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Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute

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Johanna Öttl

“Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute”

Karnevaleske Repräsentationsformen des Holocaust bei Edgar Hilsenrath und George Tabori

Die Zäsur des Holocaust mit ihren auch in kultureller Hinsicht weit rei- chenden Auswirkungen veranlasste eine Vielzahl von Autoren zur Refle- xion über mögliche Repräsentationsformen der Gräueltaten des Dritten Reichs. Theodor W. Adorno initiierte 1949 mit seinem oft als Verbot missverstandenen Diktum, es sei barbarisch “nach Auschwitz ein Ge- dicht zu schreiben”,1 eine theoretische Diskussion um die Dialektik von Kunst und Barbarei sowie Debatten über künstlerische Darstellungs- formen des Holocaust. Auschwitz und die Shoah florieren als “Stoff und Motiv des Kulturbetriebs mittlerweile […] wie sonst nichts”;2 hierbei bleibt der brisante Diskussionspunkt indes nicht die Frage ob, sondern wie man den Holocaust künstlerisch verarbeiten könne. Kristallisations- punkte der Reflexionen betreffen unter anderem nicht-bagatellisierende Darstellungen sowie die Herausforderung an literarische Form und Spra- che. Terence Des Pres konstatiert im Zuge seiner Untersuchung von Berichten ehemaliger KZ-Insassen,3 wie sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs in erheblicher Zahl erschienen, die Überlebenden wollten Zeugnis ablegen bis zum letzten, um mit Viktor Klemperers programmati- schem Postulat zu sprechen. Bei dieser, so Elie Wiesel, “veritable passion to testify for the future, against death and oblivion, a passion conveyed

1 Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft [1951]. In: Gesammelte Schriften, Bd.

10.1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. S. 11-30. Hier S. 30.

2 Liessmann, Konrad Paul: Die Tragödie als Farce. Anmerkungen zu George Taboris ‘Mein Kampf’. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Text und Kritik: George Tabori. München: Ver- lag text und kritik 1997. S. 81-89. Hier S. 83.

3 Des Pres, Terence: The Survivor. An Anatomy of Life in the Death Camps. New York: Ox- ford University Press 1976.

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by every possible means of expression”,4 kristallisierten sich bald die Grenzen der Sprache heraus,5 an die sowohl die menschliche Vorstel- lungskraft als auch die Darstellungsformen von Literatur gebunden sind.

In Österreich initiierte Ilse Aichinger die Beschäftigung mit der Sho- ah bereits mit dem am 1. September 1945 im Kurier veröffentlichten Text Das vierte Tor, den Aichinger später in ihren 1948 veröffentlichten, episo- denartig von der Kindheit der jüdischen Ella im faschistischen Wien erzählenden Roman Die größere Hoffnung integrierte. Der Text verbindet Ellas kindliche Perspektive mit Elementen verschiedener Textgenres wie des Märchens oder des Dramas, was ebenso wie traumähnliche Sequen- zen zur Verfremdung und Poetisierung der Handlung beiträgt. Aichin- gers Poetik stellt ihren Roman sowohl sprachlich als auch strukturell in starken Kontrast zu den von Des Pres zitierten Berichten von Überle- benden – wie jenem von Sarah Berkowitz6 –, die mimetische Darstellun- gen einer literarischen Poetisierung vorziehen. Obwohl sich Autoren wie Aichinger, Berkowitz oder Ruth Klüger bei der Darstellung des Dritten Reichs divergierender Poetiken bedienen, verbindet sie die Abwesenheit humorvoller Elemente; für Überlebende der Shoah scheinen komische oder satirische Darstellungsmittel tabu.

Im deutschsprachigen Raum7 bricht Günter Grass als Erster dieses Tabu mit dem Roman Die Blechtrommel (1959), dessen Auseinanderset- zung mit Kleinbürgertum und Mitläufern im Dritten Reich aus der Per- spektive eines Schelms ein “pikaresk-subversiv entworfene[s] Zeitbild gegen einen ohnmächtigen Betroffenheitsdiskurs”8 zeichnet, das lange eine Ausnahmeerscheinung blieb. Auch Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner (1969) und Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Frisör (1971/77) gehören zu dieser Gruppe von Texten, die “vor dem Tabu einer komi- sierenden Gestaltung der Holocaustthematik”9 eine Dekade später nicht mehr halt machen. Trotz der ansteigenden Zahl subversiver Darstellun-

4 Zit. nach ebd. S. 35.

5 Vgl. Roth, Markus: Theater nach Auschwitz. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. S. 22.

6 Vgl. Berkowitz, Sarah: Where Are My Brothers? New York: Helios 1965. Zit. nach Des Pres: The Survivor, S. 33.

7 Eines der bekanntesten Beispiele des komischen Umgangs mit dem Naziregime er- schien bereits 1940, doch wurde Charly Chaplins The Great Dictator fernab der real- historischen Ereignisse im Dritten Reich verfasst und konnte möglicherweise eben nur auf der Folie seiner räumlichen Distanz zum Dargestellten veröffentlicht werden.

8 Des Pres: The Survivor, S. 101.

9 Ebd., S. 101.

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gen klingt die Debatte um die Legitimation humoristischer Kunstformen nicht ab: Noch 1997 spaltete Roberto Benignis Film La vita è bella die Meinungen der Kritiker. Die Geschichte eines jüdischen Vaters, der seinem Sohn vormacht, das Leben im KZ sei ein Spiel, in dem er sich durch Verstecken und andere Überlebensstrategien beweisen müsse, um am Ende einen Panzer zu gewinnen, wurde nicht nur positiv rezipiert. So beschreibt ein Kritiker den Film als blasphemisch und “the Holocaust misrepresentations of Life Is Beautiful” als “unforgivably obscene”.10 Doch die Beliebtheit des Films11 veranschaulicht, was Des Pres bereits 1987 in seinem Essay Holocaust Laughter prognostizierte: “if [Claude Lanzmann‟s] Shoah is a sign of the times, we may suppose that artistic representation of the Holocaust is changing – that it is trying a more flexible mode of response.”12 Benignis gewagtes Projekt wäre vermutlich 20 Jahre früher noch undenkbar gewesen.

Die Veröffentlichung von Hilsenraths 1968 geschriebenem Roman Der Nazi & der Frisör exemplifiziert dies: Nach neunjährigen vergebli- chen Bemühungen um Veröffentlichung in Deutschland – mehr als 60 Verlage lehnten den Text ab13 – wurde er schließlich 1971 in den USA erstveröffentlicht14 und erschien erst 1977 auf Deutsch.15 Zu den Weige- rungen deutscher Verlage, den Roman zu publizieren, bemerkt Hilsen- rath: “Das nur, um einmal darauf hinzuweisen, daß der Widerstand ge- gen jede Art von schwarzem Humor oder Satirischem in der Holocaust- Literatur vor allen Dingen von den deutschen Kollegen ausging: aus Mangel an Zivilcourage und aus Angst, daß sie irgendwo anecken könn-

10 Peary, Gerald: No Laughing Matter. In: The Boston Phoenix. 30.10.1998. S. 9. Zit. nach:

Viano, Maurizio: Life is beautiful: Reception, Allegory and Holocaust Laughter. In: Jewish So- cial Studies 5.3 (1999). S. 47-66. Hier S. 48.

11 La vita è bella erhielt neben von herkömmlichen Jurys verliehenen Preisen auch die Publikumspreise des Warsaw Film Festivals 1998 und der Filmfestspiele Cannes 1999. vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Leben_ist_sch%C3%B6n. Letzter Zu- griff : 2. Mai 2010.

12 Des Pres, Terence: Holocaust Laughter. In: ders.: Writing into the World. New York:

Viking Adult, 1991. S. 279f. Zit. nach: Viano: Life is beautiful, S. 47.

13 Vgl. Braun, Helmut: Nachwort zu Der Nazi & der Frisör. München: DTV 2007.

S. 472.

14 Fuchs, Anne: A space of anxiety. Dislocation and Abjection in German-Jewish literature. Ams- terdam: Rodopi 1999. S. 167.

15 Vgl. Braun: Nachwort zu Der Nazi & der Frisör, S. 473.

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ten”.16 Obwohl Hilsenraths Diagnose auf der Folie der zeitversetzten

„Vergangenheitsbewältigung‟ auf Österreich mindestens genau so zutrifft, waren die Kritiken anlässlich der Uraufführung von Taboris Mein Kampf17 am Wiener Burgtheater zehn Jahre später überwiegend positiv – was eine Öffnung des öffentlichen Diskurses für neue Ausdrucksformen der Sho- ah bekundet.

Dass Tabori und Hilsenrath andere Darstellungsformen für ihren Beitrag zur Gedächtniskultur wählen als Autoren wie Klemperer oder Berkowitz, zeigt schon der Handlungsverlauf der beiden Texte: Hilsen- raths Max Schulz schlüpft karnevalesk aus der Rolle des deutschen Schuldigen und führt die “Austauschbarkeit des scheinbar Unaustausch- baren”18 vor, indem er den Holocaust aus der vorgeblichen Perspektive eines jüdischen Opfers schildert; Wechseln der Identität, Maskerade und das Verdrehen von Fakten sind Teil seiner Überlebensstrategie.19 Der ungewöhnliche Ausgangspunkt von Taboris Mein Kampf ist das prä-natio- nalsozialistische Wien, wo der obdachlose, zwar schon antisemitische, jedoch politisch noch erfolglose Adolf Hitler in einem Männerheim bei dem Juden Schlomo Herzl wohnt. Hitler befürchtet, Schlomos Roman- projekt Mein Kampf könne Unerfreuliches über ihn berichten, weshalb er Hand an Schlomo legen will, obwohl sich dieser nach der Maxime der Nächstenliebe um Hitler kümmert. Innerhalb dieses Handlungsmusters entwickelt Tabori durch ein groteskes Zusammenfließen von Holo- caustmetaphern, Maskeraden sowie de- und rekontextualisierten Zitaten aus der abendländischen Kulturtradition das Bild eines grotesken Karne- vals zwischen Leben und Tod. Zur Analyse dieser subversiven Textele- mente können die Konzepte des Literaturtheoretikers Michael Bachtin fruchtbar gemacht werden.

16 Holocaust und Unterhaltung. Eine Diskussion mit Edgar Hilsenrath, Michal Komar, Ursula Link-Heer, Egon Monk und Marcel Ophüls. Diskussionsleitung: Rüdiger Steinlein. Zusammen- fassung: Michael Köppen. In: Köppen, Michael (Hg.). Kunst und Literatur nach Auschwitz.

Berlin: Erich Schmidt 1993. S. 107-112. Hier S. 109.

17 Im Folgenden wird nicht die Dramenversion von Mein Kampf untersucht, sondern die weitgehend ignorierte, dem Drama zu Grunde liegende, ein Jahr zuvor veröffentlich- te Prosafassung; der Text wurde allerdings erst in seiner dramatischen Version einem breiten Publikum zugänglich (Tabori, George: Mein Kampf. Leipzig: Klett 2004. Im Text zitiert mit der Sigle MK).

18 Braun: Nachwort zu Der Nazi & der Frisör, S. 475.

19 Vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Ölberg-Episode (1. Buch, Kap. 7) und die Veronja-Episode (1. Buch, Kap. 10) des Romans.

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Neben seinen Studien zu den Problemen der Kunst Dostojewskis20 und Ra- belais und seine Welt21 enthalten auch seine vier Essays über The Dialogic Imagination22 (1935-1941) Bachtins zentrale Überlegungen zu Romantheo- rie, Heteroglossie, Chronotopos sowie die Konzepte des Karnevals und des grotesken Körpers. Die Theorie zum populärkulturellen Phänomen des Karnevals ist nicht nur ein hilfreiches Modell beim Verständnis der Literatur des Mittelalters und der Renaissance, sondern kann auch auf spätere Epochen angewandt werden. Die Wurzeln des Karnevals sucht Bachtin im Mittelalter, wo das Lachen “in allen Bereichen der offiziellen Ideologie und in den strengen Umgangsformen des offiziellen Lebens verpönt”23 war, weshalb sich die verdrängte Heiterkeit nur außerhalb die- ser offiziellen Seriosität Luft verschaffen konnte. Im Karneval bestand eine von Kirche und Staat bewilligte Möglichkeit, diese Seriosität kurz- fristig zu durchbrechen und die etablierten Normen zu verlachen. Die bestehende Weltordnung wird umgestülpt, tradierte Hierarchien subli- miert. Von den Dogmen der Gesellschaft, des Staates und der Kirche ne- gierte Elemente wie Parodie, Groteske und Obszönität finden hier ihren Platz, wodurch der Karneval “die zeitweise Befreiung von der herrschen- den Wahrheit und der bestehenden Gesellschaftsordnung, die zeitweise Aufhebung der hierarchischen Verhältnisse, aller Privilegien, Normen und Tabus”24 zelebriert.

Bachtin theoretisiert sein Karnevalskonzept zu einer poetischen Ver- fahrensweise; demnach thematisiert karnevaleskes Schreiben den Karne- val nicht inhaltlich, sondern internalisiert und reproduziert ihn. Hierar- chien werden durchbrochen, das Erhabene wird zum Profanen, und die bestehende Gesellschaftsordnung dadurch der Lächerlichkeit preisgege- ben. Auf dieser Folie wird Bachtins Karnevalskonezpt zu einem “impor- tant aesthetic model in post-Shoah German- and Austrian-Jewish lieratu-

20 Nach der Erstveröffentlichung (1929) erschien der Text in einer zweiten veränderten Auflage 1963 unter dem Titel Probleme der Poetik Dostoevskijs.

21 Bachtins Dissertationsschrift Rabelais und seine Welt – eingereicht 1940 beim Moskauer Maxim-Gorki-Literaturinstitut – wurde erst 1965 in veränderter Form unter dem Ti- tel Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur einem breiten Publikum zugäng- lich.

22 Bachtin, Michail: The Dialogic Imagination. Four Essays. Holquist, Michael (ed.). Austin:

University of Texas Press 2000. Die Erstveröffentlichung der vier Texte in einem Band erfolgte 1975.

23 Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a.M.:

Suhrkamp ²1998. S. 123.

24 Ebd., S. 58.

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re”, in der “carnivalesque characteristics such as role reversal and grotes- que realism”25 ihre Anwendung finden; dessen integraler Bestandteil bildet die mittelalterliche Körperkonzeption des grotesken Körpers. Ta- buisierung und Psychologisierung des Körperlichen führten im Laufe der Geschichte zu der Vorstellung des von außen gezeigten, streng begrenz- ten, nach außen verschlossenen Körpers, wohingegen der groteske Kör- per ein entgrenzter, ambivalenter, werdender ist. Jene Körperteile, in de- nen er “über sich […] hinauswächst und einen neuen, zweiten Körper produziert, [spielten] eine besondere Rolle: der Bauch und der Phallus”;

die nächstwichtige Rolle nehmen “der Mund ein, der die Welt ver- schluckt, und dann der Hintern”:26 Die Karnevalssemiotik kehrt die Ver- borgenheit des Körperinneren nach außen und lässt das Außen in das Körperinnere eintreten,27 wodurch die Grenze zwischen Außen und In- nen aufgehoben wird. Diese Körperkonzeption läuft jener des eine neo- klassizistische Ästhetik propagierenden Nationalsozialismus diametral entgegen, welche sich als Kunst der “Gesundheit, Natürlichkeit und Wirklichkeitsnähe” versteht und alles “Kranke, Unwerte und Schwa- che”28 ausblendet. In der Bildsprache von Künstlern wie Hitlers Lieb- lingsbildhauer Arno Breker dominieren neben Stillleben und Tierbilden auch die “Mutter als Ursprung und Garantie der artreinen Rasse, Sport- darstellungen, Männer mit stählernen Körpern in naturnahen Berufen”,29 und sie propagiert Symmetrie, rechte Winkel und Gegenständlichkeit.

Folglich wurden die einen integralen Bestandteil karnevalesker Literatur darstellenden Körperregionen, die sich mit Sexualität, Essen, Trinken oder Ausscheiden befassen, von der nationalsozialistischen Ästhetik als

„entartet‟ dämonisiert.

In seiner Schilderung des Faschisten Max als Arier mit schwarzen Haaren, “Froschaugen, eine[r] Hakennase, wulstige[n] Lippen und

25 Lawson, Robert: Carnivalism in Postwar Austrian- and German-Jewish Literature – Edgar Hilsenrath, Irene Dische, and Doron Rabinovici. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies.

43/1 (2007). S. 38-47. Hier S. 39.

26 Bachtin: Rabelais…, S. 358. Hervorhebung im Original.

27 Vgl. Lachmann, Renate: Vorwort zu Michail Bachtins Rabelais und seine Welt. In: Bachtin:

Rabelais …, S. 7-48. Hier S. 39.

28 Zaidan, Daniel: Bildende Künste im Dritten Reich. Eine kritische Auseinandersetzung mit einem vernachlässigten Kapitel deutscher Kunstgeschichte. Hamburg: Diplomatica 2008. S. 21.

29 Ebd., S. 31.

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schlechte[n] Zähnen”,30 der somit eher dem proklamierten „typischen‟

Bild eines Juden als dem arischen Schönheitsideal entspricht, karnevali- siert Hilsenrath neben der nationalsozialistischen Körperästhetik auch deren Ideologie. Ihre Klimax erreicht diese Karnevalisierung der politi- sierten Körperkonzeptionen in Taboris vor allem mit den Ausschei- dungsorganen in Verbindung gebrachter Hitler-Darstellung, bei der im Unterschied zu Max jedoch groteske Körperhandlungen über groteskes Aussehen dominieren: Das wiederholte Urinieren und “furzen” (MK 67) charakterisieren Hitler ebenso wie sein ausgedehnter Toilettenaufenthalt – er leidet an “Endverstopfung”31 (MK 67). Das Rekurrieren auf die un- teren Körperregionen und Ausscheidungsorgane beraubt Hitler des Cha- rismas des „Führers‟ und verbinden ihn mit dem Profanen des Alltags.

Diese Ebene erweitert Tabori durch Hitlers potenzielle jüdische Genea- logie und die Provenienz eines Müllmannes: Hitlers Name hat sich von dessen Vorfahren Benjamin Schüttler – so genannt, da er sich “im Ge- biet um Starnberg, um den Müll oder Schutt” (MK 32) zu kümmern hatte – wegen eines bürokratischen Versehens hin zu “Shitler” umge- formt und wurde auf dem Amt für Germanisierung von Eigennamen geändert. Wegen der prekären finanziellen Situation der Shitlers konnte der zuständige “Beamte, ein Antisemit” (MK 32), für die Familie Shitler nur das „s‟ streichen. Taboris karnevalesk-satirische Erläuterung spielt auf die Namensänderungen von Hitlers realhistorischem Vater an und desa- vouiert die etablierte Rassenideologie, sowie sie Hitlers bekannte Versu- che bloßstellt, seine Abstammung von verarmten Bauern zu vertuschen und sich als Bürgersohn zu präsentieren; die Hitlers werden ferner selbst zum Opfer antisemitischer Vorurteile.

Konträr zu dieser fäkalisiert-profanen Alltagsexistenz repräsentiert Frau Tod die nationalsozialistische Körperkonzeption durch ihr “klassi- sches […] römisches Gesicht” (MK 68), ihre schönen römischen Lippen, die perfekten Zähnen sowie das perfekte Profil (MK 70-74); dass diese Körperkonzeption ein äußerliches Trugbild ist, zeigen ihre chronische Bronchitis samt schleimigem Husten, die Krampfadern ihrer bandagier- ten Beine und ihr einem vernachlässigten Kühlschrank gleichender Kör- pergeruch (MK 68-73). Die Kombination der einander diametral entge-

30 Hilsenrath, Edgar: Der Nazi & der Frisör. München: DTV 2007. S. 24. Im Haupttext zitiert mit der Sigle NF.

31 Die in diesem Neologismus beispielhaft vollzogene Verbindung der grotesken Kör- perkonzeption mit dem nationalsozialistischen Vokabular stellt ein durchgängiges Motiv des Textes dar.

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gen gesetzten Konzeptionen der nationalsozialistischen Ästhetik mit dem grotesken Körper parodiert die Körperästhetik des Dritten Reichs und stellt ihre Absurdität und Willkür bloß. Diese poetische Verfahrens- weise drückt die Dialektik zwischen deutschem Kulturerbe und national- sozialistischer Barbarei aus, so auch in der Figur Gretchens: Ihr Name ist eine Reminiszenz auf Goethes Faust und die klassische Ästhetik, das klassische Ideal des Reinen, der Humanität sowie des ästhetisch Voll- kommenen, und ihr Aussehen gemahnt an die nationalsozialistische Ras- senideologie. Gretchen, in adrettem Matrosenkleid und mit goldenen Flechten, bringt Schlomo eine “Mutterhenne” (MK 52) und verweist mit diesem Geschenk auf die nationalsozialistische Ideologie der gebärenden, schützenden Mutter. Die groteske Kombination dieser ideologischen Versatzstücke und der abendländischen Kultur wird durch Intertextuali- tät und Heteroglossie verstärkt. Für Bachtin exemplifiziert die Prosa Dostojewskis heteroglotte Texte, in denen “more than one conscious- ness”32 und eine Vielzahl von Stimmen dem Roman einen polyphonen Grundton verleihen. Diese Heteroglossie integriert “two styles, two „lan- guages‟, two semantic and axiological belief systems”,33 die auch inner- halb einer syntaktischen Einheit kombiniert werden können, was für Bachtin nicht nur ein linguistisches Merkmal ist, sondern auch zu einem ästhetischen Qualitätsmerkmal des Romans stilisiert wird.34 Sowohl in Mein Kampf als auch in Der Nazi und der Frisör dient der durch intertex- tuelle Bezüge konstituierte heteroglotte Textcharakter der Gegen- überstellung von kulturellen Errungenschaften des Abendlandes und den Gräueltaten des Holocaust.

32 Dentith, Simon: Bakhtinian thought. An introductory reader. London: Routledge 1995.

S. 196.

33 Bachtin: The Dialogic Imagination, S. 304.

34 Diese wertende Ebene des Begriffs der Heteroglossie reflektiert beispielsweise fol- gender Kommentar: “Prose consciousness feels cramped when it is confined to only one out of a multitude of heteroglot languages, for one linguistic timbre is inadequate to it” (ebd., S. 324.) und hat Bachtin bisweilen den Vorwurf eingebracht, seine ästhe- tischen Untersuchungen implizierten auch eine essentialistische Definition des Ro- mans sowie eine normative Wertung verschiedener Romanformen.

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Karnevalisierung der Täter-Opfer-Opposition

Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen.

Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.35 Im Sinne dieses Zitats scheint Tabori Mein Kampf geschrieben zu haben.

In die Grundstruktur des Textes fließen historische Ereignisse wie Hit- lers Ablehnung an der Kunstakademie ein; aus der Geschichtsforschung ist ferner bekannt, dass der realhistorische Diktator mehr als zwei Jahr- zehnte vor der Machtergreifung der NSDAP in einem Wiener Obdach- losenheim wohnte und dort Reinhold Hanisch kennen lernte, der seine Aquarelle verkaufte.36 Tabori inszeniert jedoch keine biografische Skizze einiger Lebensmonate Hitlers, sondern ein absurdes Zusammentreffen zweier diametral entgegen gesetzter Männer – der eine ist Jude, der ande- re Antisemit; der eine fürsorglich und selbstlos, der andere egoistisch und ignorant; der eine witzig und schlagfertig, der andere humorlos und eigensinnig. Die realhistorischen Einschübe bilden nicht Kristallisations- punkte von Taboris Text, sondern dienen der historischen Verortung, welche den Konnex zu Bachtins Karnevalskonzept und die karnevaleske Grundkonstellation des Textes ermöglicht. Das Verhältnis zwischen Schlomo und Hitler läuft den Rezeptionserwartungen von Anfang an zu- wider, als Hitler rüpelhaft bei Schlomo eindringt, was dieser mit der Fra- ge nach Hitlers Manieren quittiert. Auf Hitlers ausschweifende, mit rhe- torischem Pathos gespickte Antwort kontert Schlomo trocken “Ich habe Ihnen eine einfache Frage gestellt. Hat Ihnen Ihre Mutter keine Manie-

35 Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Unter: http://www. marxists.

org/deutsch/archiv/marx-engels/1852/brumaire/kapitel1.htm. Letzter Zugriff: 12.

Mai 2010.

36 Einige dieser Parallelen zwischen Taboris Text und biografischen Informationen über Hitlers Zeit in Wien bzw. über dessen Charakter – beides wird von Tabori teil- weise in seinen Text eingeflochten – erörtert beispielsweise Stefan Scholz. (vgl.

Scholz, Stefan: Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns. George Tabori – Ein Fremdpro- phet in postmoderner Zeit. Stuttgart: Kohlhammer 2002. S. 87ff.). Konrad Paul Liess- mann bemerkt, dass der realhistorische Adolf Hitler zu dieser Zeit tatsächlich engen Kontakt mit Juden hatte und sein Antisemitismus damals noch nicht besonders stark ausgeprägt war (vgl. Liessmann: Die Tragödie als Farce, S. 85). Eine genaue Auseinan- dersetzung mit Hitlers Zeit in Wien präsentiert Brigitte Hamann in Hitlers Wien. Lehr- jahre eines Diktators. München: Piper 2010.

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ren beigebracht, ich erwarte eine einfache Antwort, nicht das Nibelun- genlied” (MK 28). Das karnevaleske Bild eines Juden, der Adolf Hitler in seine Schranken weist und ihn zu einer Entschuldigung sowie zur Kor- rektur seines Verhaltens zwingt, “reflects the carnevalistic idea of an

„inside out world‟, in which the author employs extensive use of parody and contrasting pairs or reversed images”.37 Durch das Wegfallen eta- blierter Normen und Tabus entsteht “ein besonderer [...] Kommunikati- onstyp […], der im Alltagsleben nicht denkbar wäre”38 und der den hete- roglotten Textcharakter durch das Zusammenfließen des pathetisch-na- tionalsozialistischen Duktus mit dem profanen Alltagsdiskurs konstitu- iert.39 Hitlers vom Nationalsozialismus geprägte Diktion stellt ihn Schlo- mo gegenüber in ein Hierarchieverhältnis, das von Tabori ab ovo durch- brochen wird und zum grotesk-komischen Grundtenor des Textes bei- trägt. Auch Hilsenrath kombiniert durch linguistische Versatzstücke aus dem nationalsozialistischen Diskurs die sprachliche Textebene mit dem inhaltlichen Hierarchieverhältnis zwischen Opfer und Täter und de- monstriert durch diese Verfahrensweise die Willkür der nationalsozialis- tischen „Rassenhierarchie‟. Veronja beschimpft Max mit folgenden Wor- ten: “„Könnt ihr Kerle nicht mehr aushalten als die Untermenschen!‟ –

„Das weiß ich nicht‟, sagte ich [Max]. „Ich war noch kein Untermensch.‟ –

„Doch‟, sagte die Alte. „Jetzt sind Sie einer.‟” (NF 149). Veronja kehrt innerhalb kürzester Zeit die scheinbar nicht invertierbaren Macht- und Hierarchieverhältnisse der Nationalsozialisten um und macht Max in monatelangen Peinigungen vom „Herren-‟ zum „Untermenschen‟. Seine Transformation vom KZ-Aufseher zum Opfer von Veronjas Machtwill- kür liefert ihn Prügelstrafen und Folter aus, und er muss weitere an den Lebensalltag in Konzentrationslagern gemahnende Demütigungen wie das Säubern des Ofens und die appellähnlichen Sieg-Heil-Rufe über sich ergehen lassen. Diese karnevaleske Schreibweise evoziert durch die Kombination von Metaphern aus dem Holocaust-Diskurs dessen Ab- surdität. In Analogie zu Bachtins Theorie der invertierten Klassenzuge-

37 Lawson: Carnivalism in Postwar Austrian- and German-Jewish Literature, S. 39.

38 Bachtin: Rabelais …, S. 65.

39 Während sich Hitler gleich bei seinem ersten Auftritt mit nationalsozialistisch-pathe- tischer Sprachgewalt hervortut, wird Schlomo im plauderhaftem Tonfall eines Trivi- alromans eingeführt: “In einer kalten Nacht, die in den Morgen graute, der kältesten seit Menschengedenken, wenige nur leben noch, um dem zu widersprechen, mögen Sie, falls Sie sich in diesem heillosen Jahr neunzehnhundert-Punkt-Punkt-Punkt in Wien aufgehalten haben, einen gewissen Schlomo Herzl, fliegenden Buchhändler, heimwärts zum Asyl in der Blutgasse haben watscheln sehen können” (MK 3).

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hörigkeit unterminiert Tabori die Reglements der „Rassenzugehörigkeit‟, indem er die scharfe Trennung zwischen Juden und Ariern untergräbt:

Er verbindet Schlomo und Hitler durch ihre Wohnsituation, lässt Schlo- mo erneut eine jüdische Genealogie Hitlers entwerfen und entwickelt so- mit eine implizite Verwandtschaft zwischen den beiden. Schlomos Aus- führung, die Hitlers seien “Abkömmlinge eines Zwillingsstammes, von Odessa der eine, von Munkacevo, das sich in die karpatischen Ausläufer schmiegt, der andere” (MK 31), beraubt Hitler erneut seiner Führer-Aura und karnevalisiert das identitätsstiftende Konzept der nationalistischen Rassenideologie.40 Ihren Höhepunkt erreicht die Maskerade, als Schlomo während seiner Flucht kurzfristig die Identität Hitlers annimmt und Hit- ler vor dem Juden Schlomo-Hitler salutiert:41

Schlomo riss die Hand zu einem Heil! nach oben, sie hielten ihn für Hit- ler. […] Schlomo marschierte durch den Raum, um durch die Eingangs- tür zu entkommen, der vierte Tiroler kam vom Fenster zurück und salu- tierte schneidig. […] “Rühren!”, sagte Schlomo zu ihm, als Hitler durch die Eingangstür marschiert kam, Schlomo sah, ihn für Hitler hielt, schneidig salutierte. “Da ist er lang!”, sagte Schlomo und zeigte aufs Fen- ster, Hitler erwiderte “Zu Befehl, mein Führer!” und kletterte durchs Fenster in den Hof hinaus. (MK 82)

Integrales Element des mittelalterlichen Karnevals ist, dass die Umkehr der Hierarchien wieder rückgängig gemacht wird, was auch für Taboris Verwechlungssatire zutrifft: Als Deus ex Machina beendet Frau Tod die- se Satire im Moment ihrer Klimax mit dem Kommentar “Alle guten Geschichten enden mit dem Tod” (MK 83) und rekrutiert Hitler als

40 Beide in der heutigen Ukraine gelegenen Städte verfügten vor deren Eroberung durch die Wehrmacht über große jüdische Gemeinden zurückgehend auf den von Katharina der Großen 1791 im zaristischen Russland gefällten Beschluss, Juden dürf- ten sich nicht mehr in Innerrussland niederlassen, sondern in so genannten „Resi- denzzonen‟ oder „Ansiedlungsrayons‟, zu denen auch die Ukraine gehörte, weshalb bis zum Zweiten Weltkrieg die meisten Sowjetjuden dort lebten. (vgl. Messmer, Mat- thias: Antisemitismus in Rußland, der Ukraine und Litauen – eine vergleichende Studie. veröf- fentlicht vom Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. 1998. S. 3. Unter: http://www.ssoar.info/ssoar/files/swp/berichte/BER98_

07.pdf. Letzter Zugriff: 10. Mai 2010.

41 Die Parodisierung des Hitler-Grußes ist bekannt aus satirischen Werken wie Chaplins The Great Dictator – der beispielsweise Rodins Denker in Sieg-Heil-Position zeigt – und Benignis La vita è bella sowie Kunstprojekten von Anselm Kiefer. Vgl. hierzu: Arnds, Peter: „Send in the Clowns’. Carnevalizing the Heil-Hitler Salute in German Visual Culture. In:

Finney, Gail (Hg.): Visual Culture in Twentieth-Century Germany. Text as Spectacle. Bloo- mington: Indiana University Press 2006. S. 235-247.

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ihren Handlanger. Sie beendet die Karnevalszeit mit einer apodiktischen Zukunftsvision, in der archetypische Höllen-Vorstellungen und Bilder der Shoah montiert werden: “Feuer, Feuer und Sie werden die verseng- ten Körper, wie den der Henne, beneiden, von den Flammen verzehrt, die Ihr Zimmergenosse entzündet hat” (MK 83). Angesichts der histori- schen Realität muss Tabori die Möglichkeit auf post-karnevaleske Er- neuerung der Strukturen negieren und auf einer Wiederherstellung aller Hierarchien und Normen bestehen.

Laut Bachtin war dem Lachprinzip der Literatur des Mittelalters und der Renaissance immer auch das Moment der Wiedergeburt und Erneu- erung inhärent;42 ihm kam die wichtige Eigenschaft zu, durch die Karne- valserfahrung die Welt von allem Bedrohlichen zu befreien, “sie angstlos […] und daher heiter und hell”43 werden zu lassen. Da der Tod “als Er- neuerung die Verbindung von Tod und Geburt”44 darstellt, ist ihm in der karnevalesken Literatur des Mittelalters immer ein Moment des Komi- schen immanent. Durch die Umgestaltung dieses Lachprinzips in der Groteske der Romantik ging die erneuernde Kraft des Todes bis in die (Post-)Moderne verloren.45 Konsequenz der Wiederherstellung der real- historischen Weltordnung sind sowohl bei Hilsenrath als auch bei Tabori der Kollaps der Menschlichkeit und die Negation einer utopischen Zu- kunftsvision. Statt dem grotesken Lachen ein Moment der Erneuerung und Wiedergeburt einzuschreiben, ist Mein Kampf “ein letztes Innehalten vor der Katastrophe, ein Lachen, bevor alles zusammenbricht”,46 in dem sich keine Chance auf Wiedergeburt und Rettung für Schlomo bietet, sondern der ihn vermutlich vernichtende Holocaust. Weder die apoka- lyptische Zukunftsvision am Ende von Mein Kampf noch der Lebens- abend des Massenmörders Max Schulz, der seiner gerechten Strafe reue- los entrinnt, lässt eine Hoffnung auf Erneuerung zu.

Heteroglossie und intertextuelle Karnevalisierung

Die durch eine Kombination aus antisemitischen Diskurselementen und Symbolen des Holocaustdiskurses mit Texten der abendländischen Kul- tur konstituierte Heteroglossie wird angereichert durch Karnevalisierung

42 Vgl. Bachtin: Rabelais…, S. 126.

43 Ebd., S. 98.

44 Ebd., S. 120.

45 Vgl. ebd., S. 89 und S. 363.

46 Liessmann: Die Tragödie als Farce, S. 86.

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und Ikonoklasmus dieser Texttraditionen. Die Symbolik der Asche und des Ofens – einem der zentralen Bezugspunkte von Raum und Hand- lung in Veronjas Kate – kulminiert in der Klimax der Veronja-Episode zum zentralen Mahnmal der Shoah, als Veronja die vor dem Ofen trock- nenden Goldzähne entdeckt, die Max auf der Flucht aus dem Konzen- trationslager gestohlen hat. Als sie Max mit einer Holzaxt attackiert und dieser sie in Gegenwehr erschlägt und im Ofen verbrennt, evoziert Hil- senrath in bildlicher Symbolhaftigkeit die Grausamkeit und Willkür des Holocaust.47 Die Verbindung von Holocaustsymbolik und romantischer Märchentradition trägt zum heteroglotten Charakter ebenso bei wie die montageartige Kombination von sakrosankten Textelementen der Bibel und Versatzstücken aus dem Diskurs der Nationalsozialisten sowie all- tagssprachlichen geflügelten Worten und Sprichwörtern, Small-Talk, etc.

Dieser Stilpluralismus, der mehr als nur “ästhetische[r] Gemischtwaren- handel aus Konversationsstück, Kabarett, Tragikgroteske, Oratorium und religiösem Ritual”48 ist, resemantisiert die ursprünglichen Intentio- nen und Inhalte der Subtexte, evoziert dadurch die Präsenz des Holo- caust und akzentuiert die Dialektik von Kunst und Barbarei. In der hete- roglotten Verdichtung von biblisch-apokalyptischen Endzeitvorstellun- gen sowie archetypischen Bildern der Hölle montiert Tabori Mosaike der dämmernden Klimax des Antisemitismus: Schlomo schwärmt von dem begehrenswerten Körper Gretchens, der Reminiszenz auf Humanität, anstatt sich “über den Feuerball am Himmel Sorgen zu machen, der eine Feuersbrunst entfachen wird, die uns alle in einem flammenden Meer ertränken wird” (MK 51).

Hitlers Mein Kampf

Der realhistorische Adolf Hitler veröffentlichte unter diesem Titel 1924 seine ideologisierte Lebensgeschichte, in der er eine weltweite, das deut-

47 Tabori treibt diese Vorgehensweise auf die Spitze, indem er in dem Bild des in den

“Bauch des Ofens” (MK 46) urinierenden Hitler durch die Personifizierung des Ofens die menschlichen Körperteile und die Verbrennungsöfen der Konzentrations- lager besonders eindringlich verbindet. Das Urinieren vollzieht die Verbindung mit den profan-körperlichen Alltagsbedürfnissen und überführt durch die Karnevalisie- rung und die Verbindung mit dem grotesken Körper das arische Reinheitsideal ins Groteske.

48 Köster, Cornelia: Satyrspiel zur Versöhnung. In: Tagesspiegel v. 14.5.1988. S. 4. Zit. nach:

Höyn, Peter: „Immer spielt ihr und scherzt?’ Zur Dialektik des Lachens in George Taboris Mein Kampf. Farce. In: ders. (Hg.): Verkörperte Geschichtsentwürfe. George Taboris Thea- terarbeit. Basel: Francke 1998. S. 130.

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sche Volk bedrohende jüdische Verschwörung und die daraus resul- tierende Notwendigkeit der Vernichtung der „jüdischen Rasse‟ prokla- mierte. Rückblickend stilisiert er seine Zeit in Wien, “um sie dem selbst- geschaffenen Mythos seiner Person einzupassen.”49 Die Befürchtung, Zeugen dieser Zeit könnten den Mythos zerstören, instrumentalisiert Ta- bori als Grund für den versuchten Mordanschlag auf Schlomo Herzl, dessen Name an Theodor Herzls Der Judenstaat erinnert. Schlomos Mein Kampf, das den Kampf eines Juden ums Überleben und um Würde am Rande der Gesellschaft thematisiert, wurde vor Hitlers antisemitischer Hetzschrift begonnen. Indem Tabori die Urheberschaft des Titels Schlo- mo zuweist und so die historischen Tatsachen karnevalisiert, entlarvt er Hitlers Schrift als Perversion des Humanisten Schlomo. Dessen Feststel- lung, es “mag der Sinn der Dichtung sein, den Tod zu beschwatzen und ihn hinzuhalten” (MK 75), artikuliert den diametralen Gegensatz zwi- schen dem jüdischen Mein Kampf und Hitlers Propaganda. Die schehera- zadeähnliche lebensverlängernde Absicht von Schlomos Buch und das Zelebrieren des Lebens in Form von Literatur läuft sowohl Inhalt als auch kommunikativer Funktion von Hitlers Hetzschrift entgegen. Die karnevalsartige Umkehr der Urheberschaft und des realhistorischen Ent- stehungskontexts von Mein Kampf artikuliert einen pikaresken Gegenent- wurf der Funktionsweise von Literatur.

Die Bibel

Das Verhöhnen der Bibel bildete einen integralen Bestandteil des Karne- valshumors des Mittelalters, dessen Parodie auf alle Bestandteile des Le- bens und der Gesellschaft ausgerichtet war. Deshalb trieb “die mittel- alterliche Parodie mit dem […] Heiligsten und Wichtigsten [nämlich der Bibel] ein ungezügeltes, heiteres Spiel”,50 und die gesamte Heilige Schrift wurde zur Grundlage der Darstellungen “einer wunderlichen, närrischen Welt”.51 Im Mittelalter, so Bachtin, konstituierten zahlreiche Parodien auf die wichtigsten Gebete, das Glaubensbekenntnis oder die Liturgie52 einen zentralen Aspekt der Karnevalskultur. Der geschützte Rahmen des Karnevals sanktionierte den Ikonoklasmus, da nach dessen Ablauf die etablierten Ordnungen und der sakrosankte Status der Bibel wieder her-

49 Scholz: Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns, S. 88.

50 Bachtin: Rabelais, S. 134f.

51 Ebd., S. 135.

52 Vgl. ebd., S. 135.

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gestellt wurden. Taboris und Hilsenraths ikonoklastischer Umgang mit der Bibel verdeutlicht die nationalsozialistische Barbarei des christlichen

„zivilisierten‟ Abendlandes, und die Heteroglossie intensiviert diese poeti- sche Verfahrensweise. Nicht in der gleichnishaft-bildlichen Sprache der Bibel, sondern in alltäglichem Plauderton diskutiert Schlomo mit dem

“irre[n] Lobkowitz, ein[em] kaputte[n] Koscher-Koch”-Gott, der sich

“als mystische[s] Zeichen der Göttlichkeit” (MK 5) ein drittes Auge zwi- schen die Brauen gemalt hat, die zehn Gebote, welche Lobkowitz für die Lebensbedingungen des Wiener Durchschnittsbürgers modifiziert hat:

“Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen” (Ex. 2,17) wird zu “Bevor du deines Nachbarn Weib begehrst, überzeuge dich, dass sie keine behaarten Beine hat” (MK 6).53 Die Applikation der biblischen Gebote auf Alltägliches sublimiert die Trennung zwischen Sakralem und Profanen und wird verstärkt durch die Umkehr der göttlichen Weltord- nung, exemplifiziert an Lobkowitz; dieser nimmt trotz seiner profanen Identität eines Obdachlosen blasphemisch die Identität Gottes an. In dieser Umkehr der bestehenden Weltordnung gilt “unten statt oben, Erde statt Himmel”,54 wie auch für die karnevalesk sublimierte Hierar- chie zwischen Hitler und Schlomo.

Taboris sprachliche und strukturelle Auseinandersetzung mit Juden- und Christentum sowie die Versatzstücke biblischer Texte und religiöser Riten und Symbole zeigen seine Vertrautheit mit dem religiösen Erbe.55 Darauf bezieht sich auch Stefan Scholz in seiner Feststellung, die Dra- menversion von Taboris “theologische[m] Schwank”56 beinhalte das Strukturmerkmal des Triduum Paschale: Jedem der fünf Akte des Dra- mas entspricht ein Element des Triduum Paschale, was Scholz als Paral- lele zum Leidensweg Jesu vom Gründonnerstag bis zum Bußtag liest.57 Trotz der Einteilung in sieben Kapitel reflektiert auch die Prosaversion diese Strukturelemente: Die Schlomo und Lobkowitz-Gott gewidmeten und am Abend bzw. in der Nacht angesiedelten Kapitel eins und zwei entsprechen dem Gründonnerstag samt Abendmahl. Dem Karfreitag, dem Tag des Leidens und Sterbens, kommen Kapitel drei und vier

53 Abermals erzielt die Verbindung von Sakralem mit dem grotesken Körper einen ko- misch-grotesken Effekt.

54 Lachmann: Vorwort zu Rabelais und seine Welt, S. 35.

55 Nach eigener Aussage ist Tabori jedoch kein gläubiger Mensch. (vgl. Scholz. Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns, S. 16.)

56 Feinberg, Anat: George Tabori. München: DTV 2003. S. 138.

57 Vgl. Scholz: Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns, S. 116ff.

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gleich: Hitler tritt als Judas in Schlomos Leben, und Hitlers “schicksals- trächtige Verabredung an der Akademie der Schönen Künste” (MK 37, Hervorhebung J.Ö.) findet statt, deren Ablehnung Hitler als sein persön- liches Waterloo empfindet. Hitler-Judas reagiert seine Wut an Schlomo ab, der sich in seiner Nächstenliebe jedoch nicht irritieren lässt – “Liebe deine Feinde, wie dich selbst, sagen die Gebote” (MK 41).58 Am Sams- tagabend wäscht Schlomo Hitler die Füße; wie “die Fußwaschung der Jünger den Anfang der Passion Jesu markiert, so steht die Fußwaschung Hitlers am Anfang der Passion”59 Schlomos. Sein Leidensweg endet mit der versuchten Ermordung durch Hitler und Himmlisch,60 wobei Schlomo Märtyrertum als “attraktiv[es]” (MK 82) Schicksal sieht, denn

“wer hätte nicht gern, dass die Welt ein oder zwei Tränen vergießt, wäh- rend man am Kreuze zuckt” (MK 82). Dieses auf das Triduum Paschale referierende Bild nimmt das Schicksal der Juden im Dritten Reich durch karnevalsartige Rollenumkehr vorweg: Fast 2000 Jahre nach Beginn des christlichen Antisemitismus wird ein Jude von (christlichen) Faschisten gekreuzigt. Obwohl Schlomo sich vorläufig retten kann, ist seine Zu- kunft ungewiss: Er bleibt in jenem zeitlichen Paradigma gefangen, in dem der biblische Jesus in die Vorhölle hinabsteigt, um die Seelen der Gerächten zu erlösen, da die Auferstehung des Gekreuzigten am Oster- sonntag ausbleibt und durch die Geburt eines Diktators ersetzt wird, der in Begleitung von Frau Tod auf seine neue Aufgabe zusteuert. Der zent- rale Bruch mit Bachtins Karnevalskonzept negiert angesichts des Holo- caust die positive Erneuerung und Wiedergeburt am Ende des Karne- vals, da das christliche Postulat der Nächstenliebe seine Gültigkeit verlo- ren hat. Das Wunder der Auferstehung hält der Lebenswirklichkeit der 1930er und 1940er Jahre nicht mehr stand, denn für die Shoah gilt: “Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Jagd” (MK 82).

Die Konnotation des Triduum Paschale etabliert den Konnex zwi- schen christlichem und nationalsozialistischem Antisemitismus ebenso wie Schlomos Ermunterung, Hitler solle in die Politik gehen: Er besitze die Bereitschaft, seine “Hände in Blut und Schleim zu tauchen” (MK 60)

58 Die lapidare Relativierung, es handle sich hierbei bestimmt um eine “Fehlüberset- zung aus dem Aramäischen” (MK 42), sublimiert allerdings einen der Grundpfeiler des Christentums.

59 Scholz: Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns, S. 116.

60 Sowohl Himmlischs Name als auch seine Beschreibung, die an die Menschenversu- che der Nationalsozialisten gemahnt (MK 45), evoziert den realhistorischen Heinrich Himmler.

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und müsse nur noch seine Grammatik verbessern und das Evangelium studieren:

UND ER KAM NACH GALILÄA UND SEIN NAME VERBREI- TETE SICH IN DER FREMDE UND ER LEHRTE IM TEMPEL.

Markus verbesserte die Grammatik, indem er hinzufügte, in IHREN Tempeln, und so erfand er das Ghetto. So einfach ist das, Vergiss Schlo- mo, EINEN Juden, sprich nur von DEN Juden, und du wirst ein König sein, der über eine Decke von Gebeinen schreitet, und sie werden dir in den Schnee folgen und in die Wüste zum brennenden Tempel. (MK 60) Diese heteroglotte Passage verbindet Bibelstellen über das Wirken Jesu in Galiläa (vgl. Markus 1,16-28, bes. 1,21) mit dem christlichen Antisemi- tismus und Bildern von Konzentrationslagern und den Todesmärschen des Winters 1944/45, wodurch die Bibel als Referenztext ihrer Sakro- sanktheit beraubt und satirisch verfremdet wird. Die heteroglotte Ver- bindung zwischen Bibeltext und Holocaust erschließt sich auch über lateinisch sacer, was sowohl heilig als auch verwünscht, verflucht, unselig61 be- deutet. Giorgio Agamben entwickelt in seiner Theorie zum homo sacer62 die auf Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen dem nack- ten Leben und dem in eine Gesellschaft und ein Rechtssystem eingeglie- derten Individuum. Sich auf Foucaults Der Wille zum Wissen beziehend schreibt Agamben, das Individuum als einfacher lebender Körper werde zum Einsatz der politischen Strategie der Moderne, was den Übergang zu einem politischen Status quo ermögliche, der das Leben sowohl schützen wie auch seinen Holocaust autorisieren könne.63 Am Beispiel der Shoah zeigt Agamben die Implikationen der Existenz des Vogelfrei- en, der aller Rechte beraubt und trotzdem biologisch noch am Leben ist, dessen “menschliche[r] Körper von seinem normalen politischen Status losgelöst ist”64 und von jedem getötet werden kann, ohne dass dies als Mord verfolgt würde. Die Bibel als liber sacer verbindet laut Agambens Theorie das religiöse Erbe des christlichen Abendlandes mit dem Status der politischen Exklusion der Juden im Dritten Reich.

61 Vgl. Stowasser, Joseph M. u.a.: Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. Oldenburg: Olden- bourg Verlag 1994.

62 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frank- furt a.M.: Suhrkamp 2002.

63 Ebd., S. 13.

64 Ebd., S. 168.

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Heteroglotten Charakter erhält auch Hilsenraths Ölberg-Episode65 durch die Subtexte der Bibel und der Nürnberger Reichsparteitage: Wie auf dem Zeppelinfeld hält Hitler in Hilsenraths Roman vor seinen „Jün- gern‟ eine Rede analog zur Seligpreisung der Bergpredigt (vgl. Mat. 5,3- 12), in der Jesus den Benachteiligten das Gottesheil verspricht. In Hil- senraths Bergpredigt wird der christlichen Heilsversprechung eine andere Bedeutung eingeschrieben. Sowohl in den späteren Taten als auch in Hitlers Worten kehrt der Nationalsozialismus die Bergpredigt in ihr Ge- genteil. Die dritte und fünfte Seligsprechung preisen jene, “die keine Gewalt anwenden”, “die Barmherzigen”, “die Frieden stiften”, “denn ihnen gehört das Himmelreich” (Mat. 5,5-10). Im Gegensatz dazu preist Hilsenraths Hitler die Starken, Gewaltbereiten, die “dicken Blutes sind”, da diese “alles beherrschen [werden], was unter der Sonne ist” (NF 56), und invertiert so die Botschaft Jesu. In einem Atemzug zitiert Hitler aus der Kreuzigung bei Lukas66 und spricht über “die Verschwörung des Weltjudentums, das deutsche Ehre, deutschen Mut und deutsche Treue”

(NF 55) bedrohe. Die heteroglotte Kombination aus Heiliger Schrift und Ideologie des Nationalsozialismus raubt der Bibel ihre Sakrosanktheit und verbindet sich mit Referenzen auf den grotesken Körper: Max Schulz spürt ein heftiges Jucken in seinem “Hintern” (NF 57) und erin- nert sich durch den in Hitlers Rede metaphorisch angesprochenen Stock an das Glied seines Stiefvaters, der ihn angeblich vergewaltigt hat. Die Metapher des Stockes artikuliert erneut den karnevalesken Unterton des Romans: “Und der Führer sprach: „Verflucht sei der Stock in der Hand des falschen Meisters. So der Stock aber den Meister wechselt […], so sei er [der Meister] geheiligt.” (NF 57)

Märchentradition der Romantik

Itzing Finkelsteins Lieblingslektüre, die Grimm„schen Märchen und hier besonders Hänsel und Gretel,67 bilden den textuellen Referenzpunkt der

65 Max Schulz‟ ikonoklastische Erklärung für den Namen des Ölbergs lautet: Er “heißt so, weil dort einmal jährlich von der Speiseöl-Firma Meyer ein Schützenfest veran- staltet wird, eine raffinierte Werbekampagne für das berühmte Meyer-Speiseöl”

(NF 47). In der Bibel gilt der Ölberg als Berg der Himmelfahrt Jesu.

66 Das Zitat bricht kurz vor Jesu Bitte ab, die sowohl auf die Beteiligten an der Kreuzi- gung als auch auf die Zuseher der Reichsparteitage zutreffen könnte: “Jesus aber be- tete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun” (Lukas 23, 34).

67 Eine weitere Verbindung zur Grimm‟schen Märchentradition besteht durch Frau Holle, die in der Rahmenhandlung zur Veronja-Episode auch explizit auf Parallelen zwischen Max‟ Erzählung und dem Märchen Hänsel und Gretel verweist (NF 146).

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Veronja-Episode. Die verklärte Einführung der Kate reibt sich in ihrer an ein Tableau aus der Märchentradition erinnernden Bildhaftigkeit mit dem Grauen, das Max sowohl als Täter als auch als Opfer hinter bzw.

vor sich hat. Als er auf der Flucht vor Partisanen wie Hänsel und Gretel durch den Wald irrt, sieht er sich durch ein Haus auf einer Lichtung gerettet: Rauch “[kräuselt] über dem Strohdach, [verfängt] sich in den Baumwipfeln in der Nähe des Daches, [löst] sich bei neuen Windstößen und [stößt] himmelwärts” (NF 145). Das in der Hütte wohnende “Hut- zelweib”, das “wie eine Menschenfresserin” (NF 146) grinst, trägt meh- rere Attribute der Märchentradition: die uralte Frau mit “eisgraue[m]

Haar” (NF 155), das märchenhaft-mythische Brühen des Kräutertranks sowie ihre “Hexenkräfte” (NF 154), mit denen sie später auf Max ein- prügelt. Durch heteroglossierende Verfahren koppelt Hilsenrath diese dekontextualisierten Elemente der Märchentradition mit der Symbolik des Holocaust, z.B. in Veronjas aphrodisierendem Kräutertrank, dessen zentrale Ingredienz Knochenmehl ist. Die auf den etablierten deutschen Kulturkanon referierende Märchentradition der Romantik evoziert durch auf den Holocaust verweisende Symbole und Metaphern die Gräuel der Shoah. Dies artikuliert die Dialektik zwischen Kunst und Barbarei in einem ästhetischen Diskurs, zu dem auch Künstler wie Anselm Kiefer mit ähnlichen Techniken einen Beitrag leisteten. In der Fragmentisierung von Veronjas Gesicht und ihrem Verbrennen im Ofen vollzieht Hilsen- rath diese Synthese der geistesgeschichtlich-philosophischen Bedeutung der Romantik mit der Shoah. Das Bild stellt die zum Moralisieren legiti- mierte Märchentradition samt ihrer kulturellen Bedeutung auf den Kopf und referiert auf eine Kultur, die sowohl das Verbrennen der Hexe in Hänsel und Gretel als moralisch richtig ermisst, als auch die Verbren- nungsöfen der Konzentrationslager sanktioniert. Parallel zur Beurteilung der Grimm‟schen Hexe mit moralischen Parametern machten willkürli- che Schuldzuschreibungen Juden im Laufe der europäischen Geschichte wiederholt zum Opfer von Pogromen. Diesen Aspekt reflektiert der ebenso auf die Märchentradition referierende, im Kontext der Shoah besonders groteske Schlusssatz von Mein Kampf: “Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute” (MK 77), der in der Variation

“gleichgültig, wie viele Leichen das Ende des Märchens bevölkerten, Großmama fügte immer hinzu, Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute” (MK 56) in einer Kombination aus intertextuellen Bezügen auf Märchentradition und Holocaust seine Klimax erreicht.

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Resümee

Die Frage, ob “die kunstvolle Inszenierung des Schreckens, die ästheti- sierende Thematisierung der Vergangenheit um jeden Preis die adäquate Form für jene aufklärende Erinnerung ist, die das Unbegreifbare zu be- greifen sucht, ohne es zum bloßen Mittel moralischer Selbstgefälligkeit zu degradieren”,68 beantworten Tabori und Hilsenrath zwar nicht, setzen jedoch hier ein: Die Perspektive bzw. die zeitliche Verankerung der Tex- te unterbinden eine kunstvolle Inszenierung der Vergangenheit bzw. den Versuch, das Unbegreifbare begreifbar zu machen. Nicht eine mimeti- sche Darstellung wie Berkowitz oder Klemperer streben sie an, sondern das im Rezipienten intersubjektiv divergierende Evozieren der Gräuelta- ten des Dritten Reichs durch Verfremdung und Rekontextualisierung von Texten der abendländischen Kultur und deren Kombination mit archetypischen Höllenvorstellungen und Metaphern aus dem Holocaust- diskurs. Das karnevaleske Verdrehen der etablierten Oppositionen von oben und unten, Opfer und Täter legt Absurdität, Willkür und Un-Sinn der Shoah offen. Auf die Unmöglichkeit der Darstellbarkeit der Gräuel reagieren Tabori und Hilsenrath mit der Erkenntnis, dass “die Kunst dem Erst nicht angemessen ist, weil ihr Verfahren immer eine ästheti- sche, das heißt brutal gesprochen: erheiternde Sicht zuläßt”, weshalb “die Form ästhetischer Heiterkeit vielleicht ohnehin die einzige Möglich- keit”69 der künstlerischen Repräsentation der Shoah sei. Durch die Kar- nevalisierung scheint umgangen zu werden, was Adornos oft verkürzt wiedergegebenes Diktum anspricht: Kunst macht “gerade die entsetzli- che Wahrheit von Auschwitz, die sie ihrem humanen Anspruch nach in aller Fürchterlichkeit sichtbar machen wollte, erträglich”.70 Durch den heteroglotten Textcharakter, die Versatzstücke aus verschiedenen Dis- kursen und das Karnevalisieren der etablierten Normen überlassen es die Autoren dem Rezipienten, ein individuelles Bild der nationalsozialisti- schen Diktatur zu entwerfen. Sie geben einen zentralen Teil der Bedeu- tungskonstitution an den Rezipienten ab und umgehen so den Vorwurf des Erträglichmachens. Aufgabe der Texte sind nicht mimetische Reprä- sentation und ein Beitrag zum faktualen Geschichtsbild, sondern Ge- dächtniskultur. Die Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen hat, so Jan Assmann, “wo es um Erinnerungen geht und nicht um historische

68 Liessmann: Die Tragödie als Farce, S. 82.

69 Ebd., S. 88.

70 Ebd., S. 83.

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Forschung, gar keine Bedeutung”.71 Durch die karnevaleske Auseinan- dersetzung mit dem Dritten Reich stellen Tabori und Hilsenrath nicht das etablierte Geschichtsbild in Frage, sondern leisten einen essentiellen Beitrag zur Gedächtniskultur, deren karnevalesk-groteske Komik die Shoah nicht verharmlost, sondern sie in ihrer ganzen Absurdität erfasst.

Humoristische Repräsentationsformen ermöglichen gegenüber mimeti- schen eine aktivere Reaktion der Leser, schließlich ist es nicht “fear and sorrow we need more of, but undaunted vision. The paradox of the comic approach is that by setting things at a distance it permits us a tougher, more active response”.72 Indem mimetische Darstellungen durch

“tragedy and lamentation affirm what is”,73 steht der Rezipient still, wo- hingegen Kunstwerke mit komischen Elementen dem Rezipienten

“laughter‟s benefits [vermitteln,] without betraying our deeper convic- tions”.74

71 Assmann, Jan. Der Schleier der Isis. Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes. In:

Lettre International 50, Winter 1998. S. 50-53. Hier S. 50f. Zit. nach: Renner, Ursula:

‘Das Leid definieren’ – Spiel-Räume und Sprach-Spiele in Ilse Aichingers ‘Die größere Hoffnung’.

In: Huml, Ariane/ Rappenecker, Monika (Hg.): Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert.

Literatur- und kulturgeschichtliche Studien. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. S.

207-222. Hier S. 209.

72 Des Pres: Holocaust Laughter, S. 286. Zit. nach Viano: Life is beautiful, S. 63.

73 Ebd., S. 279. Zit. nach ebd.

74 Ebd., S. 286. Zit. nach ebd.

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