Garuda und der ägyptische Greif.
Von Wilhelm Printz.
Ehe der götthche Riesenvogel zum Raub des Söma auf¬
fliegt, sucht er seinen Hunger zu stillen. An einem Bergsee
packt er mit je einer Kralle ein Wasserungeheuer und einen
Elefanten, fliegt mit ihnen davon und verzehrt sie (Supar-
nädhyäya 13 ff.). Nach dem Mahäbhärata ist das Wassertier
eine Riesenschildkröte und es wird angegeben, daß sich
Garuda auf einer hohen Bergspitze niederläßt, um die beiden
Tiere zu fressen. Im Suparnädhyäya finden sich nur un¬
bestimmte Ausdrücke wie bhüta und graha, die Charpentier ")
ansprechend auf den fabelhaften „Wasserelefanten" (jala-
hastin) gedeutet hat. In Sup. 15, 3 und 5 steht ein von allen
bisherigen Erklärern unübersetztes Wort bilinthe: darf man
vielleicht diesen Lokativ als Name des Berges auffassen, auf
dem sich Garuda mit seiner Beute niederläßt?
Charpentier bringt S. 342, 352, 362-367 für die Er¬
beutung dieser oder ähnlich großer Tiere noch weitere Be¬
lege, die sich teils auf Garuda, teils auf den Roch (1001 Nacht,
Sindbads Abenteuer; Marco Polo u. a.) beziehen und S. 365
urteilt er zutreffend: ,, Alles zusammengenommen liegt offen¬
bar hier eine sehr alte, auf indischem Boden entstandene,
den Osten des Indischen Ozeans betreffende Schiffersage vor,
die sich von dort aus weiter verbreitet zu haben scheint." —
Weiteres Material und weitere Literatur bietet Francois
Nau^).
1) Die Suparnasage. Uppsala 1920 (Arbeten utgifna med under-
stöd af Vilhelm Ekmans Universitetsfond, Uppsala. 26). — Vgl. auch
A. K. Coomaraswamy: Yakses. Pert II. Washington 1931 (Smiths. Inst.
Publ. 3059), S. 52.
2) Journal Asiatique 215, 1929, 193—236.
112 W. Pbintz, Garuda und der ägyptische Greif
Soviel ich sehe, ist bislang noch nicht beachtet worden,
daß dies Motiv auch in der ägyptischen Literatur vorkommt.
In dem von W. Spiegklberg") herausgegebenen und dem
1.—2. nachchristl. Jahrhundert zugeschriebenen demotischen
Papyrus ,, Mythus vom Sonnenauge" erscheint es verbunden
mit einem anderen Thema, dem Kampf ums Dasein, indem
aufgezählt wird, wie das stärkere Tier das schwächere ver¬
tilgt. Die Reihe endet so: ,, Siehe, der Hecht, ihn verschlang
ein Riesen-Wels (nSr), als er an das Ufer schwamm. Siehe,
ein Löwe kam an das Meer, und er zog den Wels an das
Ufer. Siehe, ein Greif (srrf) bemerkte sie, und er schlug seine
Krallen in beide hinein, und er trug sie unter den Glanz der
Sonnenkreise des Himmels. Siehe, er legte sie nieder und er
zerriß sie auf dem Gebirge, und er verzehrte sie."^)
Nach Spiegelberg (a. a. 0., 1915, 885) wird srrf mit
einem sfr genannten, um 1800 v. Chr. dargestellten Misch¬
wesen aus Löwe und Falke gleichgesetzt. Das hindert nicht,
das Motiv der Verzehrung des stärksten Land- und Wasser¬
tiers als indisches Wandergut anzusprechen.
1) Straßburg 1917. Vgl. Sber. Preuß. Akad. 1915, S. 885.
2) Nach Günthbb Robdeb: Altägypt. Erzählungen u. Märchen.
Jena 1927, S. 306.
Bücherbesprechungen
Louis Massionon, Recueil de textes inedits concernant
Vhistoire de la mystique en pays d'Islam reunis, classes,
annotes et publies. Paris, Paul Geuthner 1929. Vll u.
259 S. 8.
Als 1922 Massignon's große Werke ,,La passion d'al-
Halläj" und ,, Essai sur les origines du lexique technique de
la mystique musulmane" erschienen, die unser Verständnis
der Anfänge der islamischen Mystik auf eine neue Grundlage
stellten, erfuhr man mit Überraschung, wie viel doch von
der alten mystischen Literatur noch erhalten ist. Mit einer
geradezu staunenswerten Belesenheit in den Handschriften¬
schätzen besonders des Orients hat Massionon ein reiches
Material zusammengetragen, das ihm erlaubte, ein scharf
umrissenes Bild nicht bloß von al-Halläg, sondern auch einer
Reihe von anderen Persönlichkeiten der frühesten Mystik zu
entwerfen, die uns bisher nicht viel mehr als wesenlose Namen
gewesen waren. Mit glänzender Kenntnis der geistigen Zu¬
sammenhänge und vor allem mit kongenialer Einfühlung in
den Geist der Mystik hat er ein bisher für immer entschwunden
geglaubtes Bild ernsten geistigen Ringens wieder erweckt.
Die zahllosen Mosaiksteine, aus denen er das Bild zusammen¬
setzte, hat Massionon großenteils in Übersetzung in die ge¬
nannten Werke aufgenommen. Sie stellen, da Massignon
seine Forschungen nicht auf die Frühzeit beschränkt, sondern
die wirkenden Ideen weiter durch die Jahrhunderte verfolgt
hat, ein anschauliches Bild der gesamten Entwicklung der
islamischen Mystik dar.
Dieses reiche bisher nur durch die Verwertung und teil¬
weise Übersetzung in Massignon's Werken bekannte Material
bildet, vielfach an anderen Handschriften nachgeprüft und
ZeiUchrift d. D.M.Q., Neoe Folge Bd.XI (Bd. 86). 8