• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Humanitäre Hilfe: Verteidigung der Neutralität" (03.12.2004)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Humanitäre Hilfe: Verteidigung der Neutralität" (03.12.2004)"

Copied!
1
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

D

as Thema des Kongresses über Theorie und Praxis humanitärer Hilfe war doppeldeutig: (Über-)Le- ben in der Krise. Leben wollen die Men- schen in den Krisengebieten weltweit, denen Hilfe zukommen soll. Leben und überleben wollen die Helfer, die zum Bei- spiel in den Irak oder nach Afghanistan gehen. Und überleben wollen schließlich die Organisationen, die sich der huma- nitären Hilfe verschrieben haben. Über- leben meint hier nicht die bloße finanziel- le Existenz, sondern betrifft das Selbst- verständnis der humanitären Organisa- tionen als neutrale, dem einzelnen Menschen verpflichtete Einrichtungen.

Gerade Letzteres wird zunehmend problematisch. Ein beherrschender Ein- druck des Kongresses (veranstaltet von Ärzte ohne Grenzen, dem Tropeninstitut Berlin und der Berliner Ärztekammer am 29. und 30. Oktober in Berlin) war je- denfalls, dass Hilfsorganisationen leicht zwischen die politischen Fronten gera- ten, wenn sie nicht Acht geben und sich notfalls zurückziehen.Die Helfer müssen sich dagegen wehren, von Kriegspartei- en, die sich deren gutes Image zuschrei- ben wollen, vereinnahmt zu werden. In den Augen der Bevölkerung werden die Helfer dann zur „Partei“.

In der klassischen Entwicklungshilfe hingegen, die zurzeit zwar weniger im öffentlichen Licht steht, aber für Hilfs- organisationen unverändert wichtig ist, geraten die Hilfsorganisationen in die Rolle der Konkurrenten zum Staat, der sich gleichfalls für Gesundheit und Über- leben seiner Bürger verantwortlich fühlt.

Zugespitzt formulierte Dr. Ulrike von Pilar, die Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen: „Es ist uns nicht mehr er- laubt, neutral zu sein. Lediglich Hilfe für Opfer wird nicht mehr akzeptiert.“ Die Bundestagsabgeordnete Christa Nickels (Grüne) warnte, die Hilfsorganisationen verlören bei der Kooperation mit Kon-

fliktparteien die Neutralität und würden zur Zielscheibe. Sie konstatierte freilich auch, dass die Frontlinien bei Konflikten immer unklarer würden. Nickels, die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ist, schlug vor,

zwischen Bundeswehr und Hilfsorganisatio- nen einen Verhaltens- kodex zu entwickeln, um deren Unabhän- gigkeit zu wahren.

Aus dem Publikum – etwa hundert Prakti- ker mit Erfahrungen

von Zentralafrika bis Südostasien – kam die Anregung, die Hilfsorganisa- tionen selbst müssten sich untereinan- der besser abstimmen, gerade auch vor Ort: „Bisher kommen die Helfer rein wie die Feuerwehrleute.“ Es fehle das koordinierte Vorgehen gegenüber Kriegsparteien oder Staat.

Vom Notfall zum Dauereinsatz

Die theoretisch feinen Unterschiede zwischen Nothilfe, Rekonstruktion des Gesundheitswesens und medizinischer Entwicklungshilfe verschwimmen in der Praxis.Und so wird aus einem Einsatz zur akuten Hilfe nicht selten ein Dauerein- satz – nicht immer zur Freude der Staa- ten, in denen sich die Hilfsorganisationen bewegen. „Doch wann ist ein Konflikt zu Ende?“ fragte Dr. Mit Philips aus Brüssel, die für Ärzte ohne Grenzen in Burundi war. Legt der Staat das fest, wie etwa jetzt im Sudan, wo die Zentralregie- rung der Meinung ist, in Darfur beginne wieder das normale Leben?

Wenn Hilfsorganisationen dauerhaft im Land bleiben, können sie sich, zu- mindest aus Sicht der jeweiligen Staa- ten, zu Konkurrenten im Gesundheits-

wesen entwickeln. In Burundi zum Bei- spiel werden fünf Millionen Menschen vom staatlichen Gesundheitssystem be- treut, eine Million von Hilfsorganisatio- nen. Der Staat verlange für sein System eine Kostenbeteiligung von den Patien- ten, die Hilfsorganisationen verlangten sie nicht, so Dr. Philips. Wie hoch kann aber eine Selbstbeteiligung sein, wenn 85 Prozent der Bevölkerung weniger als ein Dollar pro Woche zur Verfügung steht und ein Arztbesuch fünf bis zwölf Tage Arbeit „kostet“? In armen Län- dern könnten allenfalls fünf Prozent der Gesundheitsausgaben durch Gebühren gedeckt werden, meinte Dr. Egbert Sondrop von der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Das bedeu- te aber, dass die Ärm- sten ausgesperrt blie- ben. Hinzu käme, dass beim Einzug relativ kleiner Beträge die Transaktionskosten hö- her seien als die ef- fektiven Einnahmen.

Sondrop kam zu dem Schluss, es gebe

„keinen guten Grund, Menschen in Konfliktgebieten zahlen zu lassen“.

Kurzfristig gebe es also zur Hilfe durch Geberländer keine Alternative.

Philips plädierte für eine radikale Unterscheidung: Hilfsorganisationen sollten aus öffentlichen Gesundheits- systemen aussteigen, die mit Kosten- beteiligung arbeiteten, die viele nicht bezahlen könnten, und stattdessen al- ternative Systeme aufbauen.

Nicht immer aber wirkt Kostenbeteili- gung in armen Ländern negativ. In Ugan- da ging zwar die Inanspruchnahme der Gesundheitszentren in der Stadt nach Einführung von Gebühren um 40 Pro- zent zurück, doch auf dem Land nahm sie um 20 Prozent zu. Dr. Joachim Schüürmann (Kreditanstalt für Wieder- aufbau) wusste des Rätsels Lösung: Dank der Gebühren konnte das Personal der ländlichen Gesundheitsposten endlich bezahlt werden und war deshalb anzu- treffen – die Mindestbedingung für effektive Versorgung. Denn die Bereit- schaft zu zahlen, erkannte Dr. Friedrich von Massow vom Institut für Life Science and Environment in Heidelberg, hängt auch davon ab, wie effizient die erwartete Behandlung ist. Norbert Jachertz P O L I T I K

A

A3310 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 493. Dezember 2004

Humanitäre Hilfe

Verteidigung der Neutralität

Helfer in Krisengebieten müssen damit rechnen, politisch vereinnahmt oder als Konkurrenten behandelt zu werden.

„Es ist uns nicht mehr erlaubt, neutral zu sein.

Lediglich Hilfe für Opfer wird nicht mehr akzeptiert.“

Dr. Ulrike von Pilar, Geschäfts- führerin Ärzte ohne Grenzen

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Hierbei wird aber eins immer nicht ausreichend gewürdigt und berücksichtigt: jede Arzt- helferin, die in einer Arztpra- xis fehlt, bedeutet weniger Zuwendung für den Patien-

Auf dieser Basis hat der Arbeitskreis „Humanitäre Hilfe – Katastrophen- medizin“ der Ärztekammer eine Datenbank von etwa neunhundert Ärzten erstellt, die bereit sind, in

Wolfgang Pehnt: Verbrennungszauber oder kühler Tod - Erich Mendelsohns Werk - der Versuch einer

In Kenntnis der Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) sowie der

➢ Lokale Energie trifft Cluster ET – Wie wird Wasserstoff grün. mit IKEM

Wie auch immer Ärztinnen und Ärzte ihre Rente gestalten – die klassische Vorstellung, dass sie es sich im „wohlverdien- ten Ruhestand“ gut gehen lassen, die Füße hochlegen und

� Selbst bei einer schriftlichen Information der Patienten ist nicht unbedingt gewährleistet, dass diese vor einer Operation auch beachtet wird.. Gerade vor Eingriffen erhalten

Damit die neuen Leistungsmöglichkeiten tatsächlich auch als gute Leistungen bei den Menschen ankommen, müssen aber noch einige Bedingungen erfüllt werden:.. Wir brauchen