bettler dem
Europäer Illich so unverhohlen anders erscheint, löst er dessen verlegene
Geste aus, die der Andere als anmaßend empfinden muß, weil man ihm
nicht ins Gesicht blickt. Die Verlegenheit aber ist der Ausdruck des
Gefühls, den Anderen nicht ausrechnen zu können. Einen aussagekräfti¬
gen Beleg für solch ein Verhältnis zum Orient, das ihn nur dann als ein
Gegenüber anerkennt, wenn er sich anpaßt, bildeten die Feierlichkeiten
zur Eröffnung des Suez-Kanals. Der gewaltige Aufwand, mit dem der Khe¬
dive Ismail zeigen wollte, daß sich sein Land mit den europäischen Mäch¬
ten messen könne, wurde von deren Abgesandten gerne genossen. Doch
drehte sich alles nicht um Ägypten, sondern um die Gunst der Europäer.
Wohl auf Änordnung Ismails feierten Muslime und Christen gemeinsam
einen Gottesdienst. Der Rektor der al-Äzhar-Hochschule sagte dabei:
„Allah, schenke deinen Segen Europa, das, wie du siehst, heute zu uns
gekommen ist. Schenke deinen Segen dem Unternehmen, das verspricht,
2 Vgl. in diesem Zusammenhang T. Nagel (Hrsg.): Begegnung mü Arabien. 250
Jahre Arabistik in Göttingen. Göttingen 1998, S. 12-16.
unsere arme Nation zu bereichern!" Kluge Augenzeugen jener Festlich¬
keiten ahnten, daß in Wahrheit nichts anderes geschehen war als eine
tiefe Demütigung des Orients. So schrieb Flaubert: „Die großen kollekti¬
ven Arbeiten wie der Kanal von Suez sind vielleicht - in anderer Form -
Entwürfe ... für ... ungeheuerliche Konflikte, von denen wir keine Vor¬
stellung haben. "3
III.
Ich betrachte es als symptomatisch, daß eine technische Großtat der
Anlaß für jene Inszenierung war, die das Fremde des Orients zu einer
Kulisse der Zurschaustellung europäischer Modernität entwürdigte. Und
damit mache ich einen Sprung in die Gegenwart. In geradezu atemberau¬
bender Schnelligkeit hat die Ausbreitung westlicher Technik über den
ganzen Erdball dazu beigetragen, daß der erdrückenden Mehrheit der
Europäer der Begriff des Fremden und erst recht die anstrengende Ach¬
tung des Fremden abhanden gekommen sind. Es sind in Wahrheit die
Gleichgültigen und die Verlegenen, die sich mit der Utopie der multikul¬
turellen Weltgesellschaft die falsche Aura moralischer Überlegenheit ver¬
schaffen, indem sie jedermann das Recht zubilligen, seine ganz persön¬
lichen Vorstellungen von Kultur auszuleben, und niemanden verpflich¬
ten, sich tatsächlich mit dem anderen einzulassen und auseinanderzuset¬
zen. Die Technik und die ihr zugrundeliegenden Naturwissenschaften
nähren zudem, wie schon angedeutet, die Illusion eines Verschwindens
des Fremden. Denn sie erheben den Anspruch, die Gesetze des Wirk¬
lichen zu erkennen und sie für dessen Beherrschung fruchtbar zu machen;
nur was in diesem Sinne verwertbar ist, ist wesentlich - mithin in keinem
Fall die arabische Segensformel jenes Unbekannten in Dakar. So haben
wir uns angewöhnt, nicht mehr zwischen eigen und fremd zu unterschei¬
den, sondern zwischen relevant und irrelevant, und irrelevant ist, was
sich nicht dem Maß von Technik und Naturwissenschaft fügt. Diese Gei¬
steshaltung ist vermutlich der Boden, auf dem die Ideologie der „Interkul-
turalität" wuchert, die flir alles und jedes Verständnis bekundet und stets
die Anstrengung des Verstehens schuldig bleibt.
Die Soziologie ist der Versuch, das Maß der Naturwissenschaft auf die
Erforschung der menschlichen Gesellung auszuweiten.* Es liegt nahe, daß
3 U. Schultz (Hrsg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur
Gegenwart. München 1988, S. 296-305.
* Ich beziehe mich hier, um nur ein prägnantes Beispiel zu nennen, auf Fr. A.
Geisteswissenschaftler die soziologische Überformung ihrer Disziplinen
begrüßten, weil sie ihnen einen Weg aus der vermeintlichen Irrelevanz zu
weisen schien.''' Für die Arabistik bedeutete diese Wende, daß man den
Orient lediglich als ein Fallbeispiel von Theorien zu betrachten habe, die
nicht aus der Erkundung orientalischer Überlieferung und Gegenwart
gewonnen wurden. Die philologische Durchdringung und die historisch¬
kritische Interpretation der arabischen Texte gelangte in den Geruch des
Überholten. In der praktischen Arbeit bringt diese Wende der Dinge den
VON Hayek: The Counter-Revolution of Science. Studies on the Abuse of Reason.
Glencoe/Illinois 1952. Die in diesem Buch zusammengefaßten Arbeiten beschäfti¬
gen sich zwar mit dem 19. Jahrhundert; sie zeigen aber in wünschenswerter Klar¬
heit die bis heute ungemilderte Hybris szientistischer Humanwissenschaften und
die Unerfüllbarkeit ihres Versprechens, den Menschen „objektiv", d. h. mit
„naturwissenschaftlicher" Exaktheit zu erfassen. Von Hayek stellt dem ersten Teil seines Buches die folgenden Ausführungen von Adam Smith voran: "Systems
have universally owed their origin to the lucubrations of those who were ac¬
quainted with one art, but ignorant ofthe other; who therefore explained to them¬
selves the phenomena, in that which was strange to them, by those in that which
was familiar; and with whom, upon that account, the analogy, which in other
writers gives occasion to a few ingenuous similitudes, became the great hinge on
which every thing turned."
5 In der Bestandsaufnahme der kultur- und sozialwissensehaftlichen Forschung
über die islamische Welt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutsches Orient-
Institut Hamburg, Oktober 1997) fmdet sich mit Blick auf den in den Augen der
Verfasser beklagenswert hohen Anteil philologischer und historisch-kritischer Islamforschung ein lebhaftes Plädoyer für eine „methodische Flexibilität", die
„sowohl fachübergreifend wie komparatistisch angelegt ist" (S. 42). Zwei Seiten
weiter stößt man aufdie Sätze: „Nachholbedarf im Bereich der Theoriebildung
und in den Methoden besteht auch in der gegenwartsbezogenen Politik- und Wirt¬
schaftsforschung ... Fachvertreter kritisieren beispielsweise den Mangel an Kon¬
zepten zur Analyse politischer Systeme in der Region (gemeint ist die islamische Welt, T. N.) oder an Vergleichsanalysen von Staaten mit ähnlicher Wirtschafts¬
struktur." Wie denn das? So fragt man erstaunt. Gerade für den Bereich der
„gegenwartsbezogenen Politik- und Wirtschaftsforschung", der doch nicht von
beschränkten Philologen und Historikern bestellt wird, wäre dank der profe.ssio-
nell gehandhabten global gültigen Methoden, deren Aneignung den Philologen so
warm ans Herz gelegt wurde, das Vorliegen methodisch vorbildlicher Arbeiten
mit glänzenden Ergebnissen zu erwarten. - Die Bestandsaufnahme führt brav
jeden in Deutschland tätigen Wissenschaftler auf der irgendwann einmal etwas
geäußert hat, das in irgendeiner Form auf die islamische Welt Bezug nimmt. Die
Gelegenheit, zu einer tiefer schürfenden Erörterung über die Möglichkeiten und
Grenzen islamwissenschaftlicher Forschung und über die Implikationen der
unterschiedlichen denkbaren Methoden anzuregen, wurde leider vertan, vielleicht nicht einmal gesucht.
Vorteil, daß man den philologischen Standard senken kann - bis hin zum
Verzicht auf Kenntnisse etwa des Arabischen, die über die banale Kon¬
versationsebene hinausgehen. Man erklärt das schweißtreibende Studium
der Quellen für zweitrangig, denn was man wissen will, das sind die soge¬
nannten Strukturen, die überall ähnlich, vielleicht sogar gleich seien. Er¬
schien der Nahe Osten bis in die Zeit Michaelis' nicht als fremd, weil es
sich um die Weltgegend handelte, in der sich ein wesentlicher Teil unse¬
rer eigenen Geschichte abgespielt hatte, so ist die Fremdheit des Orients
nunmehr scheinbar aufgehoben, weil die ihn betreffenden Daten und
Strukturen - was immer hiermit gemeint sein mag - mit denen aus allen
anderen Weltgegenden „kompatibel" sein sollen oder besser: „kompati¬
bel" gemacht werden.
Es erstaunt im übrigen, daß unsere sich als aufgeklärt begreifende
Gesellschaft geneigt ist, diesem Konstrukt „kompatibler" Daten beinahe
magisch zu nennende Kräfte zuzutrauen ; denn aus solchen Daten und den
vernünftigen Schlüssen, die aus ihnen gezogen werden können, soll das
eine „globale Dorf hervorgehen, das als eine Ausdehnung des prosperie¬
renden Sozialstaats bis in den fernsten Winkel der Erde vorgestellt wird.
Der Imperialismus vergangener Tage, der französische zumal und der rus¬
sische der Zarenzeit, nahmen für sich in Anspruch, einer bestimmten zivi¬
lisatorischen Idee dienstbar zu sein; der heute unter dem Schlagwort der
Globalisierung betriebene ist hingegen gänzlich frei von irrelevanten
Anwandlungen und dank solcher Leere der skizzierten Ideologie der
„Interkulturalität" durchaus wahlverwandt. Dem viel gescholtenen, aber
wenig gelesenen S. Huntington kommt das Verdienst zu, in seinem Buch
Kampf der Kulturen jene magischen Vorstellungen auf den Begriff ge¬
bracht und ihre Unhaltbarkeit herausgearbeitet zu haben. Bei ihm finden
sich die einprägsamen Sätze: „Die Quintessenz der westlichen Zivilisation
ist die Magna Charta, nicht der Big Mac. Die Tatsache, daß Nichtwestler
in diesen beißen, sagt nichts darüber aus, ob sie jene akzeptieren."® Die
Kritik an Huntington gab sich als moralische Entrüstung über die angeb¬
lich von ihm verkündete Unduldsamkeit gegenüber fremden Kulturen, in
Wahrheit aber entsprang sie dem Zorn darüber, daß er die Selbstzufrie¬
denheit der politischen, ökonomischen und publizistischen Führungs¬
schichten der westlichen Demokratien bloßstellte.
6 S. Huntington: Kampf der Kulturen. Münehen 1996, S. 79.
IV.
Mit Blick auf die weltweite Verbreitung technischer Neuerungen ist also
zu fragen: Erzwingt etwa das Internet, das, um den Ausdruck Illichs zu
gebrauchen, die „Feier der Unvergleichbarkeit" ausschließt, die Anerken¬
nung der interkulturellen Leere und markiert damit das endgültige Ver¬
schwinden eines genuinen orientalistischen Forschungsgegenstandes? Es
ist unbestritten, daß technische Neuerungen den Werdegang von Kultu¬
ren beeinflussen - und deshalb auch die Themen der mit diesen Kulturen
befaßten Forschung. Aber es ist ein Irrtum, daß die Art des Einflusses sich
aus dem Wesen der technischen Neuerung selbst ableiten lasse. Die ara¬
bisch-islamische Kultur ist nicht buddhistisch geworden, als sie in der
Mitte des 8. Jahrhunderts vom damals buddhistischen China die Kunst
der Papierherstellung lernte. Vielmehr hat diese Neuerung eine Eigen¬
tümlichkeit der arabisch-islamischen Kultur schärfer hervortreten las¬
sen. In Sure 3, Vers IIO, wird die muslimische Glaubensgemeinschaft als
die beste gepriesen, die je gestiftet worden sei; denn sie befehle ihren Mit¬
gliedern das Billigenswerte an, verbiete ihnen, was tadelnswert sei und
zeichne sich durch den Glauben an den einen Gott aus. Mit diesem und
ähnlichen Sätzen der Offenbarung ist die Forderung erhoben, daß der
ganze Lebensvollzug sich nach von Gott selber verfügten Normen zu rich¬
ten habe. Der Bestand an normativen Aussagen des Korans reicht aber
bei weitem nicht aus, um diesen Anspruch glaubhaft einzulösen. Seit dem
letzten Drittel des 7. Jahrhunderts entstand unter hier nicht zu erörtern¬
den Voraussetzungen die Literaturgattung der Prophetenüberlieferung,
die in tausenden von Einzelnachrichten Aufschluß über Muhammads
Reden, Handeln und stillschweigendes Billigen in Angelegenheiten des
Alltags geben wollte. Ein Bestandsverzeichnis des arabischen Schrift¬
tums, das ein Bagdader Buchhändler des ausgehenden 10. Jahrhunderts
verfaßte, zeigt nun, daß die bis etwa zum Jahr 800 geschriebenen Titel
meist sehr knappe Spezialabhandlungen waren. Erst danach entstanden
die heute noch verwendeten umfangreichen Sammlungen, die die Prophe¬
tenüberlieferung in einer den Zwecken der Rechtswissenschaft dienlichen
Weise anordnen. So wurde es möglich, der im obigen Koranvers geforder¬
ten Gestaltung des Lebensvollzugs nach Maßgabe des von Gott inspirier¬
ten prophetischen Vorbildes nachzukommen. Es entwickelte sich ein die¬
sem Ziel verpflichtetes, die riesige Landmasse des islamischen Reiches
umspannendes Gelehrtentum, dessen technische Voraussetzung der
Gebrauch des Papiers ist. Ein geistreicher basrischer Literat des 9. Jahr¬
hunderts rühmt die Vorzüge, die dieser Beschreibstoff gegenüber dem
Pergament aufweist: Die aufgetragene Schrift läßt sich nicht einfach
abwischen; es ist nicht annähernd so schwer wie Pergament, das überdies
den Wechsel zwischen feuchter und trockener Witterung schlecht ver¬
trägt; auf Papier niedergeschriebenes Wissen vermag ein Gelehrter in
einer Menge auf Reisen mit sich zu führen, die in Pergament ganze
Kamelladungen ausmachen würde.'' Überschlagen wir das Aufkommen
des Buchdruckes und gehen wir gleich zur elektronischen Datenverarbei¬
tung über! Sie hat heute die genannte Überlieferung in einem vorher
ungeahnten Ausmaß verfügbar gemacht, und den Nutzen davon hat eben
nicht nur die europäische Arabistik, sondern vor allem die islamische
Rechtswissenschaft, die sich vor die Aufgabe gestellt sieht, dem moder¬
nen Leben entsprechende Rechtsnormen aus der eigenen Tradition zu
entwickeln. Es leuchtet ein, daß diese Arbeit, keineswegs aber die Über¬
nahme westlicher Normen, mit Hilfe der neuen Technik vorangetrieben
wird. Wenn man die neueste islamische Rechtsgeschichte studieren will,
ist man daher aufdie Kenntnis des materiellen Inhalts und der Argumen¬
tationsweise der klassischen Scharia-Wissenschaft angewiesen. Von der
seit den 60er Jahren im Erscheinen begriffenen neuen Encyclopedia of
Islam wird dieser Sachverhalt übrigens noch ignoriert: Der einschlägige
Artikel Idjtihad spricht davon, daß die Übernahme westlichen Rechts in
vollem Gange sei und die klassischen Interpretationsmuster vor dem Aus¬
sterben stünden.
V.
Als jener Artikel verfaßt wurde, waren Sozialwissenschaftler und Polito¬
logen noch davon überzeugt, eine objektive Erkenntnis der politischen
und gesellschaftlichen Fakten sei aufder Grundlage der empirischen Ana¬
lyse sozialer Phänomene erreichbar;* das Ziel war die Erklärung und Vor¬
aussage politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen und damit auch
deren Lenkung. Diese Hoffnungen haben sich, wie man seit den 80er Jah¬
ren einsieht, als trügerisch erwiesen. Man hat überdies gelernt, daß erst
recht Normensysteme, z. B. die Scharia, nicht aus den irrtümlich für
'' Al-Öähiz in RIMA 13 (1967), S. 303; vgl. al-Qalqasandi: Subh al-a'Sä, IV,
S. 486.
8 Aueh die Völkerkunde wurde bis in die späten 70er Jahre von der Vorstel¬
lung bestimmt, es gebe ein universal verbürgtes Ordnungsschema, dem alle
Aspekte einer jeden Kultur eingefügt werden könnten (V. Gottowick: Konstruk¬
tionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsen¬
tation. Berlin 1997, S. 170).
objektiv gehaltenen politischen und gesellschaftlichen Tatsachen abgelei¬
tet werden können.^ Daß die Annahme globaler „Strukturen" keine Leit¬
idee wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit ist, sondern eine pure Ideologie,
liegt mithin auf der Hand. Die Schlußfolgerungen, die hieraus für die Gei¬
steswissenschaften im allgemeinen und für die Orientalistik im besonde¬
ren zu ziehen sind, werden ebenfalls deutlich. Wir sind zurückverwiesen
aufdie Quellen selbst, in denen sich die Kulturen geäußert und von ihrem
Weltverständnis und ihrer Selbstauslegung Zeugnis gegeben haben.
Natürlich kann und soll man nicht hinter die Fragen, die die vermeintli¬
chen Leitwissenschaften wie Politologie und Soziologie aufgeworfen
haben, zurückgehen. Ob diese Fragen aber eine Erkenntnishilfe leisten
können, ist in jedem Einzelfall zu prüfen. Ist es zulässig, Erscheinungs¬
formen der zeitgenössischen arabisch-islamischen Kultur als vormodern
zu klassifizieren, wo doch dieser Begriff eine Entwicklung hin zu dem, was
wir modern nennen, voraussetzt? Ist es zulässig, europäische und nichteu¬
ropäische Kulturgeschichte zu parallelisieren, wie es in einigen Diszipli¬
nen der Orientalistik gerade Mode ist? Man ist nicht einmal vor der
gewaltsamen Fehldeutung aus dem Zusammenhang gerissener arabischer
Texte zurückgeschreckt, um das 18. Jahrhundert auch in der islamischen
Welt ein Zeitalter der Aufklärung sein zu lassen.'" Beide Male überträgt
man fiir den Werdegang des heutigen Europa kennzeichnende Entwick¬
lungslinien auf den Nahen Osten. In unserer mit Europa befaßten
Geschichtswissenschaft wäre ein analoges Vorgehen ganz und gar unan¬
nehmbar, aber mit Bezug auf den Orient findet es bei uns nicht wenig Bei¬
fall. Wir wünschen uns so sehr, es möge sich mit ihm verhalten wie mit
uns selbst.
Nun ist der Arabistik als einer philoglogischen Disziplin, die sich vor¬
wiegend mit Texten beschäftigen muß, seit dem ausgehenden 18. Jahr¬
hundert aufgetragen, in der Lehre und Forschung das unvergleichbar
Fremde vor allem des islamischen Orients zu beschreiben und so klar wie
irgend möglich auf den Begriff zu bringen. Daß sie sich lange Zeit dieser
Aufgabe auf vielfältige und sehr ernsthafte Weise angenommen hat,
belegt die Ausstellung, die wir heute eröffnen. Was aber jetzt als neue
8 Vgl. die knappe Zusammenfassung der Problematik in D. Zolo: Die demokra¬
tische Fürstenherrschaft. Für eine realistische Theorie der Politik. Göttingen 1997, S. 53 f
Vgl. G. Hagen/T. Seidensticker: Reinhard Schulzes Hypothese einer isla¬
mischen Aufklärung. Kritik einer historiographischen Kritik. In: ZDMG 148
(1998), S. 83-110.
Herausforderung hinzukommt, ist die umsichtige und zielstrebige Heraus¬
lösung des Faches aus der etwa dreißigjährigen Umklammerung durch
sozialwissenschaftliche Denkmuster, die auf westliche Verhältnisse aus¬
gerichtet sind und zu Unrecht universale Geltung beanspruchen. Die So¬
zialwissenschaften selber liefern den Ansporn hierfür: Man wird, so er¬
kennen sie, niemals objektive gesellschaftliche Tatbestände ermitteln,
sondern immer nur solche, die in einen Vorgang der sprachlichen Kom¬
munikation zwischen dem Forscher und den von ihm Befragten einbezo¬
gen worden sind. Man spricht daher von der Unabdingbarkeit einer re¬
flexive epistemology. '' Die Philologie, seit langem nachsichtig als alt¬
backen belächelt, gewinnt plötzlich wieder eine Schlüsselstellung in allen
Zweigen der Wissenschaft vom Menschen.
Der Orientalist befaßt sich zudem mit Kulturen, die in einer für den
Europäer, zumal für den Deutschen kaum nachzuvollziehenden Weise aus
einer historischen Tiefe leben. Daher ist der Orientalist gehalten, nicht
nur die Gegenwart in Rede und Widerrede zu erkunden, sondern muß in
die in der Gegenwart zur Erscheinung kommende Vergangenheit eindrin¬
gen. Dafür ein Beispiel: In der Diskussion um die Einführung eines aufder
Scharia fußenden Wirtschaftsrechts, die in einigen islamischen Ländern
abläuft und auf klassische Argumentationsmuster zurückgreift, tritt uns
etwas der islamischen Kultur Wesentliches entgegen, nicht eine irrele¬
vante Beigabe eines überall gleichartigen Vorganges der Rechtsentwick¬
lung. Das Ungleichartige, das der islamischen Kultur Eigentümliche ist
es, das diesen Vorgang in der islamischen Welt bestimmt und lenkt - den¬
ken wir an die Folgen der Einführung des Papiers! Das Verlangen nach
gegenwartsbezogener Orientforschung, das seit den 70er Jahren von Ver¬
tretern aus Wirtschaft und Politik so gebieterisch vorgetragen wird, darf
nur unter Befolgung hermeneutischer Methoden erfüllt werden, die einen
zwingen, dem Fremden ins Gesicht zu schauen. Andernfalls würden Wirt¬
schaft und Politik mit Ergebnissen abgespeist, die ihnen vielleicht gefal¬
len, aber nichts taugen. In dem Bemühen, dem Bürger unseres Landes die
Unvergleichbarkeit des Fremden bewußt zu machen, sehe ich die wichtig¬
ste Aufgabe, die der Arabistik und den anderen orientalistischen Fächern
jenseits von Forschung und Lehre gestellt ist. Schheßlich lebt der Andere,
" Ich beziehe mich hier auf D. Zolo: Reflexive Epistemology. Boston 1989
(Boston Studies in the Philosophy of Science). Ein ganz kurzer Überblick über
seine Überlegungen fmdet sich in dem schon genannten Buch Die demokratische
Fürstenherrschaft, S. 26-29. Für den Gegenstandsbereich der Völkerkunde ver¬
weise ich noch einmal auf V. Gottowick, besonders S. 34-76.
jenseits von Forschung und Lehre gestellt ist. Schließlich lebt der Andere,
der uns ebenbürtig ist, nicht nur in Dakar, und er tritt uns keineswegs
nur in der Gestalt eines Bettlers entgegen. Ihn zu verstehen, heißt von uns
selber absehen, soweit dies uns möglich ist; und da dies nicht gänzlich
möglieh ist, wird er sich uns trotz all unserer Anstrengungen niemals völ¬
lig erschließen. '2 Dies einzuräumen, verlangt die wissenschaftliche Red¬
lichkeit. Liegt nicht die Würde des Menschengeschlechts gerade in der
nicht vollständig aufklärbaren Verfaßtheit dessen, was mit den Leitideen
der Globalisierung nicht „kompatibel" ist?
'2 Das Kapitel Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie in H.-G.
Gadamers Wahrheit und Methode entfaltet diese Thematik auf wegweisende
Art.
MISZELLE
Eine Bemerkung zur Deutung des Wortes brahmadanda
im Theravädavinaya
Oskab v. Hinüber, Freiburg i. Brsg.
In Band 146 (1996) dieser Zeitschrift hat O. Freiberger dem Worte brahma¬
danda, einem schwierigen Begriff des buddhistischen Rechts, eine ausführ¬
liche und gründliche Studie gewidmet'. Darin sucht er drei Punkte zu klären.
Zuerst geht es ihm darum zu zeigen, daß channa als Personenname und nicht
als Appellativum in der Bedeutung „verdeckt" zu verstehen sei. Daraus ergibt
sich als neues Problem, daß nun die entsprechende Rechtsvorschrift lur eine
Einzelperson erlassen zu sein scheint, was gegen den Grundsatz einer allge¬
meinen Geltung verstößt. Schließlich wird versucht, die Bedeutung von
brahmadanda als „Strafe zum Heil" zu bestimmen.
Um die nach O. Freibergers Deutung nur auf den einen einzigen Mönch
Channa bezogene Strafe aus ihrer völligen Isolierung innerhalb des Vinaya zu
lösen, verweist er auf Devadatta, für den ebenfalls eine Sonderregel erlassen
wird. Denn der Buddha veranlaßt nach Devadattas Versuch, die Führung des
Ordens an sich zu reißen, eine allgemeine Bekanntmachung, daß Devadatta
nicht mehr im Sinne von Buddha, Samgha und Dhamma spreche und han-
dele^.
Diese Lösung des Problems überzeugt nicht vollends. Denn gerade Deva¬
datta wird nicht nur als Widersacher des Buddha in vieler Hinsicht eine Aus¬
nahmestellung eingeräumt, so daß sein Beispiel schlecht auf andere Personen
übertragbar scheint. Auch nach dem Tode des Buddha hätten sich schließlich
andere Mönche wiederum eine Führerrolle anmaßen können, so daß die auf
Devadatta bezogene Regelung immerhin allgemeine Bedeutung hätte gewin¬
nen können. Es läßt sich also darüber streiten, ob die auf Devadatta zuge¬
schnittene Regel wirklich ad personam erlassen worden ist. Vielmehr könnte
Devadattas Verhalten nur der Anlaß für die Einführung einer allgemeinen
' O. Freiberger: Zur Interpretation der Brahmadarida-Strafe im buddhisti¬
schen Ordensrecht. ZDMG 146 (1996), S. 456-491.
2 O. Freiberger, S. 480 f - In den Studien zur Person Devadattas wird dieses
Vinaya-Problem nicht weiter ausgeführt, vgl. zuletzt: A. Bareau: Les agissements de Devadatta selon les chapitres relatifs au schisme dans les divers Vinayapitaka.
1991. In: A. Bareau: Recherches sur la biographie du Buddha dans les Sütra¬
pitaka et les Vinayapitaka anciens III. Articles complementaires ed. par G. Fuss¬
man. Paris 1995, S. 221-266.