DER TIBETISCHEN KALENDERRECHNUNG
Von Dieter Schuh, Bonn
1. Der tibetische Kalender hat in der tibetologischen Fachliteratur frühe
und vielfältige Beachtung gefunden. So haben z.B. u.a. Csoma de Körös,
Schlagintweit, Pelliot, Berthold Läufer, Vostrikov, Tucci und
Petech über den tibetischen Kalender teils kurz und teils ausführlich
gehandelt'. Der Grund für dieses große Interesse ist leicht zu nennen. Die
Erklärung des Aufbaus und der Prinzipien des tibetischen Kalenders stellt
eine Aufgabe dar, die insofern der Grundlagenforschung der Tibetologie
zuzurechnen ist, als jedwede Darstellung der Geschichte Tibets einer ge¬
sicherten Identifizierung tibetischer Datumsangaben bedarf. Unter Identi¬
fizierung sei hier die Angabe des Äquivalents einer Datumsangabe nach
der julianischen bzw. gregorianischen Zeitrechnung verstanden. Es ist evi¬
dent, daß die Möglichkeit der Identifizierung einer vorgegebenen tibetischen
Datumsangabe ein Maß darstellt für die Einsicht, die die jeweilige For¬
schung in das tibetische Kalenderwesen gewonnen hat.
2.1. Die Forschung auf dem Gebiet des tibetischen Kalenderwcsens stand
trotz des eingangs erwähnten vielfältigen Interesses von Anfang an unter
keinem günstigen Stern. Die Bemerkungen von Georgius zu diesem Ge¬
genstand sind weitgehend als irreführend zu bezeichnen*. Csoma de Körös,
dem wir eine ausfülirliche Darstellung der Jahreszählung der Tibeter ver-
' A. Csoma de Köbös, A Grammar of the Tibetan Language, Calcutta 1834,
S. 147-154 und S. 181-198.
E. Schlagintweit, Buddhism in Tibet, London 1968 (reprint = 1863),
S. 273-289.
P. Pelliot, Le Cycle sexagenaire dans la Chronologie tibetain, Journal
Asiatique, XI, 1, Paris 1913.
B. Laufeb, (a) The Application of the Tibetan Sexagenary Cycle, T'oung Pao, Vol. 14, 1913.
(b) The Sexagenary Cycle once more, T'oimg Pao, Vol. 15, 1914.
A. I. VosTEiKOV, Tibetskaya istorißeskaya literatura, Moskau 1962, S. 240fr und S. 332-333.
G. Tucci, Vorwort zu: dPag-bsam-ljon-bzan of Sum-pa-mkhan-po Ye-öes-
dpal-hbyor, Part III, New Delhi 1959, S. IX-XI.
L. Petech, (a) China and Tibet in the Early 18th Century, Leiden 1950, S. 6f .
(b) The Dalai Lamas and Regents of Tibet, T'oung Pao, Ser. II, Bd. 48, 1959,
S. 369.
2 A. A. Geobgius, Alphabetum Tibetanum, Rom 1762, S. 464ff.
Grundzüge der Entwicklung der tibetischen Kalenderrechnung 555
danken, irrte sich bei der Identifizierung tibetischer Jahresangaben um ein
Jahr, indem cr als Äquivalent des 1. Jahres des 1. Sechzigerzyklus der aus
Indien stammenden Jahreszählung anstelle des Jahres 1027 fälschlich das
Jahr 1026 ansetzte. Dieser Fehler wurde fast ein Jahrhundert lang gemein¬
hin übernommen. Seine ausdrückliche Entdeckung und Korrektur ver¬
danken wir Pelliot.
2.2 Ällerdings wurde mit dieser Korrektur durch Pelliot das Problem
der Identifizierung tibetischer Jahresangaben noch nicht zufriedenstellend
gelöst. Der Grund hierfür ist darin gegeben, daß der Änfang eines beliebig
vorgegebenen tibetischen Jahres zum einen nicht mit dem Jahresanfang
des julianischen bzw. gregorianischen Kalenders übereinstimmt. Zum an¬
deren variieren die tibetischen Jahresanfänge wegen ihrer Abhängigkeit vom
Eintreffen bestimmter Mondphasen relativ zum festen Anfangspunkt des
natürlichen Jahres. Dies bedeutet, daß die Angaben von europäischen Äqui¬
valenten tibetischer Jahresangaben in der tibetologischen Fachliteratur im
allgemeinen um ein Jahr falsch sein können.
2.3. Die wichtigsten Ergebnisse, die die Erforschung des tibetischen Ka¬
lenders zum Beginn unseres Jahrhunderts erbracht hatte, lassen sich wie
folgt zusammenfassen.
1. Bei der Zählung der Jahre finden sich drei Methoden: Die Zählung
a) mit den 12 Tiernamen des ostasiatischen Tierkreiszyklus, der häufig
auch als zentralasiatischer Tierkreiszyklus bezeichnet wird,
b) nach dem Sechzigerzyklus chinesischen Ursprungs und
c) nach dem aus Indien stammenden Sechzigerzyklus, wobei das 1. Jahr
des 1. Zyklus dieser Zeitrechnung dem 1. Jahr des 70. Zyklus der
Telinga-Zeitrechnung entspricht.
2. Das Jahr besteht aus 12 bzw. 13 ,synodischen' Monaten, deren 1. Ka¬
lendertag jeweils auf den Neumondstag zu folgen hat und deren 15. Ka¬
lendertag jeweils ein Vollmondstag ist. Bei der Zählung der Monate
unterscheidet man vier Methoden.
a) Die numerische Zählung nach Äor-Monaten.
b) Die Zählung mit den Tiernamen des ostasiatischen Tierkreiszyklus.
c) Die Zählung mit den Jahreszeitenmonaten.
d) Die aus Indien stammende Monatszählung.
3. Der tibetische Monat besteht nominell aus 30 Kalendertagen. Um
Monatsanfang und Monatsende in Übereinstimmung mit den Mondpha¬
sen zu halten, treten bestimmte Kalendertage gelegentlich im Kalender
nicht auf. Darüber hinaus ist das Phänomen beobachtet worden, daß
aufeinanderfolgende Kalendertage gelegenthch mit der gleichen Nummer
gezählt werden.
2.4. Wie wenig mit diesen Feststellungen über das eigentliche Wesen des
tibetischen Kalenders ausgesagt wird, läßt sich leicht anhand von Äußer¬
ungen von Seiten verschiedener Zentralasienkundler belegen, die sich in
unserem Jahrhundert mit dem tibetischen Kalenderwesen beschäftigt
haben.
Nach Petech liegt allen tibetischen Zeitangaben, in denen die Monate
als Äor-Monate angegeben sind, die chinesische Kalenderrechnung zu¬
grunde. Entsprechend identifiziert er tibetische Datumsangaben mit Um¬
rechnungstabellen für den chinesischen Kalender*.
Nach Shakabpa sind tibetische Datumsangaben überhaupt nicht mit
Sicherheit identifizierbar, da die Einfügung von Schaltmonaten sowie das
Äuslassen und Hinzufügen bestimmter Kalendertage willkürlich sein soll*.
Schließlich findet sich eine Fülle von Hinweisen zum tibetischen Ka¬
lender in einem häufig zitierten, 1965 erschienenen Äufsatz von Claus
Vogel über tibetische Chronologie*. Nach Vogel ist z.B. das tibetische
Jahr ein lunares Jahr und beginnt im Februar. Darüber hinaus postuliert
er, daß der tibetische Kalender bei der Fixierung der Länge des natürlichen Jahres sogar genauer sei als der julianische Kalender. Schließlich findet sich
in seinem Äufsatz eine Tabelle mit modernen Äquivalenten der Monats¬
anfänge, die ich hier deshalb erwähne, weil sie inzwischen von Josef Kol-
MA§ zur Identifizierung tibetischer Datumsangaben benutzt worden ist*.
Nach dieser Tabelle beginnen die tibetischen Monate jeweils mit dem 16.
Tag des zugehörenden Monats europäischer Zeitrechnung, was doch die
unverständliche Annahme voraussetzt, daß der 15. Tag eines jeden euro¬
päischen Monats ein Neumondstag ist.
2.5. Die Verschiedenartigkeit der hier wiedergegebenen Thesen zeugt
zum einen für die große Verwirrung, die die Einsicht in die Prinzipien des
Aufbaus des tibetischen Kalenders beherrscht. Zum anderen muß im Vor¬
griff auf die folgenden Darlegungen gesagt werden, daß alle diese Thesen
falsch sind. Die Erklärung für diese Fehlerhaftigkeit ist leicht gefunden.
Keiner der genannten Zentralasienkundler stützt sich bei der Formulierung
seiner Thesen auf auch nur eine einzige tibetische Abhandlung über Ka¬
lenderrechnung und Astronomie. Dabei ist z.B. der vom Regenten Sans-
rgyas rgya-mtsho verfaßte Vaidürya dkar-po'', der eine der wichtigsten Ab-
ä L. Petech, a.a.O. (1950) S. 6f, (1959) S. 369.
* W. D. Shakabpa, Tibet - A Political History, New Häven-London 1967,
S. 15f.
* Gl. Vogel, On Tibetan Chronology, Central Asiatic Journal, Vol. 9, 1964,
S. 224-238.
« Josef KolmaS, A Genealogy of the Kings of Derge, Prague 1968, S. 60,
68 und 72.
' (^Phugs-lugs rtsis kyi legs-Mady mkhas-pa'i mgul-rgyan vai4ür dkar-po'i do-Sai dpyod-ldan sflin-nor, Lhasa-Ausgabe von 1909, 634 Bl.
Grundzüge der Entwicklung der tibetischen Kalenderrechnung 557
handlungen über Kalenderrechnung, Astronomie und Sino-tibetische Divi-
nationskalkulationen darstellt, schon im vorigen Jahrhundert der tibeto¬
logischen Forschung zugänglich geworden. Darüber hinaus sind Abhand¬
lungen über Kalenderrechnung keinesfalls als selten zu betrachten, so daß
ich selbst für meine Untersuchungen zur Geschichte der tibetischen Ka-
lenderrechnung, die die Grundlage für das vorliegende Referat bilden,
sechzig verschiedene Abhandlungen zu diesem Gegenstand sammeln konnte.
3.1. Wenn ich bisher von dem tibetischen Kalender gesprochen habe, so
muß dies insofern präzisiert werden, als es den tibetischen Kalender im
Sinne eines einzigen in Tibet verbreiteten Systems der Zeiteinteilung und
Zeitzählung wohl nie gegeben haben dürfte. Noch in diesem Jahrhundert
sind in Tibet wenigstens vier verschiedene Kalender in Gebrauch gewesen,
deren Unterschied natürlich nicht in den bloßen Bezeichnungen von Jahr,
Monat usw. gegeben ist, sondern aus der Verschiedenheit der zugrunde
liegenden Kalenderrechnungen resultiert. Dabei ist als gemeinsames Cha¬
rakteristikum festzuhalten, daß es sich in allen Fällen um einen lunisolaren Kalender handelt.
3.2. Den Nachweis, daß ein lunisolarer Kalender sogar schon während
der End phase der Vorherrschaft der Far-Ä;ZMWS-Dynastie in Tibet in Gebrauch
gewesen ist, verdanken wir E. Haarh*. Die Tatsache des Gebrauchs eines
solchen Kalenders im alten Tibet ist insofern nicht verwunderlich, als
Kalender dieser Art zur gleichen Zeit sowohl in Indien als auch in China
verwendet worden sind. Allerdings ist über die Feststellung dieser Tatsache
hinaus nichts Näheres über diesen im alten Tibet verwendeten Kalender
bekannt. So wissen wir z.B. bisher nicht, wann und von wem die lunisoiare
Zeitrechnung zum ersten Mal in Tibet eingeführt worden ist, ob es unter¬
schiedliche Kalender dieser Art unter verschiedenen Königen gegeben hat,
wie die Einfügung von Schaltmonaten und das Auslassen bestimmter Ka¬
lendertage gehandhabt wurde und wann die Jahreswechsel stattgefunden
haben.
3.3. Die großen Veränderungen, die mit dem Niedergang der Yar-kluns-
Dynastie und dem darauffolgenden Neuerstarken des Buddhismus die
tibetische Gesellschaft bestimmten, bewirkten auch im Bereich des Kalen¬
derwesens einen Neuanfang. Auf welche Werke sich dieser neue tibetische
Kalender stützte, läßt sich aus einer 1264 von dem iSa-sfcj/a-Hierarchen
'Phags-pa verfaßten Abhandlung über Kalenderrechnung mit dem Titel
rTsis kyi gtsug-lag dan mthun-par nes-pa entnehmen*. Dort heißt es, daß
sich die Tibeter in der Zählung der Jahre und Monate sowie bei der nomi-
« E. Haabh, The Yar-luh Dynasty, Kebenhavn 1969, S. 422f.
* Gesammelte Werke des 'Phags-pa, 3. Band (= Sa-skya-pa bka'-'bum, Vol. 4
(Poti Ba), Tokyo 1968), Bl. 287v,2-288v,5.
nellen Festlegung des Jahresanfangs - an der 'Phags-pa übrigens selbst entscheidenden Anteil gehabt haben soll - zwar den Chinesen angeschlossen
haben, daß aber ihre Kalenderrechnung der Schule des Kälacakra folgt.
Man kann sagen, daß spätestens seit 'Phags-pa, der die Propagierung der
iTäZacaira-Kalenderrechnung durch verschiedene Abhandlungen gefördert
hat, praktisch alle in Tibet verbreiteten Kalenderrechnungen auf der
iCäZacaira-Kalenderrechnung basieren, deren wichtigste Darstellung im
1. Kapitel des Kälacakratantra zu finden ist. Dies ist allerdings insoweit
einzuschränken, als im Zusammenhang mit der Befolgung von Mönchs¬
pflichten für den internen Klostergebrauch bis in die moderne Zeit einfach
strukturierte Finaya-Kalender in verschiedenen Klöstern, wie z.B. im
Kloster Se-ra, in Gebrauch gewesen sind. Hinweise darauf, daß solche ein¬
fachen Fi?Mi2/a-Kalender auch zur Datierung von Ereignissen benutzt wor¬
den sind, gibt es bis heute nicht.
4.1. Was nun die im 1. Kapitel des Kälacakratantra dargestellte Kalender¬
rechnung und Astronomie betrifft, so kann zunächst gesagt werden, daß
beide ihrem Wesen nach rein indisch sind. Dies gilt insbesondere für die
Kalenderrechnung, die auf die Berechnung der 5 Glieder (pancäiiga, tib.
Ina-bsdus), d. s. Wochentag, Datum, Sternort des Mondes zu Beginn des
jeweihgen Wochentages, karana und yoga, hinausläuft. Die Bestimmung
dieser 5 Glieder ist für alle in der Folgezeit entstandenen tibetischen Kalen¬
derrechnungen die primäre Aufgabe geblieben, so daß sie alle, soweit ge¬
sehen, ihrem indischen Ursprung treu gebheben sind.
4.2. Zunächst sei hier eine Bemerkung zum Alter des Kälacakratantra
gemacht. In der Kalenderrechnung des Kälacakratantra werden hierzu
zwei wichtige Daten explizit aufgeführt, nämlich das Jahr 1027 als Anfang
der Jahreszählung und das Jahr 806 n. Chr. als Epoche für alle kalendri-
schen und astronomischen Rechnungen'". Demnach kann das Kälacakra¬
tantra in der vorliegenden Fassung nicht vor 1026 entstanden sein, wobei
sein astronomischer Teil auf einer Textvorlage beruhen muß, die um 806
entstanden ist. Ich erwähne dies deshalb, weil hieraus ersichtlich wird, daß
das Jahr 1027 deshalb als Anfangsjahr der neueren Zeitrechnung in Tibet
benutzt wurde, weil es das Anfangs jähr der Jahreszählung des Kälaca¬
kratantra ist. Mit anderen Worten : Es läßt sich aus der Tatsache, daß die
neuere Jahreszählung der Tibeter mit dem Jahr 1027 beginnt, weder ablei¬
ten, daß diese Zeitzählung in diesem Jahr in Tibet tatsächlich begonnen
hat, noch läßt sich daraus folgern, daß um diese Zeit die Kälacakra-Kalen-
derrechnung in Tibet bekannt geworden ist. Es ist vielmehr, wie man aus
den Darlegungen des hSod-nams rtse-mo und des Grags-pa rgyal-mtshan
entnehmen kann, als sicher anzunehmen, daß eine allgemeine Verbreitung
Kälacakratantra, Kapitel I, Strophe 27.
Grundzüge der Entwicklung der tibetischen Kalenderreohnimg 559
dieser neueren Jahreszählung wie auch der Kälacakra-KalendeTrechnung
erst im 13. Jahrhundert stattgefunden haf .
4.3. An dieser Stelle muß auf die Eigentümlichkeit der indischen Kalen¬
derrechnung, welcher die Ä^äZacaifcra-Kalenderrechnung zuzurechnen ist,
hingewiesen werden, nämlich die, daß in ihr der Lauf von Sonne und Mond
eine zentrale Rolle spielt. Insbesondere wird im Kälacakratantra die genaue
Berechnung der Sonnenposition - die Sonne wird in diesem geozentrischen
Weltsystem als Planet angesehen - nur im Rahmen der Kalenderrechnung
gelehrt. Das gleiche kann von der gesamten nachfolgenden tibetischen
Literatur zu diesem Gegenstand gesagt werden. Aus diesen Gründen
mußten Änderungen z.B. bei der Festlegung der mittleren Bewegung von
Sonne und Mond folgenschwere Veränderungen für den Kalender nach sich
ziehen, so daß die Geschichte der tibetischen Kalenderrcchnung zu einem
großen Teil identisch ist mit der Geschichte der Astronomie in Tibet.
4.4. Die hohe Wertschätzung sowie die Autorität der Lehren des Kälaca¬
kra sind ein hervorstechendes Merkmal der Überlieferung dieses tantrischen
Lehrsystems in Tibet. Um so mehr stellt sich die Frage, wieso und inwie¬
weit es zur Ausprägung einer eigentümlichen lamaistischen Kalenderrech¬
nung und Astronomie kommen konnte, die die Berechtigung gibt, über¬
haupt von einer besonderen tibetischen bzw. lamaistischen Astronomie
und Kalenderrechnung zu sprechen. Zu dieser Frage ist insbesondere der
Hinweis wichtig, daß konkrete, systematische Beobachtungen des Stern¬
himmels und der Planetenbewegungen von selten tibetischer Astronomen
nur in geringem Maße durchgeführt worden sind und daß solche Beob¬
achtungen für die Entwicklung der Astronomie in Tibet nicht von großer
Bedeutung gewesen sein können. Dies ist gerade deshalb zu betonen, weil,
nachdem die KälcuMkra-Tiechnungen im 13. Jahrhundert zu großer Wert¬
schätzung gelangt waren, eine auf tatsächlichen Beobachtungen beruhende,
radikale Kritik des vorhandenen Systems zweifellos auf ähnlichen massiven
Widerspruch von selten der lamaistischen Dogmatiker gestoßen wäre, wie
ihn die europäische Astronomie beim Übergang vom Mittelalter zur Neu¬
zeit hat hinnehmen müssen.
Es ist daher wiederum wenig verwunderlich, wenn gerade berühmte
Lehrer der klassischen tibetischen Astronomie des 17. und 18. Jahrhunderts,
wie z.B. der 5. Dalai hama,, Sarls-rgyas rgya-mtsho nnd Dharmadri, von sich
behauptet haben, daß sie die wahre, vom Buddha selbst gelehrte Astrono¬
mie des Kälacakra propagieren. Aus solchen Äußerungen und der aus den
11 Vergl. a) bSod-nams rtse-mo, Chos la 'jug-pa'i sgo zes bya-ba'i bstan-bcos,
Ge.sammelte Werke des bSod-nams rtse-mo, 2. Band (= Sa-skya-pa bka'-'bum,
Vol. 2), Bl. 3I5r.
b) Grags-pa rgyal-mtshan, Dus-tshod bzun-ba'i rtsis-yig. Gesammelte Werke des
Grags-pa rgyal-mtshan, 4. Band {= Sa-skya-pa bka'-'bum. Vol. 4), Bl. 203v-204r.
Texten dieser Gelehrten selbst ersichtlich werdenden Diskrepanz zu den
Darstellungen im Kälacakratantra muß man schließen, daß es die Astro¬
nomie des Kälacakra schlechthin im Sinne eines systematischen Ganzen in
Tibet nicht gegeben hat.
4.5. Dies bestätigt sich bei näherer Betrachtung der Überlieferungsge¬
schichte des Kälacakra und seiner Astronomie voll und ganz. Das uns vor¬
liegende Kälacakratantra ist nach der eigenen Tradition dieses Lehrsystems
eine gekürzte Fassung des vom Buddha selbst gelehrten Mülatantra. Die
in dieser Kurzfassung enthaltene Astronomie umfaßt neben kurzen An¬
gaben über den Weltaufbau die Kalenderrechnung, die Berechnung der
Planetenpositionen sowie der Sonnen- und Mondfinsternisse. Die Dar¬
stellung hierzu ist außerordentlich kurz und umfaßt nieht mehr als 86
Strophen. Dem Charakter nach repräsentieren diese astronomischen Be¬
rechnungen, wie vor allem auch in dem bedeutenden Kommentarwerk zum
Kälacakratantra, der Vimalaprabhä, immer wieder betont wird, ein karana,
d.h. ein Werk, dessen Rechenanleitungen zum Zwecke möglichst leichter
Ausführbarkeit der Berechnungen durch die Vereinfachung der Regeln der
Siddhänta-Werke entstanden sind. Das zugehörende Siddhanta ist in dem
Mülatantra enthalten gewesen und muß daher als verloren angesehen
werden. Astronomie in Tibet war deshalb von ihrem Beginn an in die
Spannung zwischen den bekannten, aber unexakten Ä'amwa-Rechnungen
des Kälacakratantra und den exakten, bis auf einige Zitate in der Vimala¬
prabhä und im Kälacakrävatära aber unbekannten Siddhänta-B>ec\m\mgen
gehalten. Aus dieser Spannung heraus wurde eine Veränderung der Kä-
Zacafcra-Astronomie möglich, die sich als Rekonstruktion der wahren
Siddhänta-Astvonomiß verstand und im 15.-17. Jahrhundert mit der voll¬
ständigen Ausbildung der grub-rtsis, d.i. die klassische lamaistische Astro¬
nomie und Kalenderrechnung, einen Höhepunkt und Abschluß gefunden
hat.
5.1. Was dem tibetischen Astronomen zunächst auffallen mußte, sind
Diskrepanzen, die zwischen den Zahlenangaben des Kälacakratantra zur
mittleren Bewegung der Sonne und zur Länge des mittleren synodischen
Monats bestehen. So verzeichnet das Kälacakratantra für die mittlere Be¬
wegung der Sonne und die Länge des mittleren synodischen Monats jeweils
drei verschiedene Werte, bei denen aber sehr leicht sichtbar wird, daß sie
jeweils aufgrund von Abrundungen, die der Verkürzung des Rechenauf¬
wands dienen sollten, auseinander hervorgegangen sind. Die erste Kritik
an der iTäZacaÄra-Kalenderrechnung in Tibet hat hier einen Ansatzpunkt
gehabt. Z.B. hat 'Phags-pa zum Teil unter Einfluß der Erläuterungen im
Kälacakrävatära in seiner Darstellung der Kalenderrechnung hierzu erste
Versuche der Korrektur unternommen, die aber auch zeigen, daß die
tibetische Astronomie und Kalenderrechnung des 13. Jahrhunderts wenig
Grandzüge der Entwicklung der tibetischen Kalenderrechnung 561
mehr war als eine unkritische Aufnahme und Auswahl dessen, was in den
Sanskrit-Texten vorgegeben war. Sämtliche Kalenderrechnungen in Tibet,
die entweder mit der des Kälacakratantra übereinstimmen oder aber, wie
die Kalenderrechnung des 'Phags-pa, auf die Beseitigung der oben aufge¬
führten Diskrepanzen abzielten, werden in der tibetischen Literatur als
byed-rtsis bezeichnet. Da es mehrere £ye(Z-rfsis-Kalenderrechnungen ge¬
geben hat, ist die Annahme der Existenz entsprechend verschiedener
Kalender gerechtfertigt.
5.2. Davon unterschieden werden alle als Rekonstruktion der Siddhänta-
Astronomie des Mülatantra erarbeiteten Astronomien und Kalender¬
rechnungen, die als grub-rtsis bezeichnet werden und die darin überein¬
stimmen, daß sie die erwähnten Werte für die mittlere Bewegung der Sonne
und die Länge des mittleren synodischen Monats alle nicht akzeptieren.
Es findet sich nämlich im Kälacakratantra selbst zum einen die Angabe,
daß 67 mittlere synodische Monate 65 solaren Monaten entsprechen, woraus
leicht ein Wert für die mittlere Bewegungsgröße der Sonne pro mittlerem
67
synodischem Monat errechnet werden kann. Das Verhältnis -gg- sei hier mit
^ 707
a bezeichnet. Daneben wird ein Faktor b = 1 — aufgeführt, mit
dem aus der Zahl der seit Epoche vergangenen Datumstage die Zahl der seit
Epoche vergangenen natürlichen Tage berechnet wird. Mit Datumstag
(tib. tshes-zag. Skr. tithi) wird die Zeitspanne bezeichnet, die zur Vergröße¬
rung der Distanz zwischen Sonne und Mond um 22" benötigt wird. Aus dem
Umrechnungsfaktor b läßt sich die Länge des synodischen Monats errech¬
nen. Für die Entwicklung der Astronomie in Tibet war es nun von außer¬
ordentlicher Bedeutung, daß in einem in der Vimalaprabhä gegebenen
Zitat aus dem Mülatantra die Werte a und b als Werte der Siddhänta-
Astronomie aufgeführt werden, so daß alle als grub-rtsis zu bezeichnenden
Astronomien und Kalenderrechnungen für ihre Rechnungen diese beiden
Werte zugrunde legten.
5.3. Dies gilt auch für das Werk (dPal dus kyi 'khor-lo'i rtsis kyi bstan-
bcosy mkhas-pa rnams dga'-bar byed-pa, welches von Bu-ston 1326 fertig¬
gestellt wurde und in dem er eine Darstellung der Siddhänta-Astionoxme
des Kälacakramülatantra beabsichtigte'*. Dieses Werk, dessen Bedeutimg
für die Geschichte der tibetischen Astronomie als sehr hoch eingeschätzt
werden muß, ist im Unterschied zum Kälacakratantra u.ä. Abhandlungen
der Übersetzungsliteratur, die alle den Charakter von praktischen Rechen-
" The Colleeted Works of Bu-ston, Part 4 (Sa), edited by Lokesh Chandra, New Delhi 1965, S. 615-858.
37 Or.-Tag 1973
büchern mit bloßen Anweisungen zur Durchführung der kalendrischen und astronomischen Rechnungen besitzen, die erste uns erhaltene systematische
Darstellung astronomischer Begriffe und Rechnungen. Insbesondere finden
sich hier die ersten Ansätze zu einer Theorie der mittleren Bewegung der Pla¬
neten einschließlich Sonne und Mond, die in späterer Zeit unter dem Titel
zag-gsum rnam-dbye nicht nur zu einem zentralen Teil der tibetischen
Astronomie entwickelt wurde, sondern auch wegen der völligen Gleichheit
der Behandlung der drei Tagesarten solarer Tag, Datumstag und natür¬
licher Tag eine Eigentümlichkeit der tibetischen Astronomie überhaupt
darstellt.
5.4. Die hauptsächliche Entwicklung dieser Theorie der mittleren Be¬
wegung der Planeten fällt zweifellos ins 15. Jahrhundert, welches für die
Entwicklung der tibetischen Astronomie von größter Fruchtbarkeit ge¬
wesen ist, lebten doch in dieser Zeit große Astronomen wie der Phug-pa
Lhun-grub rgya-mtsho, der Nor-bzan rgya-mtsho und der mTshur-phu 'jam-
dbyans Don-grub 'od-zer. Zugleich zeichnete sich in jener Zeit die Ausbildung
der beiden bedeutenden Schulen der tibetischen Astronomie ab, nämhch
die des Phug-pa (phug-lugs), die sich an den Phug-pa Lhun-grub rgya-
mtsho anschloß, und die des Klosters mTshur-phu.
Für die Kalenderrechnung des 15. Jahrhunderts war neben dem Auf¬
kommen der mgyogs-rtsis, d.s. Sehnellrechnungsverfahren, mit welchen
unter Benutzung umfangreicher TabeUenwerke der Rechenaufwand zur
Durchführung der Kalenderrechnungen wesenthch verkürzt wird, die
Kritik an den Anfangswerten des Kälacakratantra von sehr großer Be¬
deutung. Diese Kritik nahm ihren Ausgang wiederum msofern von Kä¬
lacakratantra selbst, als sie auf Darlegungen des Tantra zurückgriff, in
denen erläutert wird, daß periodisch zu bestimmten Zeitpunliten, an denen
die Anfangswerte aller kalendrischen und astronomischen Rechnungen
gleich Null zu setzen sind, die Konjunktion aller Planeten am Anfangs¬
punkt der Himmelssphäre stattfindet. Nun ergab sich für den tibetischen
Astronomen das beunruhigende Phänomen, daß sich weder unter Zu¬
grundelegung der Daten der byed-rtsis noch der der bis dahin formulierten
grub-rtsis das Eintreffen einer solchen Konjunktion unter den genannten
Bedingungen ableiten läßt. Infolgedessen kam man zu dem Schluß, daß
dies nur deshalb so sei, weil die im Kälacakratantra gegebenen Anfangs¬
werte, die auf eine in das Jahr 806 n. Chr. fallende Epoche bezogen sind,
unrichtig sein müßten. Aus dieser Annahme, in der man durch entspre¬
chende polemische Äußerungen in der Vimalaprabhä bestätigt wurde, zog
man nun die Konsequenz, von den Anfangswerten des Kälacakratantra
abzurücken und neue Anfangswerte so zu formulieren, daß das Eintreffen
der großen Konjunktion unter den geforderten Bedingungen sich auch tat¬
sächlich aus den in der Theorie formulierten astronomischen Gesetzmäßig-
Grundzüge der Entwicklung der tibetischen Kalenderrechnung 563
keiten ableiten ließ. Bei der NeuformuHerung der Anfangswerte Heß man
sich allerdings nicht von der Beobachtung des Sternhimmels leiten, son¬
dern man forderte als leitendes Prinzip, daß die neuformulierten An¬
fangswerte möghchst wenig von denen des Kälacakratantra abzuweichen
hätten.
Daß an dieser Stelle nicht auf systematische Beobachtungen des Stern¬
himmels zurückgegrilFen wurde, darf nicht verwundern. Denn der tibetische
Astronom, für den die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit kosmischer Ver¬
änderungen primär aus der Erschauung des Buddha stammt, konnte diesen
Weg der Beobachtung als eigenständige Praxis gar nicht begehen.
Nun ergibt sich bei der von den tibetischen Astronomen gewählten
Methode der Ändermig der Anfangswerte nicht ein emdeutiges, notwendig
von aUen Astronomen zu ermittelndes Resultat. Entsprechend findet sich
auch im ^^in-byed snan-ba des Dharmairi der Hinweis, daß dem Verfasser
DharwMsri insgesamt vier verschiedene Systeme von so gewählten An¬
fangswerten bekannt seien'*. Zwei dieser Systeme sind uns bisher bekannt
geworden, und zwar das der Phug-pa-Scimle und das der mTshur-phu-
Schule. Der Hauptunterschied zwischen diesen beiden Systemen der An¬
fangswerte besteht darin, daß die PÄMgr-^-Schule dem im Kälacakratantra
gegebenen Hinweis, daß zum Zeitpunkt des Eintreffens der Konjunktion
aller Planeten auch der Sechzigerzyklus der Jahreszählung zu beginnen
habe, Rechnung getragen hat, während die mTshur-phu-Schule dies un¬
berücksichtigt ließ. Als Konsequenz ergab sich für die Kalenderrechnung
der Phug-pa-Schale eine folgenschwere Änderung des Mechanismus der
Einschaltung der Schaltmonate. Die so neugeschaffene grub-rtsis der Phug-
2>a-Schule ist schon im 15. Jahrhundert von den Phag-mo g-rM-Herrschern
als Grundlage ihres neuen Kalenders akzeptiert worden'*.
5.5. Wenn ich dargelegt habe, daß die Beobachtung des Sternenhimmels
nicht generell leitend für die Ausbildung der lamaistischen Astronomie
gewesen ist, dann soll das nicht heißen, daß sie überhaupt keine Bedeutung
dafür gehabt hat. Hierzu sind zwei Punkte zu erwähnen. Die Bestimmung
der Sonnenwenden anhand der Beobachtung am Gnomon nach einem Ver¬
fahren, welches im Kälacakrävatära beschrieben ist, und die Beobachtung
der Sonnen- und Mondfinsternisse.
Was nun die erstgenannte Bestimmung der Sonnenwenden betrifft, so
kann man dazu im Rigs-ldan snin-thig des niKhyen-rab nor-bu folgendes lesen :
„Es heißt jedoch, daß, als der Herr der Gelehrten Nor-bzan {rgya-
mtsho) in (dem Kloster) rTsis-than bsam-ldan glin den Schatten des
'* (.rTsis kyi man-ruigy üin-mor byed-pa'i snan-ba, Blockdruck, Bl. 13v.
'* Vergl. (rTsis skar-nag las brtsams-pa'i dris-lan} nin-byed dban-po'i snan-ba
des 5. Dalai Lama Nag-dban blo-bzan rgya-mtsho, Blockdruck, Bl. 21v, Z. 1-2.
Gnomon beobachtete, (erst) dann sich die Gestalt des Schattens zur
Sommer- und Wintersonnenwende veränderte, als 7 Tage nach dem
Eintreffen der Sonne in (die Tierkreiszeichen) Gemini und Sagittarius vergangen waren."'^
Daß dies einen offensichtlichen Widerspruch zu den Angaben des Käla¬
cakratantra beinhaltete, mußte dem Nor-bzan rgya-mtsho und mit ihm
anderen Astronomen des 15. Jahrhunderts durchaus bewußt gewesen sein.
Daß daraus dennoch keine Krise der Astronomie in Tibet entstanden ist,
ist folgendem Umstand zu verdanken. Die tibetischen Astronomen kamen
aufgrund des eigentümhchen Weltbildes des Kälacakratantra unter Rück¬
griff auf subtile Interpretationen der dort gegebenen Darlegungen über die
Sonnenbahn zu dem Schluß, daß bei Orten, deren geographische Längen
hinreichend verschieden sind, die Sonnenwenden an verschiedenen Tagen
stattfinden. Diese angenommene globale Variation der Sonnenwenden in
Ost-West-Richtung führte bei der Konfrontierung mit der genannten Be¬
stimmung der Sonnenwenden anhand des Gnomon zu der Annahme, daß
sich die geographische Länge von Zentraltibet gegenüber der Mittellinie
des Südkontinents, also gegenüber Zentralindien, beträchtlich unterschei¬
den mußte. Ich erwähne dies nicht nur wegen der in solchen Feststellungen
sich zeigenden Eigentümlichkeiten der lamaistischen Astronomie. Die
wichtigste Konsequenz aus diesen Schlußfolgerungen der tibetischen Astro¬
nomen war nämlich eine Änderung der Einschaltung von Schaltmonaten
insofern, als man sich in der Phug-pa-Schnle entschloß, für die Einschaltung
den in der chinesischen Kalenderrechnung verwendeten Mechanismus zu
übernehmen. Dies bedeutete nicht, daß seit Sans-rgyas rgya-mtsho, der
diese neue Schaltmethode nach dem Tod des 5. Dalai Lama zur offiziellen
Praxis erhoben hat, der chinesische und der tibetische Kalender, was die
Schaltmonate angeht, übereinstimmen. Die hier angesprochene Überein¬
stimmung dieser beiden Kalender besteht nur in der Methode der Ein¬
schaltung.
5.6. In die Periode der Einführung dieser neuen Schaltmethode fällt die
Abfassung solch imposanter Werke über Astronomie wie des Vaidürya
dkar-po und des Nin-byed snan-ba, so daß man sagen kann, daß die Aus¬
bildung der klassischen lamaistischen Astronomie in dieser Zeit nochmals
einen Höhepunkt erreicht hatte. Zugleich zeichnete sich aber in dieser Zeit
eine Kritik ab, welche zur Ausbildung einer neuen Kalenderrechnung und
Astronomie führte, die zwar die alten Systeme nicht generell ablösen konnte,
aber doch neben ihnen große Bedeutung gewinnen sollte. Ich meine hiermit
1* (bsTan-hcos vaidür dkar-po dan üin-byed snan-ba'i dgona-don gsal-bar ston-
pa rtsis-gii man-nag} rigs-ldan snin gi thig-le, Neudruck, Dharmsala 1968,
S. 108-113.
Grundziige der Entwicklung der tibetischen Kalenderrechnung 565
die Astronomie und Kalenderrechnung des Klosters dGa'-ldan, welche als
dOa'-ldan rtsis-gsar bekanntgeworden ist. Ihren Ausgang nahm die Formu¬
lierung dieser neuen Astronomie von einer Unsicherheit, die die tibetische
Astronomie wohl schon immer beherrscht hatte, nämlich daß die Vorbe¬
rechnung der Sonnen- und Mondfinsternisse, die einen wichtigen Teil dieser
Astronomie darstellt, zu nicht immer zuverlässigen Ergebnissen führte. So
bestand in Lhasa der Brauch, daß die Astronomen kurz vor dem Eintreffen
von Sonnen- bzw. Mondfinsternissen durch öffentliche Anschläge bekannt
gaben, wann und wie diese Ereignisse eintreffen würden. Dabei war es
zweifellos für die Reputation der verschiedenen Astronomen von großer Be¬
deutung, daß ihre Ankündigungen auch später sich bewahi-heiteten. Die
Fehlerhaftigkeit dieser Vorausberechnungen hatte zur Lebenszeit des
Sans-rgyas rgya-mtsho dazu geführt, daß man es in Lhasa nicht mehr
wagte, entsprechende Ankündigungen zu machen'*. Sans-rgyas rgya-mtsho
selbst nahm beträchtliche Anstrengungen auf sich, um die Exaktheit der
Vorausberechnungen zu verbessern, und er griff schließlich zur Berechnung
der Position der Sonne auf eine bestimmte Art der byed-rtsis zurück, eine
Handlungsweise, die zvu- Kritik der grub-rtsis der Phug-pa-Schule von
deren Gegnern besonders herausgestellt wurde.
So ist es nicht verwunderlich, weim aus dieser Situation heraus eine
Astronomie geschaffen wurde, nämlich die des Klosters dGa'-ldan, von der
der mongolische bla-ma Blo-bzan tshul-khrims sagt, daß sie der chinesischen
Astronomie nahestehe, mit der Beobachtung übereinstimme und bei der
Voraussage der Sonnen- und Mondfinsternisse besonders exakt sei". Die
Kalenderrechnung dieser neuen Astronomie wurde zur Datierung histori¬
scher Ereignisse gelegenthch benutzt. Man kann sagen, daß die dGa'-ldan
rtsis-gsar eine der letzten Entwicklungen der Astronomie in Tibet darstellt.
6. Wenn ich abschließend auf das eingangs erwähnte Hauptmotiv für die
Erforschung des tibetischen Kalenderwesens, nämlich auf das Problem der
Identifizierung tibetischer Jahresangaben zurückkomme, so läßt sich fol¬
gendes feststellen. Da die während der letzten 700 Jahre in Tibet verwen¬
deten und hier angesprochenen Kalender auf Kalenderrechnungen be¬
ruhen, deren Kalküle allgemein nachvollziehbar sind, muß die Identifi¬
zierung der tibetischen Datumsangaben allgemein möglich sein. Die Frage,
ob dies für alle auf den hier erwähnten Kalenderrechnungen basierenden
Kalender von vornherein ohne Berücksichtigung von speziellem Vergleichs¬
material möglich ist, kann bejaht werden. Der Beweis dieser These, der
einige subtile Überlegungen erfordert, kann hier nicht mehr vorgeführt
" Vergl. Vaidürya dkar-po, Bl. 46v.
" (dOe-ldan rtsis-gsar gyi Ina-bsdus bya-tshul} bkra-Sis mchog-ster, Block¬
druck in Teil Ja der gesammelten Werke des Blo-bzan tshul-khrims. Bl, Iv.
werden und ist an anderer Stelle nachzulesen. Praktisch bedeutet dies, daß man sich für alle diese Kalenderrechnungen mit Hilfe einer elektronischen
Rechenanlage entsprechende, leicht benutzbare Tabellen ausrechnen lassen
kann. Daß damit die Identifizierung einer vorgegebenen Datumsangabe
sehr leicht ist, ist aber nur bedingt richtig. Die hier erwähnte Vielfalt der
Kalenderrechnungen, die übrigens zum Teil in verschiedenen Klöstern
gleichzeitig in Gebrauch gewesen sind, macht nämlich bei einer vorgege¬
benen Datumsangabe unbedingt die Entscheidung darüber notwendig,
welche Kalenderrechnung dieser Datumsangabe zugrunde liegt. Dies kann
wiederum sehr oft leicht entschieden werden. In manchen Fällen sind aber
doch spezielle Nachforschungen erforderlich, um diese Entscheidung zu
fällen. Die Lösungen der damit aufgegebenen Probleme sind immer als
Beiträge zur Klärung von Detailfragen der Geschichte der tibetischen
Kalenderrechnungen zu verstehen. Hier steht der Forschimg noch ein
weites Feld offen.
GRUNDZÜGE DER SPRACHE DER MOGHOL
VON AFGHANISTAN
Von Michael Weiers, St. Augustin
Die Existenz der Sprache der Mongolen von Afghanistan, die wir nach
der Selbstbezeichnung ihrer Sprecher Moghol-Sprache nennen, ist der Mon¬
golistik zwar schon seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts bekannt,
doch waren die bisherigen Feldaufnahmen' mit Ausnahme der 1905 er¬
schienenen Aufzeichnungen von G. J. Ramstedt recht ungenügend. Im
Rahmen mehrerer, im Auftrage des Landes Nordrhein-Westfalen durch¬
geführter sprachwissenschaftlicher Expeditionen nach Afghanistan war es
dem Verfasser in den Jahren 1969 und 1970 möglich, diese isolierte mongo¬
lische Sprache im Räume von Herat, Westafghanistan, mit modernsten
Hilfsmitteln aufzuzeichnen. Es ist dies die einzige Gegend Afghanistans, in
der die von den Moghol als MogolT bezeichnete Sprache heute noch bekannt
ist. Die heutige sprachliche Situation bei den Moghol stellt sich folgender¬
maßen dar: Von einer ursprünglichen mogholischen Einsprachigkeit, die
mit zahlreichen türkischen und persischen Sprachanteilen durchsetzt ge¬
wesen sein dürfte, befinden sich die heutigen Moghol über eine mogholisch-
persische Zweisprachigkeit auf dem Wege zu einer persisch-tadschikischen
Einsprachigkeit. Es muß hierbei betont werden, daß die Zweisprachigkeit
nur noch für die ältere Generation, und hier auch nur in bestimmten Situa¬
tionen*, zutreffend ist. Vor diesem sprachlichen Hintergrund wird eine Dar¬
stellung der Grundzüge der Sprache der Moghol von Afghanistan gleich¬
zeitig eine exemplarische Darstellung für das System einer Mischsprache,
die sich genau zwischen Zweisprachigkeit und Einsprachigkeit befindet. In
sprachwissenschaftlicher Hinsicht ist hierbei von besonderem Interesse,
daß es sich nicht um einen Wechsel von zwei Sprachen handelt, die der
gleichen Sprachfamilie angehören, sondern daß sich der Wechsel zwischen
in ihrer Struktur völlig verschiedene Sprachen vollzieht, nämlich einer
altaischen (Mongolisch) und einer indo-iranischen (Persisch-Tadschikisch).
' Vgl. M. Weiers, Die Sprache der Moghol der Provinz Herat in Afghanistan (Sprachmaterial, Grammatik, Wortliste), Materialien zur Sprache und Literatur
der Mongolen von Afghanistan I, Abhdl. der Rheinisch-Westfälischen Akademie
der Wissenschaften, Band 49, Opladen 1972, S. 11-13, Anm. 1-17.
2 Vgl. M. Weiers, Vorläufiger Bericht über sprachwissenschaftliche Auf¬
nahmen bei den Moghol von Afghanistan, 1969, ZAS 3, 1969, S. 417-429, be¬
sonders S. 417.