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Archiv "Hypoxie im Flugzeug – flugphysiologische Betrachtungen" (31.03.2006)

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A

m Mittag des 14. August 2005 stürzte ein Passagierflugzeug vom Typ Boeing B 737-300 einer zyprischen Fluggesellschaft in der Berg- region um Grammatikos nahe Athen ab (1). Alle Fluggäste sowie die Besat- zung, insgesamt 121 Menschen, star- ben. Bald darauf wurde mitgeteilt, dass die Besatzungen zweier griechischer Kampfflugzeuge, die nach dem Verlust des Funkkontaktes sicherheitshalber aufgestiegen waren, zumindest einen der Piloten zusammengesunken und mit einer Atemmaske vor dem Gesicht im Cockpit der Boeing erkennen konnten. Spekulationen über einen Ausfall der bordeigenen Klimaanla- ge, ein Versagen der Sauerstoffversor- gung oder der Druckanlage wurden geäußert. Nach Bergung des Flugda-

tenschreibers („flight data recorder“) und des Stimmenaufzeichnungsgerätes („voice recorder“) wurden in den dar- auf folgenden Wochen im Rahmen der Flugunfallermittlung in der Zusammen- schau mit Funk- und Radarkontakten zu Flugbewegungen sowie weiteren Hintergrundinformationen die mögli- chen Absturzursachen eruiert und ob- jektiviert.

Ein ähnlich spektakulärer Fall er- eignete sich am 25. Oktober 1999, als ein Privatflugzeug vom Typ Learjet-35 auf dem Weg von Orlando (Florida) nach Dallas (Texas) den geplanten Flugweg verließ. Mehr als vier Stunden wurde das Flugzeug in einer Flughöhe von 37 000 ft (ft, „feet“; circa 12 200 m) vom Autopiloten gesteuert, bis es auf- grund von Treibstoffmangel nahe Mina (South Dakota) abstürzte (2). Auch hier berichtete die aufgestiegene mi- litärische Eskorte von Bewusstlosen im Flugzeug. Damals kamen sechs Per- sonen ums Leben.

In der Literatur wird von Einzelfäl- len zur Thematik von erlebter Hypoxie während des Fluges berichtet (3); sy- stematische Auswertungen umfassen zumeist Vorkommnisse in Militärflug- zeugen (4, 5).

Extreme Umwelten

Sobald ein Mensch seine gewohnten Lebensbedingungen verlässt und sich in die so genannten „extremen Umwel- ten“ begibt – beispielsweise beim Flie- gen, Tauchen, Extrembergsteigen, bei Polar- und Wüstenexpeditionen – erfor- dern die dort herrschenden Umge- bungsfaktoren seine Anpassungsfähig- keit in verschiedener Hinsicht.

Höhenveränderungen

Der Aufstieg in die Höhe – sei es mit der Kabinenbahn zum Gletscherski- fahren, zu Fuß während einer längeren Bergtour oder aber mit dem Ballon, dem Hubschrauber oder dem Flug- zeug – bringt den Menschen in kur- zer Zeit in eine Umwelt, deren Bedin- gungen er in der Regel nicht gewohnt ist. Wenngleich die Zusammensetzung der Umgebungsluft bis in einer Höhe von etwa 60 km konstant bleibt, sind hinsichtlich der höhenbedingten Ei- genschaften der Atmosphäre (6) die Gesamtdruckveränderung und Redu- zierung der Umgebungstemperatur zu

beachten (Tabelle 1).

Hypoxie im Flugzeug –

flugphysiologische Betrachtungen

Rainer Kowoll1, 2, Heiko Welsch3, Bianca Joscht2, Hanns-Christian Gunga1

Zusammenfassung

Der menschliche Organismus ist dem Leben auf der Erde angepasst. Sobald er sich ober- halb der Meereshöhe befindet, müssen Kom- pensationsmechanismen vorhanden sein, um die Organfunktionen aufrechtzuerhalten. In vielen Fällen ermöglicht erst eine umfangrei- che und hochentwickelte Technik dem Men- schen einen Aufenthalt in „extremer Umwelt“.

So gestattet die Erzeugung einer künstlichen Atmosphäre in einem Flugzeug mit einer Druckkabine den Verbleib in größten Höhen.

Allerdings können bei einem technischen Ver- sagen die für Hilfsmaßnahmen noch nutzba- ren Zeitintervalle äußerst kurz sein. Durch Aus- bildung und ein regelmäßiges flugphysiologi- sches Training kann die Flugzeugbesatzung

geschult werden, persönliche Warnsymptome einer Hypoxie früh und sicher zu erkennen.

Rechtzeitiges und in jeder Flugsituation richti- ges Handeln stellt einen wichtigen Beitrag zur Flugsicherheit dar.

Schlüsselwörter: Flugreise, Hypoxie, Höhen- physiologie, Kompensationsmechanismen, De- kompression, technisches Versagen

Summary

The physiology of flight hypoxia

The human organism is well adapted for life on earth but as soon as we leave sea-level, compensatory mechanisms are needed in or- der to maintain the functioning of vital or-

gans. In many situations only sophisticated technology allows humans to stay safely in

“extreme environments". For example, main- taining an artificial atmosphere in the pressur- ized cabin of an airplane allows staying in highest altitudes. But where the technology which delivers adequate oxygen fails, the time spans for efficient rescue can be extremely short. Education and training in aviation phys- iology enables aircraft crews to recognize their personal hypoxia symptoms at an early stage. To be able to act in time and correct at any moment of a flight is an important issue in flight safety.

Key words: air travel, flight hypoxia, altitude physiology, compensatory mechanisms, de- compression, technological failure

1Institut für Physiologie (Geschäftsführender Direktor:

Prof. Dr. med.Axel R. Pries), Charité – Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin, Zentrum für Welt- raummedizin Berlin (ZWMB) (Sprecher: Prof. Dr. med.

Dipl.-Geol. Hanns-Christian Gunga), Berlin-Dahlem

2Bundeswehrkrankenhaus Berlin (Chefarzt: Priv.-Doz. Dr.

med. Georg Mager), Berlin-Mitte

3Flugmedizinisches Institut der Luftwaffe (Leiter: Oberst- arzt Dr. med. Klaus Kimmich), Abteilung Flugphysiologie (Leiter: Oberstarzt Dr. med. Dipl.-Ing. Heiko Welsch), Kö- nigsbrück

(2)

Flugreisen

Die Routen der meisten Passagierflug- zeuge liegen in Flughöhen zwischen 22 000 ft und 44 000 ft (circa 6 500 m und 13 500 m).Aufgrund der hier herrschen- den Bedingungen muss der Mensch sich eine künstliche Atmosphäre „mitneh- men“. Jedoch stellen erhöhte Kabinen- drücke eine Belastung für die Struktur des Flugzeuges dar. Hier gilt es, einen Kompromiss zwischen physiologischen Notwendigkeiten und technisch-ökono- mischen Forderungen zu fin-

den. Die klimatisierte (Druck)- Kabine moderner Airliner be- findet sich auf einer Druck- höhe von circa 6 000 ft bis 8 000 ft (circa 1 800 m bis 2 400 m).

Hierzu muss Außenluft von den Triebwerken angesaugt, verdichtet, erwärmt und über die Druckanlage in den Rumpf hineingepresst werden (7).

Die treibende Kraft für den Diffusionsprozess eines Gases stellt dessen Partialdruck dar.

Physiologisch bedeutsam wird dies beim Gasaustausch in der Lunge, in der die O2-Diffusion von der Alveole zum Erythro- zyten erfolgt, beziehungswei- se in der Peripherie – hier dif- fundiert der Sauerstoff vom Erythrozyten zum Gewebe.

Um eine ausreichende Versor- gung der menschlichen Gewe- be mit Sauerstoff zu gewährlei- sten, muss ein entsprechend hoher Sauerstoffpartialdruck (PO2) gegeben sein.

Bei einem relativen O2-An- teil von 20,9 Prozent in Mee- reshöhe beträgt der PO2in der Außenluft 213 hPa (160 mm

Hg), im arteriellen Blut (PaO2, arteriel- ler Sauerstoffpartialdruck) 130 hPa (98 mm Hg) und fällt unter 7 hPa (5 mm Hg) intrazellulär. In 8 000 ft Druckhöhe beträgt der Gesamtluftdruck in der Ka- bine 751 hPa (565 mm Hg), der PO2 wird zwischen 170 hPa (128 mm Hg) und 158 hPa (119 mm Hg) aufrechter- halten. Dies entspricht in etwa einem normobaren Gasgemisch aus 85 Pro- zent Stickstoff (N2) und 15 Prozent Sau- erstoff (O2), wie es auch in einem „hy- poxia altitude simulation test“ (HAST)

eingesetzt wird. Hierunter sollte eine periphere Sauerstoffsättigung (pSaO2) von mehr als 90 Prozent beziehungswei- se ein PaO2von mindestens 73 hPa (55 mm Hg) erreicht werden können. Die Versorgung der Organe mit Sauerstoff und der entscheidende Sauerstoffgehalt (CaO2) werden zudem vom Hämoglo- bingehalt des Blutes bestimmt (8).

Generell sind somit Flugreisen auch für Patienten mit beispielsweise leicht- gradiger respiratorischer Insuffizienz möglich, wenngleich Komorbiditäten

– wie etwa eine Anämie, Herzinsuffizi- enz, koronar- und zerebrovaskuläre Prozesse – berücksichtigt werden müs- sen. Zudem sollten flugbedingte Fak- toren wie beispielsweise eine einge- engte Sitzposition, Bewegungsmangel, eine relative Feuchte der Kabinenluft von 10 bis 20 Prozent und eine zirkadi- ane Desynchronisation infolge eines Jetlag, hinsichtlich der Flugreisetaug- lichkeit – gegebenenfalls nach Durch- führung eines HAST – beachtet wer- den (4, 9, 10).

Dekompression

Im Fall eines Druckverlustes, zum Bei- spiel durch eine Beschädigung des Flugzeugrumpfes, das Bersten eines Fensters, Undichtigkeit oder gar Öff- nung einer Tür, kommt es – je nach Größe des Lecks – zu einem mehr oder weniger schnellen Druckausgleich mit der Umgebung (Dekompression). Das heißt, der Kabineninnendruck fällt auf den Atmosphärenaußendruck ab, ebenso verringert sich die Temperatur.

Automatische drucksensitive Systeme geben in der Regel die Sauerstoffmasken für die Passagiere frei, die dann aus ihren Halterungen „von der Decke fallen“. Der Sauerstoffvorrat ist so bemessen, dass er allen Passagieren eine Nutzung von mehr als 30 Minuten ermöglicht. Dann wird in einem nur wenige Minuten dauernden Notsinkflug eine Flughöhe unterhalb von 10 000 ft (circa 3 300 m) angestrebt. Hier steht mit 146 hPa (110 mm Hg) wieder ein kompensatorisch ausreichender PO2 in der Außenluft zur Verfügung, sodass die zusätzliche Sauerstoffversorgung entfal- len kann. Die Piloten im Cockpit sind ebenfalls, wenngleich über ein separates System, mit einer Notsauerstoffanlage verbunden. Im Gegensatz zu den auto- matisch herausfallenden Masken der Passagiere müssen die der Piloten den entsprechenden Aufbewahrungsbehält- nissen entnommen werden.

Selbstrettungszeit

Eine anhaltende Mangelversorgung des Organismus mit Sauerstoff führt – bevor Bewusstlosigkeit eintritt – zu einem wa- chen Stadium, in dem keine willentliche Tätigkeitsausübung mehr möglich ist (Grafik 1). Bis dahin umfasst dieser Ver- lauf unter Ruhebedingungen die Zeit- spanne der aktiven Handlungsfähigkeit („time of useful consciousness“, TUC).

Die während einer aktiven Beschäfti- gung – zum Beispiel als Pilot im Cockpit – verstreichende Zeitspanne vom Beginn der in der Regel dann noch unbemerkten Hypoxie bis zur individuellen Hand- lungsunfähigkeit definiert die real nutz- bare Selbstrettungszeit („effective per- formance time“, EPT) (11, 12). Sie nimmt mit zunehmender Flughöhe dramatisch ab und liegt beispielsweise in 35 000 ft

´ Tabelle 1 1

Höhenbedingte Veränderungen der ICAO-Standard- atmosphäre (1 m = 3,28 ft) (15)

Gasfraktionen Stickstoff (N2) 78,09 % Sauerstoff (O2) 20,95 %

Argon (Ar) 0,93 %

Kohlendioxid (CO2) 0,03 % sonstige Gase < 0,002 % Gesamtluftdruck 0 m (Meereshöhe) 1 013 hPa

18 000 ft (5 500 m) 506 hPa 34 000 ft (10 400 m) 251 hPa Temperatur 0 m (Meereshöhe) + 15,0 °C

18 000 ft (5 500 m) – 21,0 °C 34 000 ft (10 400 m) – 52,4 °C ICAO, International Civil Aviation Organisation

´ Tabelle 22

Nutzbare maximale Selbstrettungszeiten (EPT) in verschiedenen Flughöhen (11, 12) (1 m = 3,28 ft)

Flughöhe Selbstrettungszeit

18 000 ft (5 500 m) ca. 30 Minuten 25 000 ft (7 600 m) 3 bis 5 Minuten 30 000 ft (9 150 m) 1 bis 2 Minuten 35 000 ft (10 700 m) 30 bis 60 Sekunden 43 000 ft (13 100 m) 9 bis 12 Sekunden

(3)

(circa 10 700 m) nur bei knapp einer Minute (Tabelle 2). Die EPT ist kürzer als die TUC, weil infolge der erhöhten Akti- vität der Sauerstoffverbrauch größer ist als in Ruhe. Hierbei können ungünstige individuelle Konstellationen, wie bei- spielsweise kein Ausdauersport oder Nikotinabusus, und technische Bedin- gungen, etwa die Schnelligkeit des Ka- binendruckverlusts, diese Zeit zudem weiter deutlich verkürzen.

Da die TUC beziehungsweise EPT ei- ne Gesamtzeitspanne beschreibt, ist die noch nutzbare Zeit vom Bemerken der Hypoxie an bis zur Handlungsunfähig- keit für den Einzelnen nicht zuverlässig abzuschätzen. Die Erfahrung des Piloten und seine situative Aufmerksamkeit („situational awareness“) spielen eine entscheidende Rolle (13). Sowohl die Funktionseinschränkung des hypoxi- schen Gewebes als auch die mögliche euphorisierende Wirkung des Sauer- stoffmangels können das Gehirn beein- flussen. Wird der vorherrschende Sauer- stoffmangel als solcher nicht erkannt, zu spät bemerkt, falsch eingestuft oder wird nicht sofort sinnvoll gehandelt, ist unwei- gerlich mit der Handlungsunfähigkeit und dem Ausfall in der Funktion, zum Beispiel als Pilot, zu rechnen.

Lediglich eine Fremdrettung (zum Beispiel durch den Co-Piloten) wäre dann die einzig mögliche „Hilfe in letz- ter Sekunde“.

Hypoxie

Das Abfallen des Kabinendrucks stellt nicht die einzig mögliche Ursache für ei- ne Sauerstoffminderversorgung in einem Flugzeug dar. Ebenso kommen unter an- derem Verunreinigungen der kompri- mierten Luft – zum Beispiel im Verdich- tungsprozess –, Defekte in den Austau- scher- und Regenerationssystemen – etwa in der Klimatisierung oder im Absorber – und Kabelschwelbrände mit Freisetzung toxischer Substanzen in Betracht (7).

Eine stets zu bedenkende Möglichkeit ist der – trotz aller Redundanzsysteme – unbemerkte Ausfall der technischen Kontrolleinrichtungen. Dann liegt es beim Menschen, seine Wahrnehmungen und Symptome richtig zu deuten so- wie schnell und folgerichtig zu handeln (Tabelle 3).

Flugphysiologisches Training

Die Ausbildungsprogramme der Flug- gesellschaften beinhalten Schulungen, in denen die Maßnahmen bei einem (simulierten) Kabinendruckverlust be- sprochen und geübt werden. Den mei- sten Flugbegleitern und Piloten dürf- ten jedoch ihre individuellen Sauer- stoffmangelsymptome nicht bekannt sein.

Ein solches kosten- und zeitinten- sives Training bieten in der Regel nur die militärischen fliegerischen Dienste an (2, 3). Das gesamte fliegende Per- sonal der Deutschen Bundeswehr wird in regelmäßigen Abständen einer sol- chen flugphysiologischen Schulung un- terzogen. Diese findet in der Abtei- lung Flugphysiologie des Flugmedi- zinischen Instituts der Luftwaffe in Königsbrück nahe Dresden statt (Ab- bildung).

In Gruppen-Briefings werden die theoretischen Aspekte von Höhe und Hypoxie dargestellt. Die praktische

Ausbildung umfasst für jeden Lehr- gangsteilnehmer die Absolvierung ei- nes so genannten „Höhen-Zeit-Pro- fils“ in einer die Höhe simulierenden Unterdruckkammer (Grafik 2).

In verschiedenen Kabinendruck- höhen erfahren die Piloten und Bord- besatzungen aller Flugzeugmuster, so- wie die Flugbegleiter der BMVg-Flug- bereitschaft (BMVg, Bundesministeri- um der Verteidigung), alle Fliegerärz-

te und das medizinische Fachpersonal für den Lufttransport von Verletzten (AirMedEvac, „air medical evacua- tion“) ihre individuellen Symptome und Wahrnehmungen bei einer unzurei- chenden Sauerstoffversorgung. Außer- dem erlernen sie schnelles und ziel- gerichtetes Handeln zur bestmögli- chen Nutzung ihrer TUC beziehungs- weise EPT.

Bereits mehrfach wurde berichtet, dass durch ein Wiedererkennen der selbst erfahrenen Symptome die Situa- tion „Sauerstoffmangelversorgung/Hy- poxie“ schneller erfasst wurde, als dies Konzept der Selbst- und Fremdrettungszeit (vergleiche Tabelle 2)

Grafik 1

´ Tabelle 33

Anzeichen und Symptome für Sauerstoffmangel (Auswahl)

Einschränkungen des Farbsehens verwaschene Sprache

Temperaturmissempfindung (Wärme/Kälte) Konzentrationsstörungen, Verwirrung

Kribbeln auf der Haut Passivität

periphere Zyanose („blaue Fingernägel“) „Lufthunger“

Übelkeit, Erbrechen Euphorie

(4)

eventuell nach Abarbeiten einer Check- liste möglich gewesen wäre – und somit vielleicht ein Flugunfall verhindert werden konnte. Für den Bereich der Deutschen Luftwaffe ist kein Fall eines tödlichen Flugzeugabsturzes in den letzten 25 Jahren infolge von hypoxi- scher Einwirkung bekannt. Ebenso sind den zugänglichen Berichten der Bundesstelle für Flugunfalluntersu- chung (BFU) zwischen 1981 und 2004 keine rein hypoxiebedingten Unfälle oder Störungen zu entnehmen. Demge- genüber waren Kohlenmonoxidvergif- tungen (Bericht BFU Az 3X007-0/96) schon als ursächlich aufgeführt.

Ausblick

In Zukunft werden die genannten Aspekte zunehmend relevant für die Flug- und Reisemedizin und somit für die hausärztliche Patientenberatung sein.

Der Anteil flugreisewilliger Passa- giere mit eingeschränkter Sauerstoff- organversorgung (Übersicht der Ursa- chen in [8]) wird aus demographischen Gründen zunehmen.

Attraktive Zielflughäfen liegen be- reits in mittleren bis großen Höhen:

Der Flughafen „El Alto“ in La Paz, Bolivien, liegt 14 000 ft (circa 4 100 m) über dem Meeresspiegel. Diese Höhen- lage kann die bereits während der An- reise bestehende milde Hypoxiesitua- tion nicht kompensieren, sondern ver- stärkt sie.

„Super capacity airplanes“, wie der Airbus A380, werden mehr als 550 Pas- sagiere in Reiseflughöhen über 43 000 ft (circa 13 100 m) befördern; gleichzeitig birgt jedes zusätzliche Fenster und je- de weitere Tür in einer Flugzeughülle ein gewisses Risiko für eine Leckage.

Eine denkbar mögliche Luftbetan- kung auch für Passagierflugzeuge wird die heute bereits erzielten Non-stop- Distanzen von mehr als 20 100 km

(Flug einer Boeing 777 von Hongkong nach London am 10. 11. 2005) und da- mit die Flugzeiten weiter ausdehnen.

Fazit

In der militärischen Fliegerei ist es für den Kampfpiloten erforderlich, auch nach einer (Fremd-)Beschädigung des Flugzeuges noch handlungsfähig zu sein.Aufbauend auf Erfahrungen in die- sem Bereich könnte der Ausbildungs- stand in der zivilen Luftfahrt durch eine Vermittlung von „aktiver“ Flugphysio- logie in entsprechenden Trainings- und Simulationseinrichtungen weiter erhöht werden. Trotz dieser personal- und ko- stenintensiven Maßnahmen sollte für Ärzte das Leitmotto der Flugmedizin gelten: volanti subvenimus – wir unter- stützen die Fliegenden.

Manuskript eingereicht: 25. 8. 2005; revidierte Version angenommen: 13. 10. 2005

Schematischer Verlauf einer Hypoxieexposition während der flugphysiologischen Ausbildung Grafik 2

Untere Kurve: Zeitlicher Verlauf des Höhenprofils (h, blau) mit kurzem Probeaufstieg auf 8 000 ft (circa 2 400 m) und anschließendem Daueraufenthalt in 25 000 ft (circa 7 600 m)

Obere Kurven: Herzfrequenz (Hf, grün) und periphere Sauerstoffsättigung (pSaO2, rot) im Zeitverlauf. Der ro- te Pfeil gibt den Zeitpunkt der Trennung von der O2-Versorgung in einer Druckhöhe von 25 000 ft (circa 7 600 m) an, der blaue Pfeil kennzeichnet das Bemerken des ersten Symptoms, der gelbe Pfeil den Wieder- anschluss an die O2-Versorgung. Initial kommt es zu einem situativbedingten Hf-Anstieg (Aufregung), erst mit Absinken der pSaO2zeigt sich der hypoxiebedingte Anstieg der Hf (Kompensation).

Abbildung: Innenansicht der Höhen-Klima- Simulationsanlage, Abteilung Flugphysiolo- gie, Flugmedizinisches Institut der Luftwaffe (Foto: Welsch)

(5)

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Me- dical Journal Editors besteht.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(13): A 851–5

Literatur

1. FAZ.NET: Griechenland – Keine Überlebenden nach Flugzeugabsturz (online-Ausgabe vom 14. 8. 2005) (www.faz.net)

2. Jaeger U: Ein fliegender Sarg. Der Spiegel 1999; 53:

176–8.

3. Rice GM, Halenkamp TW, Porter HR: You’re the flight surgeon. Aviat Space Environ Med 2000; 71:

962–3.

4. Cable GG: In-flight hypoxia incidents in military aircraft: causes and implications for training. Aviat Space Environ Med 2003; 74: 169–72.

5. Files DS, Webb JT, Pilmanis AA: Depressurization in military aircraft: rates, rapidity, and health effects for 1055 incidents. Aviat Space Environ Med 2005;

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6. DeHart RL: The athmosphere. In: DeHart RL, ed.:

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Lippincott Williams & Wilkins 1996: 59–67.

7. Macmillan AJF: The pressure cabin. In: Ernsting J, Nicholson AN, Rainford DJ, eds.: Aviation medicine.

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8. Köhler D: CaO2-Wert zur Beurteilung der Sauer- stoff-Organversorgung. Dtsch Arztebl 2005; 102 (28–29): A 2026–30.

9. Aerospace Medical Association/Medical Guidelines Task Force: Medical guidelines for airline travel.

Aviat Space Environ Med 2003; 74 (Section II Sup- plement).

10. Coker RK, Partridge MR: Assessing the risk of hypo- xia in flight: the need for more rational guidelines.

Eur Respir J 2000; 15: 128–30.

11. Campbell RD, Bagshaw M: Human performance and limitations in aviation. Oxford: Blackwell Science 2002: 15–28.

12. Wirth D, Rumberger E: Ausgewählte physiologische Grundlagen der Flugmedizin. In: Draeger J, Kriebel J, Hrsg.: Praktische Flugmedizin. Landberg/Lech:

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13. Yoneda I, Tomoda M, Tokumaru O, Sato T, Watanabe Y: Time of useful consciousness determination in aircrew members with reference to prior altitude chamber experience and age. Aviat Space Environ Med 2000; 71: 72–6.

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15. Harding RM, Gradwell DP: The Earth’s atmosphere.

In: Ernsting J, Nicholson AN, Rainford DJ, eds.: Avia- tion medicine. Oxford: Butterworth-Heinemann 1999: 3–9.

Anschrift für die Verfasser:

Dipl.-Sportl. Dr. med. Rainer Kowoll Institut für Physiologie

Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Benjamin Franklin

Zentrum für Weltraummedizin Berlin (ZWMB) Arnimallee 22

14195 Berlin-Dahlem E-Mail: rainer.kowoll@charite.de

AUSGEWÄHLT UND KOMMENTIERT VON H. SCHOTT AUSGEWÄHLT UND KOMMENTIERT VON H. SCHOTT

MEDIZINGESCHICHTE(N))

Neonatologie Credé’sche Prophylaxe

Zitat:„Im October 1879 machte ich den ersten Versuch mit prophylakti- schen Einträufelungen in die Augen der Neugeborenen gleich nach der Ge- burt und bediente mich einer Lösung von Borax (1 : 60), weil ich dieses Mit- tel für das mildeste, wenigst ätzende hielt. Es geschah dies aber zunächst nur bei Kindern von kranken Müttern, bei denen die oben angeführten Ausspü- lungen [1] gemacht worden waren. Auch diese Methode führte nicht zum ge- wünschten Ziel, und ich nahm im December 1879 statt des Borax Lösungen von Argentum nitricum (1 : 40) [2], welche bald nach der Geburt einge- spritzt wurden. [...]

Vom Juni 1880 an wurden nun die Augen ohne Ausnahme gleich nach der Geburt desinficirt und zwar in der Weise, dass eine schwächere Lösung von Argentum nitricum (1 : 50) gewählt, auch die Flüssigkeit nicht mehr einge- spritzt, sondern nur mittels eines Glasstabes in jedes durch einen Gehülfen sanft geöffnete, vorher mit gewöhnlichem Wasser gereinigte Auge ein einzi- ger Tropfen Flüssigkeit eingeträufelt wurde. Dann wurden die Augen 24 Stunden lang mit Salicylwasser (2 : 100) getränkten Leinwandläppchen gekühlt. Die zahlreichen Vaginaldouchen [3] wurden dagegen gänzlich auf- gegeben und kamen nur aus anderen Gründen, die ganz unabhängig von den Genitalkatarrhen waren, zur Anwendung. Sämmtliche so behandelten Kin- der sind von Augenentzündungen selbst leichtesten Grades verschont ge- blieben [...]. Das Verfahren ist demnach sehr einfach, überall von einiger- massen geschickten Händen leicht auszuführen, ganz gefahrlos und, wie es scheint, zuverlässig in der Wirkung.“

Carl Sigmund Franz Credé: Die Verhütung der Augenentzündung der Neugeborenen. In: Archiv für Gynäko- logie 18 (1881), Seite 367. – Credé (1819–1892) habilitierte 1850 als Geburtshelfer in Berlin und war von 1856 bis 1887 Ordinarius für Geburtshilfe und Gynäkologie in Leipzig. 1879 führte er die Prophylaxe der go- norrhoischen Neugeborenen-Blennorrhö (Eiterabsonderung der Augenbindehaut) durch Einträufelung einer Silbernitratlösung nach der Geburt ein. (Im selben Jahr hatte Albert Neisser den Gonokokkus entdeckt.) – [1]

Desinfizierende Vaginalspülungen. [2] Silbernitrat. [3] Vaginalspülungen.

Kosmetikratgeber „Jungfernmilch“

Zitat:„Lac Virginis, oder ein Jungfer-Milch. Nehmet das Kraut Hauswurtzel [1] / stosset es in einem Marmolsteinern Mörsel / und preßt den Safft davon aus / diesen Safft seihet durch / und lasset ihn ein klein wenig warm werden / welches hilfft/ daß er fein klahr wird; Und / wenn ihr ihn gebrauen wolt / so müsset ihr ihn in ein Glaß thun / und etliche Tropffen von einem guten Spi- ritius vini [2] darein schütten / so wird alsbald wie eine geronnene Milch aus besagtem Safft werden / welche sehr fürtreflich ist / das Gesicht glatt zu ma- chen / und die Röthe desselben zu vertreiben.“

Christoph Hellwig: Neu-entdeckte Heimligkeiten des Frauenzimmers (Erstauflage 1714). 2. Auflage Frankfurt;

Leipzig: Niedtens 1715, Seite 75. Zitiert nach Sabine Sander: Die dreißig Schönheiten der Frau – Ärztliche Rat- geber der Frühen Neuzeit. In: Medizin, Geschichte und Geschlecht. Körperhistorische Rekonstruktionen von Identitäten und Differenzen. Herausgegeben von Frank Stahnisch und Florian Steger. Stuttgart: Steiner 2005, Seite 55. – Hellwig (1663–1721) ließ sich um 1688 in Weissenfels als praktischer Arzt nieder, war ab 1696 Stadtphysikus in Tennstädt, ging 1712 nach Erfurt. – [1] Die „Jungfernmilch“ mit dem typisch milchigen Aus- sehen wurde nach verschiedenen Rezepten hergestellt. Der glättende und bleichende Effekt auf die Ge- sichtshaut ist möglicherwiese pharmazeutisch auf das in der Pflanze enthaltene Rutin zurückzuführen. [2]

Hauswurz: Sempervivum, vielgebrauchtes traditionelles Haus- und Kosmetikmittel. [3] Weingeist: alchemi- sche Erfindung des 12. Jahrhunderts (Destillation), bald in die Pharmazie eingeführt; der Begriff „Alkohol“

wurde erst später, unter anderem von Paracelsus, verwandt.

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