Manuskript
Beitrag: Raus aus der Wohnung, rein in die Not – Gekündigt wegen Eigenbedarfs
Sendung vom 12. Oktober 2021
von Jörg Göbel und Markus Reichert
Anmoderation:
Tut uns leid, Sie müssen raus! Der Schock ist groß, wenn eine Wohnungskündigung wegen Eigenbedarfs ins Haus flattert.
Mieterinnen und Mieter sind meist wehrlos, es sei denn, Sie können für sich einen Härtefall geltend machen. Aber was gilt denn als Härte? Dass Sie in der teuren Stadt keine andere bezahlbare Wohnung finden? Dass Sie schon älter sind und sich auf einen Lebensabend in ihrem Zuhause eingerichtet haben? Bei Frau Schaffer-Brech kommt viel von dem
zusammen – und noch mehr. Sie ist nämlich fast blind, und trotzdem konnte ihr gekündigt werden. Jörg Göbel und Markus Reichert über die Härte auf dem Wohnungsmarkt.
Text:
Die Kleinstadt Bad Tölz südlich von München. Die Gegend beliebt, wohnen teuer. Hier lebt Viktoria Schaffer-Brech. Die pensionierte Bankkauffrau kämpft mit einer chronischen Entzündung, die auch ihre Augen angreift. Rechts sieht sie gar nichts mehr, links liegt die Sehkraft bei etwa 0,3 Prozent.
Eine vertraute Umgebung ist deshalb besonders wichtig für sie. Ihr Lebensmittelpunkt in Bad Tölz: eine große,
barrierefreie Erdgeschosswohnung. Doch vor Kurzem änderte sich für sie alles: Ihr Vermieter setzte sie vor die Tür. Hier bei der Caritas fand sie Hilfe.
O-Ton Viktoria Schaffer-Brech, pensionierte Bankangestellte:
Also, dieser Rauswurf mit der eigentlichen Zwangsräumung, das war für mich eigentlich das Schlimmste in meinem Leben, weil, es ist mir noch nie passiert, bis jetzt zu meinem 67.
Lebensjahr, dass ich keinen eigenen Wohnungsschlüssel habe.
Schaffer-Brech drohte die Obdachlosigkeit. Sie ist dankbar, dass die Caritas ihr ein Zimmer in einem Wohnheim für Sozialfälle vermittelte. Doch die fast blinde Frau findet sich dort nur sehr schwer zurecht: neue Umgebung, fremde Mitbewohner, mitten in der Pandemie.
Ihr Vermieter hatte gekündigt wegen Eigenbedarf, will die Wohnung für seine Tochter. Schaffer-Brech wollte den Rauswurf verhindern, beantragte vor Gericht eine
Härtefallprüfung. Doch sie verlor. Ihre Sehbehinderung reiche nicht für einen Härtefall, so die Richter.
Im Urteil steht außerdem:
„Das Fehlen einer Ersatzwohnung allein ist keine Härte.“
„Die Schuldnerin muss insofern auch die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft grundsätzlich hinnehmen.“
Der Bundesgerichtshof hatte im Februar erneut klar gemacht, dass schwere Krankheit oder hohes Alter noch nicht als Härtefall gilt. Das Problem: Das Gesetz lässt offen, was genau ein Härtefall ist.
Nachfrage beim Eigentümerverband Haus & Grund: Ist das gerecht?
O-Ton Kai Warnecke, Präsident Haus & Grund Deutschland:
Es kommt immer darauf an, welche Anforderungen der Vermieter vorträgt und welche Anforderungen der Mieter vorträgt. Und das ist eigentlich ein Höchstmaß an
Gerechtigkeit, das man kaum noch überbieten kann. Insofern glaube ich, dass das Recht der Eigenbedarfskündigung, so wie es vom Bundesverfassungsgericht ausgestaltet worden ist, das Beste ist, was man sich derzeit ausmalen kann. Ich habe zumindest keine Verbesserungsvorschläge gesehen, die wirklich besser wären.
Für Viktoria Schaffer-Brech bedeuten die gültigen Regeln:
Wohnungslosigkeit.
O-Ton Viktoria Schaffer-Brech, pensionierte Bankangestellte:
Ja, ich fühle mich halt sehr entwürdigt, nicht mehr als
vollwertiger Mensch. Und das ist schlimm, weil ich versuche, mein Leben trotz dieser Erkrankung, trotzdem ich alleine bin, ja, trotzdem mit allem, was dazugehört, auf die Reihe zu bringen.
Trotz Krankheit und Behinderung unabhängig und
selbstständig sein, dafür hat Schaffer-Brech gekämpft und gearbeitet. Ihre Miete hat sie immer bezahlt. Jetzt sucht sie eine neue Wohnung.
O-Ton Viktoria Schaffer-Brech, pensionierte Bankangestellte:
Also, ich könnte das und wäre bereit, für die Warmmiete 1.400 zu bezahlen.
Doch 1.400 Euro reichen nicht. Sie hat mehrere Makler
beauftragt. Keiner hat eine passende Mietwohnung gefunden.
O-Ton Peter Jarosch, Immobilienmakler:
Also, wir suchen für Frau Schaffer-Brech zwei- bis dreimal die Woche. Die Chancen sind extrem gering. Wir versuchen alles.
Erfolgreicher ist fast ein Lottogewinn, um dann eine entsprechende Wohnung zu kaufen.
Coronapandemie und immer weiter steigende Mieten – eine brisante Mischung, die vielen Menschen zu schaffen macht.
Genau das wollte die Bundesregierung verhindern:
O-Ton Olaf Scholz, Bundesfinanzminister, am 25.3.2020:
Wer wegen der Coronakrise seine Wohnungsmiete zurzeit nicht zahlen kann, dem darf jetzt nicht gekündigt werden. Wir sind als Gesetzgeber und als Regierung verpflichtet, den Bürgerinnen und Bürgern in dieser Situation beizustehen.
Doch der Kündigungsstopp galt nur bis Ende Juni 2020. Dann endete die politische Verpflichtung. Seitdem fliegen Mieter - wie schon vorher - aus ihren Wohnungen. Proteste dagegen, wie hier in Berlin, haben daran nichts geändert.
frontal liegen exklusiv neue Daten des Verbands der
Gerichtsvollzieher über Zwangsräumungen in Deutschland vor. Demnach wurden 2019 etwa 50.000 Zwangsräumungen beauftragt. Im Pandemiejahr 2020 waren es rund 46.500. Das sind nur acht Prozent weniger als im Vorjahr und fast 130 Räumungen am Tag, trotz Corona-Kündigungsstopp.
O-Ton Karl-Heinz Brunner, Vorsitzender Deutscher Gerichtsvollzieher Bund:
In der Zeit, als die Hochphase der Pandemie war, haben wir gedacht: Jetzt werden die Räumungen extrem zurückgehen oder sie werden auch nicht durchzuführen sein. Also, wir haben mit einem deutlicheren Rückgang, noch deutlicheren Rückgang gerechnet. Der ist aber nicht eingetreten.
Berlin. Wer hier seine Wohnung verliert, hat es schwer eine bezahlbare neue zu finden.
Quelle: Yves Blais, 1989
Peter Hollinger, in den 80ern ein bekannter Schlagzeuger, auch er sollte raus aus seiner Mietwohnung - gekündigt wegen Eigenbedarf. Hollinger war in psychotherapeutischer Behandlung. Um eine Zwangsräumung zu verhindern, erstellte seine Psychotherapeutin ein ausführliches Gutachten.
O-Ton Andrea Wiedemann, Psychotherapeutin:
Das Gericht hat nach meiner dritten Expertise, wo ich noch mal ganz ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass der Patient sich in einer wirklich prekären Lage befindet, in der wirklich nicht vor und zurück weiß, dass er wirklich mehr als nur suizidgefährdet ist. Und das war eine unglaublich
brenzlige Situation. Das wussten eigentlich alle Beteiligten.
Die Berliner Eigentümerin lässt mitteilen, Mieter Hollinger habe im Kündigungsstreit versucht zu betrügen. Zeitweise sei keine Miete mehr gezahlt worden. Mehrfach seien
Räumungsfristen verlängert worden. Außerdem schreiben ihre Anwälte,
Zitat:
„Die Gefahr einer Selbsttötung (…) war für die Prozessparteien nicht erkennbar."
Und weiter: Der Musiker habe
„… selbst im Räumungsprozess keine besonderen Härtegründe dargelegt.“
Ein Gericht bestätigte die Zwangsräumung. Davon erfuhr Hollinger ohne den Beistand seiner Therapeutin. Die Polizei fand den Musiker Ende Mai in seiner Wohnung. Er hatte sich selbst getötet. Die Eigentümerin versichert: Sie bedauere seinen Tod zutiefst.
O-Ton Andrea Wiedemann, Psychotherapeutin:
Peter Hollinger war der Höhepunkt in seiner Tragik. Was wir hier sehen, ist ja tatsächlich aufgrund der prekären
Wohnverhältnisse und häufigen Zwangsräumungen und Räumungen eine Zunahme dieser Problematik. Und es wird noch mehr werden.
Andrea Wiedemann berichtet, zu ihr kämen immer mehr Patienten, die psychische Probleme wegen ihrer
Wohnsituation hätten. Diese Menschen seien durch die geltende Rechtslage nicht ausreichend geschützt. Ähnlich sieht das der Deutsche Mieterbund:
O-Ton Lukas Siebenkotten, Präsident Deutscher Mieterbund:
Und deswegen wäre es so wichtig, dass Regelbeispiele ins Gesetz aufgenommen werden. Dass man also beispielsweise sagt: bei besonders hohem Alter, bei besonderen Formen der Invalidität oder aber auch, wenn gerade ein Kind die
Ausbildung noch abschließen muss. Es gibt also eine Reihe von Gründen, die man reinschreiben könnte ins Gesetz als Regelbeispiel, dass es für beide Seiten klarer wird, als wenn dann nur ausschließlich steht: Härte - und das Gericht das dann alleine definieren muss.
O-Ton Kai Warnecke, Präsident Haus & Grund Deutschland:
Wir haben in Deutschland ja eines der fortschrittlichsten und besten Systeme, was die Eigenbedarfskündigung angeht, weltweit. Denn es werden immer die Interessen von Mieter mit Vermieter gegeneinander abgewogen. Es gibt da keine schematische Lösung.
Viktoria Schaffer-Brech hat das anders erlebt. Ihr ehemaliges Zuhause ist dem äußeren Anschein nach auch zwei Monate nach ihrem Auszug nicht wieder bewohnt. Der Vermieter möchte Fragen von frontal dazu nicht beantworten.
O-Ton Lukas Siebenkotten, Präsident Deutscher Mieterbund Wenn eine sehbehinderte Frau in die Obdachlosigkeit rutscht, fällt, dann stimmt was nicht. Dann haben wir in unserem Land nicht die richtige Gesetzgebung oder nicht die richtige
Rechtsprechung an dieser Stelle.
Viktoria Schaffer-Brech versucht weiter, eine Wohnung zu finden. Wenn das nicht klappt, muss sie wegziehen aus Bad Tölz.
Abmoderation:
Was wiegt schwerer: der Schutz des Eigentums oder der Schutz der Mieter? In Artikel 14 des Grundgesetzes heißt es jedenfalls: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll
zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
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