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Mindestsicherung Eine verfassungsrechtliche Analyse

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Academic year: 2022

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Mindestsicherung – Eine verfassungsrechtliche Analyse

Diplomarbeit

Zur Erlangung des akademischen Grades einer Mag.a iur.

an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Eingereicht bei ao.Univ-Prof. Dr. Lamiss Khakzadeh-Leiler von Veronika Rusch

Innsbruck, im Oktober 2019

(2)

I

NHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG ... 4

1. ALLGEMEINES ... 5

1.1. BEGRIFFLICHKEITEN ... 5

1. 1. 1. Sozialhilfe ... 5

1. 1. 2. Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) ... 5

1.2. HISTORISCHER ÜBERBLICK ÜBER DIE ENTWICKLUNG DES WOHLFAHRTSSTAATES UND DIE HERAUSBILDUNG DER MINDESTSICHERUNG... 7

2. KOMPETENZRECHTLICHE GRUNDLAGEN ... 9

2.1. ALLGEMEINES ... 9

2.2. GRUNDSATZGESETZGEBUNG GEMÄß ART 12B-VG ... 9

2.3. VEREINBARUNG NACH ART 15A B-VG ... 10

2.4. SELBSTSTÄNDIGE MINDESTSICHERUNGS- BZW SOZIALHILFEGESETZE DER LÄNDER ... 10

2.5. ERLASS DES SOZIALHILFE-GRUNDSATZGESETZES DURCH DEN BUND IM APRIL 2019... 11

3. DIE ROLLE SOZIALER GRUNDRECHTE IN ÖSTERREICH ... 12

3.1. ALLGEMEINES ZU DEN GRUNDRECHTEN ... 12

3. 1. 1. Grundrechtsbegriff ... 12

3. 1. 2. Entwicklungen seit dem StGG 1867 bis heute ... 13

3.2. SOZIALE GRUNDRECHTE IN DER ÖSTERREICHISCHEN VERFASSUNG? ... 14

3.3. SOZIALE GRUNDRECHTE IM UNIONSRECHT (INSBESONDERE SOZIALE SICHERHEIT) ... 16

3. 3. 1. Grundlagen und Entwicklungen ... 16

3. 3. 2. Art. 34 GRC ... 19

3. 3. 3. Anwendbarkeit des Kapitel IV GRC in der österreichischen Rechtsordnung ... 20

3.4. INTERNATIONALE ÜBEREINKOMMEN UND RELEVANTE RECHTSQUELLEN ... 20

3. 4. 1. Das Problem der rechtlichen Durchsetzbarkeit ... 20

3. 4. 2. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 1948 ... 21

3. 4. 3. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR) 1966 ... 21

3. 4. 4. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 1953 ... 22

3. 4. 5. Europäische Sozialcharta (ESC) ... 24

3.5. DER VFGH UND SEINE RECHTSPRECHUNG ZUM GLEICHHEITSSATZ ... 25

3. 5. 1. Rechtsgrundlagen ... 26

3. 5. 2. Abgeleiteter Vertrauensschutz ... 27

3.6. DAS ÖSTERREICHISCHE EINFACHGESETZLICH GEREGELTE SOZIALSYSTEM ... 27

4. MINDESTSICHERUNG IN ÖSTERREICH AKTUELL: RELEVANTE RECHTSQUELLEN, ASPEKTE UND RECHTSPRECHUNG ... 28

4.1. CHARAKTERISTIKA ... 28

(3)

4. 1. 1. Soziale Notlage ... 30

4. 1. 2. Mindestsicherung und Erwerbsarbeit (Aktivierungspolitik) ... 31

4. 1. 3. Problemstellen des österreichischen Wohlfahrtssystems ... 33

4.2. GRUNDSÄTZLICHE ANSPRUCHSBERECHTIGUNG ... 33

4.3. ÜBERBLICK ÜBER DAS VERFAHREN ... 34

4.4. BEMESSUNG DER LEISTUNGSHÖHE ... 35

4.5. ANSPRUCH VON UNIONSBÜRGER*INNEN ... 37

4.6. UMGANG MIT ASYLWERBER*INNEN UND SUBSIDIÄR SCHUTZBERECHTIGTEN:RELEVANTE RECHTSQUELLEN UND JÜNGSTE RECHTSPRECHUNG ... 38

4. 6. 1. Mindestsicherung vs. Grundversorgung ... 38

4. 6. 2. Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) 1951 ... 39

4. 6. 3. BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung 1973 ... 39

4. 6. 4. EuGH-Entscheidung Ayubi ... 39

4. 6. 5. VfGH-Entscheidungen E 3297/2016 und G 136/2017 - Niederösterreich ... 40

4. 6. 6. VfGH-Entscheidung V 101/2017 - Vorarlberg ... 42

4. 6. 7. VfGH-Entscheidung G 308/2018 - Burgenland ... 43

4.7. MINDESTSICHERUNGSBEZUG UND KINDER ... 43

4. 7. 1. Kinder als Grundrechtsträger ... 43

4. 7. 2. Kinderarmut ... 43

4. 7. 3. Die UN-Kinderrechtskonvention und das BVG-Kinderrechte ... 44

4. 7. 4. VfGH-Entscheidungen zur Haushaltsdeckelung ... 45

4.8. BEHINDERTE PERSONEN ALS MINDESTSICHERUNGSBEZIEHER*INNEN ... 47

4.9. GEWÄHRUNG VON SACH- STATT GELDLEISTUNGEN ... 48

4.10. ZUSAMMENSCHAU DER VFGH-ERKENNTNISSE ... 49

5. DAS SOZIALHILFE-GRUNDSATZGESETZ (IN KRAFT MIT 01.06.2019) ... 51

5.1. ALLGEMEINES ... 51

5.2. RECHTLICHE ECKPUNKTE UND DISKUSSION... 51

5. 2. 1. Festsetzung der Gewährung von Höchstsätzen und degressive Staffelung der Sozialhilfe für Haushaltsgemeinschaften ... 51

5. 2. 2. Deckelung des Sozialhilfebezugs einer Bedarfsgemeinschaft ... 52

5. 2. 3. Koppelung der Sozialhilfebezugshöhe an die Vermittelbarkeit am Arbeitsmarkt ... 53

5. 2. 4. Befristung auf zwölf Monate ... 54

5. 2. 5. Regelungen für EU-/EWR-Bürger*innen, Schweizer*innen und Drittstaatsangehörige ... 54

5. 2. 6. Sachleistungsgewährung vorrangig gegenüber Geldleistungen ... 54

5.3. GESTALTUNGSSPIELRAUM DER LÄNDER ... 55

AUSBLICK UND SCHLUSSBEMERKUNGEN ... 56

LITERATURVERZEICHNIS ... 58

(4)

E

INLEITUNG

Die Thematik der (Bedarfsorientierten) Mindestsicherung oder Sozialhilfe löst eine gesellschaftliche Kontroverse aus, wie kein anderes sozialrechtliches und/oder wohlfahrtsstaatliches Themengebiet. Obwohl die Mindestsicherungsausgaben mit 977 Millionen Euro im Jahr 2017 nur knapp einen Prozent der gesamten Sozialausgaben Österreichs ausmachten1, zeigen nicht zuletzt die heftigen politischen Diskussionen und zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen sozialer Vereine und Einrichtungen rund um das neue Sozialhilfe- Grundsatzgesetz die gesellschaftspolitische Brisanz des Systems.

In der vorliegenden Arbeit möchte ich nicht nur die Charakteristika des bestehenden Mindestsicherungssystem in Österreich darlegen. Vielmehr werde ich herausarbeiten, inwiefern auch von verfassungsrechtlicher Seite die Sicherung der individuellen Lebensbedürfnisse geschützt oder eben nicht ist. Soziale Grundrechte an sich haben verschwindend geringe bis gar keine Relevanz im österreichischen Verfassungsrecht, dennoch zeigt die jüngste Judikatur des VfGH zu einigen Mindestsicherungsgesetzen der Landesgesetzgeber sehr wohl verfassungswidrige Beschränkungen und Bestimmungen auf.

Zu Beginn der Arbeit gehe ich allgemein auf die Begriffe der Mindestsicherung/Sozialhilfe und die Entwicklung des Sozialstaatssystems in Österreich ein. Daran anschließend folgt eine kurze Darstellung der kompetenzrechtlichen Grundlagen. Im dritten Kapitel arbeite ich die sozialen Grundrechte und ihre Merkmale auf. Dabei wird das österreichische Verfassungssystem beschrieben und auch welche Rolle das Unionsrecht und internationale Vereinbarungen für das österreichische Grundrechtssystem spielen. Im vierten Kapitel beschäftigte ich mich sodann mit der aktuell geltenden Rechtslage zur Mindestsicherung, wobei ich hierfür zur Veranschaulichung die Bestimmungen des Tiroler Mindestsicherungsgesetzes vorrangig heranziehen werde. Ich werde nicht nur die generelle Anspruchsberechtigung herausarbeiten, sondern auch wie Unionsbürger*innen, Drittstaatsangehörige, Kinder und behinderte Personen im Mindestsicherungssystem untergebracht werden. Hierfür wird auch die jüngste VfGH- Rechtsprechung analysiert. Im letzten Kapitel zeige ich noch die rechtlichen Eckpunkte des 2019 beschlossenen Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes auf.

1 Vgl https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/oesterreich/987646-Daten-die-Mythen-zur- Mindestsicherung-entkraeften.html (Stand: 22.08.2019).

(5)

1. A

LLGEMEINES

1. 1. Begrifflichkeiten

Zu Beginn der Arbeit möchte ich versuchen die Begriffe der (Bedarfsorientierten) Mindestsicherung und der Sozialhilfe zu definieren und die zugrundeliegenden Ideen darzulegen.

Da die Konzepte häufig als Synonym verstanden und verwendet werden, versuche ich nachfolgend etwaige feine, aber doch vorhandene, sprachliche Abgrenzungen aufzuzeigen.

1. 1. 1. Sozialhilfe

Der deutsche Duden definiert die Sozialhilfe wie folgt:

„Gesamtheit der Hilfen, die einem Menschen in einer Notlage die materielle Grundlage für eine menschenwürdige Lebensführung geben soll“.2

Sie ist das letzte soziale Auffangnetz für Personen in einer sozialen Notlage, die die Hilfe der Gemeinschaft benötigen, um ihren Lebensbedarf zu sichern. Im Begriff der Sozialhilfe stecken nur marginale Ansätze der Hilfe zur Selbsthilfe, vielmehr entwickelte sich der Begriff historisch aus dem Almosen- und Fürsorgewesen.3

Pfeil sieht mit dem Begriff der Sozialhilfe va die Gewährung von Sachleistungen oder persönlicher Hilfe umfasst. Wobei diese Sachleistungen nicht durch den Sozialhilfeträger selbst erbracht werden, sondern durch dessen (teilweise) Kostenübernahme von Sachleistungen Dritter.

Persönliche Hilfe beschreibt soziale Dienstleistungen, wie etwa Beratung durch Sozialarbeiter*innen, mobile Pflegedienste oder Haushaltshilfen, die vom Sozialhilfeträger finanziert werden.4

Klar abzugrenzen ist die Sozialhilfe vom Bereich der Sozialversicherung. Beide Komponenten sind Teile des Sozialrechts, die Sozialhilfe ist jedoch dadurch unterschieden, dass der/die Leistungsempfänger*in vor Bezug keine Beitragsleistung erbracht hat.5

1. 1. 2. Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS)

Der Begriff der BMS findet nur im österreichisch-deutschen Sprachraum Verwendung. Er wurde mit der österreichischen Bund-Länder-Vereinbarung aus dem Jahr 2010 für die Schaffung einheitlicher Grundsätze und Zielsetzungen einer möglichst harmonisierten Grundsicherung

2 Vgl https://www.duden.de/rechtschreibung/Sozialhilfe (Stand: 24.07.2019).

3 Vgl Mayr/Pfeil, Mindestsicherung und Sozialhilfe (2012) 21 f.

4 Vgl Pfeil, Österreichisches Sozialrecht12 (2018) 159 ff.

5 Vgl Resch, Sozialrecht7 (2017) 7.

(6)

erstmals bedeutsam. Dadurch löste die BMS den zuvor in den Landesgesetzen meist verwendeten Begriff der Sozialhilfe6 weitgehend ab. Mit der Einführung der BMS wurde die Leistungshöhe von der Erwerbsarbeitsbereitschaft der Bezieher*innen abhängig gemacht und soll somit eine dauerhafte (Wieder-)Eingliederung in das Arbeitsleben möglich machen.7 Va durch diese Aktivierungsmaßnahmen wird somit vom Fürsorgegedanken weg in Richtung einer verstärkten Hilfe zur Selbsthilfe und Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und Reintegration auf dem Erwerbsarbeitsmarkt gearbeitet.8 Zusätzlich neu war die Einführung eines einheitlichen Mindestsatzes für ganz Österreich und die Organisation aller Transferleistungen über eine Stelle (Prinzip des One-Stop-Shop), dem Arbeitsmarktservice (AMS).9 Pfeil sieht in der BMS im Gegensatz zur Sozialhilfe im Regelfall die Erbringung in Form von Geldleistungen.10

Die BMS fungiert ebenso als das letzte Auffangnetz für unterstützungsbedürftige Personen, die sich in einer besonders schwerwiegenden Notlage befinden. Sie ist weiterhin neben der Pflegevorsorge Teil der Sozialen Fürsorge im System des österreichischen Sozialrechts. Die Mittel zur Auszahlung werden aus dem allgemeinen Steueraufkommen gestellt.11

Das primäre Ziel der Sozialhilfe gleichwie der BMS ist die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens durch die Gemeinschaft von denjenigen Personen, die in (soziale) Notlage geraten sind.

Dabei soll das Sozialsystem den betroffenen Menschen bestenfalls nicht nur finanziell unter die Arme greifen, sondern ihnen Perspektiven anbieten können, zukünftig wieder selbstständig in der Lage zu sein den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.12 Die sogenannte offene Sozialhilfe oder Mindestsicherung wird dabei direkt an Privathaushalte ausbezahlt. Unter stationärer oder geschlossener Sozialhilfe wird in der Literatur hingegen die Bereitstellung von Betreuungsangeboten va in Heimen oder Tageszentren verstanden bzw die monetäre Unterstützung der Bewohner*innen, falls diese für die Kosten nicht selbst aufkommen können.13

6 Anders in Tirol: Hier war von 1. März 2006 bis 31.12.2010 das Tiroler Grundsicherungsgesetz (TGSG) in Kraft (LGBl 2006/20, letzte Änderung LGBl 2010/9).

7 Dies soll va durch gezielte Fördermaßnahmen und Weiterbildungsangebote geschehen. Verbesserte Vermittlungschancen der Bezieher*innen auf dem Arbeitsmarkt sollen somit die Verweildauer in der BMS möglichst verkürzen (Vgl Materialien, 677 der Beilagen XXIV. GP - Vereinbarung Art. 15a B-VG).

8 Vgl Mayr/Pfeil, Mindestsicherung 22 und Stanzl, Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Eine

Bestandsaufnahme, in Stelzer-Orthofer/Weidenholzer (Hg), Aktivierung und Mindestsicherung. Nationale und europäische Strategien gegen Armut und Arbeitslosigkeit (2011) 201 (211 f).

9 Vgl Globisch/Madlung, Aktivierende Sozialpolitik zwischen Systemimperativ und Eigensinn: Eine Untersuchung der Effekte und Aneignungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Österreich, ÖZS 42(4) (2017) 321 (328).

10 Vgl Pfeil, Sozialrecht 159.

11 Vgl Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 6.

12 Vgl Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 269.

13 Vgl Pfeil, Sozialrecht 162 und Resch, Sozialrecht 9.

(7)

Die beiden Bezeichnungen und Konzepte gleichen sich sohin in ihrer Grundidee und unterscheiden sich nur in wenigen geringfügigen Aspekten. Persönlich empfinde ich den Begriff der Sozialhilfe historisch betrachtet im öffentlichen Diskurs als negativ konnotiert, was sich wohl in seiner Herkunft aus der Almosengewährung erklären lässt. Im Gegensatz dazu fokussiert die BMS, obwohl sie genauso als letztes Auffangnetz fungiert, die Unterstützung zur Selbsthilfe und Wiederermöglichung der sozialen Teilhabe ihrer Bezieher*innen.

Für die vorliegende Arbeit werde ich im weiteren Gebrauch den aktuell noch in den Landesgesetzen vorherrschenden Begriff der Mindestsicherung verwenden, außer es handelt sich um begrifflich abweichende Regelungen.

1. 2. Historischer Überblick über die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und die Herausbildung der Mindestsicherung

In einem knappen historischen Aufriss folgt eine kurze Zusammenschau über die Entwicklung von sozialstaatlichen Strukturen und darauffolgend die Herausbildung des Systems der Mindestsicherung in Österreich.

Der österreichische Sozialstaat, so wie wir ihn heute kennen, hat die Verfolgung und Stabilisierung von sozialem Frieden als Hauptmerkmal, das mit der starken Basis der Sozialversicherung gesichert werden soll.14 Das Sozialrecht selbst kann somit als recht junges Rechtsgebiet angesehen werden, das sich erst im Zuge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann.15

Erste Unterstützungsmaßnahmen für Menschen in Not gab es jedoch schon im Mittelalter. Diese erfolgten jedoch auf freiwilliger Basis durch Klöster im Rahmen der kirchlichen Armenpflege oder durch private Stiftungen, Gilden und Bruderschaften und unterlagen somit keiner staatlichen Organisation.16 Wachsender Reichtum ermöglichte es den Menschen zunächst für sich selbst vorzusorgen. So entstand im Laufe des europäischen Mittelalters die bürgerliche Familie als Realität und auch als angestrebtes Ideal. In einem nächsten Schritt wurde auch Fürsorge für notleidende Mitmenschen geleistet, wobei zunächst die Verwandtenunterstützung und Nachbarschaftshilfe im Vordergrund stand. Erst in einer späteren Entwicklung und einem neuen solidarischen Gemeinschaftsgefühl, tauchten erste Formen allgemeiner sozialer Unterstützung auf. Im 19. Jahrhundert wurde die öffentliche Armenversorgung mit dem Reichsgemeindegesetz

14 Vgl Hesoun, Soziale Sicherheit auf dem Prüfstand (1998) 10.

15 Vgl Pfeil, Sozialrecht 3.

16 Vgl Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht 269.

(8)

Teil des eigenständigen Wirkungsbereichs der Gemeinden und somit kommunale Verantwortung.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann dann das Prinzip der gesetzlichen Sozialversicherung als staatliche Institution an Bedeutung, va in Deutschland mit der Bismarckschen Sozialreform 1883.17 Mit dem Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 (B-VG) wurde das „Armenwesen“ als Grundsatzgesetzgebungskompetenz des Bundes verankert. Bis 1975 beschlossen die Länder eigene Landes-Sozialhilfegesetze, da der Bund ein einheitliches Fürsorgegrundsatzgesetz zwar entwarf und diskutierte, jedoch nie umsetzte. Diese Landesgesetze wurden in den 1980-er Jahren novelliert und tendenziell restriktivere Bedingungen für den Sozialhilfebezug eingeführt. Diese Maßnahmen wurden wohl auf sozialpolitische Herausforderungen zurückgeführt, die aufgrund der Pluralisierung von Familien- und Lebensformen sowie einer steigenden Alterststruktur in der Gesellschaft auftraten.18

Atzmüller sieht in der Vorherrschaft des Neoliberalismus eine Krise des Sozialstaates. Seine Dominanz habe in den meisten Ländern zu massiver sozialer Ungleichheit und Armut geführt.

Neoliberale Regierungsprojekte wenden sich klar gegen eine inklusive Gesellschaftsordnung.

Diejenigen, die auf eine solidarische Gemeinschaft angewiesen sind, werden unter den Generalverdacht des ungerechtfertigten Leistungsbezugs gestellt und die betroffenen Bevölkerungsgruppen müssen eine dementsprechende Stigmatisierung erfahren. Arbeitslosigkeit und Armut resultiere aus individuellen Defiziten und Verhaltensweisen, so Atzmüller weiter, das stelle die vorherrschende gesellschaftliche Interpretation dar.19Gamper erkennt ebenfalls zwei Schwierigkeiten in der Verwirklichung des Wohlfahrtsstaates: Aufgrund geringer verfassungsrechtlicher Vorgaben komme es immer wieder auf den politischen Willen des einfachen Gesetzgebers an, das Sozialsystem näher auszugestalten. Aufgrund von globalen Herausforderungen wie Migration und höherer Lebenserwartung erscheine die Aufrechterhaltung bestehender Sozialsysteme außerdem zusehends nicht mehr in diesem Ausmaß möglich.20 Der leistungsfähige Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn aktuell in Österreich genießen dürfen, sollte daher niemals als Selbstverständlichkeit hingenommen werden und die Weiterentwicklung von sozialer Gerechtigkeit als Priorität angesehen und gefordert werden.

17 Vgl Gehmacher, Die Evolution der sozialen Sicherheit, in Hesoun (Hg), Soziale Sicherheit auf dem Prüfstand (1998) 30 (34 ff).

18 Vgl Melinz, Vom „Almosen“ zum „Richtsatz“: Etappen österreichischer Armenfürsorge-/Sozialhilfe(politik):

1863 bis zur Gegenwart, in Dimmel/Schenk/Stelzer-Orthofer (Hg), Handbuch Armut in Österreich2 (2014) 845 (855).

19 Vgl Atzmüller, Überlegungen zur Krise der Solidarität. Thesen zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, in Stelzer-Orthofer/Weidenholzer (Hg), Aktivierung und Mindestsicherung. Nationale und europäische Strategien gegen Armut und Arbeitslosigkeit (2011) 13 (26 f).

20 Vgl Gamper, Staat und Verfassung. Einführung in die Allgemeine Staatslehre4 (2018) 56.

(9)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Österreich ein konservatives Sozialstaatsregime und bei der Gewährung von Mindestsicherung den Ansatz eines dezentralen Ermessens verfolgt.21 Wie diese Prinzipien im Bereich der Mindestsicherung verfassungsrechtlich genauer umgesetzt sind, wird in den folgenden Kapiteln erläutert. Zunächst wird im zweiten Kapitel auf die kompetenzrechtlichen Aspekte eingegangen und ihre chronologische Umsetzung.

2. K

OMPETENZRECHTLICHE

G

RUNDLAGEN

2. 1. Allgemeines

Da die österreichische Verfassung dem bundesstaatlichen Prinzip folgt, ist die Kompetenzverteilung ein Kernbestandteil ihrer Verfassungsordnung. Diese ist in den Art 10-15 B- VG geregelt. Sie legt die Aufgabenbesorgung zwischen Bund und Bundesländern fest. Es handelt sich um die Verteilung der Zuständigkeiten von Gesetzgebung und Verwaltung, im B-VG ist von

„Gesetzgebung und Vollziehung“ die Rede. Bei diesem Wortlaut ist zu beachten, dass die Gerichtsbarkeit (als Teil der Vollziehung) jedoch stets in die Zuständigkeit des Bundes fällt und somit nicht von der Kompetenzverteilung umfasst ist. Die Kompetenzhoheit selbst liegt grundsätzlich beim Bundesverfassungsgesetzgeber.22

2. 2. Grundsatzgesetzgebung gemäß Art 12 B-VG

Die Regelungen zur Mindestsicherung fallen unter einen Kompetenztatbestand des Art 12 B-VG (Abs 1 Z 1 „Armenwesen“). Dieser Typus der Kompetenzverteilung ist gekennzeichnet durch eine Ermächtigung des Bundes zur Grundsatzgesetzgebung. Den Ländern kommen die Ausführungsgesetzgebung und die Vollziehung zu. Mit der B-VG-Novelle im Jahr 201923 wurde der Kompetenztatbestand des Art 12 B-VG reduziert und die Ermächtigung zur Grundsatzgesetzgebung stellt sohin mittlerweile eine Ausnahme dar.

Grundsatzgesetze sowie Grundsatzbestimmungen in Bundesgesetzen müssen als solche ausdrücklich bezeichnet werden.24 Das Fehlen einer diesbezüglichen Bezeichnung macht eine Grundsatzbestimmung verfassungswidrig. Ein Grundsatzgesetz ist auf die Erlassung von Grund-

21 Vgl Stelzer-Orthofer, Sozialstaaten und Mindestsicherung in der Europäischen Union. Befunde der komparativen Wohlfahrtsstaatsforschung, in Dimmel/Schenk/Stelzer-Orthofer (Hg), Handbuch Armut in Österreich2 (2014) 14 (21).

22 Vgl Berka, Verfassungsrecht7 (2018) Rz 394 ff und Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht12 (2019) Rz 235 f.

23 BGBl 2019/14.

24 Art 12 Abs 2 B-VG.

(10)

sätzen zu beschränken und darf keine Einzelregelungen treffen, den Ländern muss ein gewisser Spielraum für die Ausführung gelassen werden. Für den zulässigen Grad der Bestimmtheit gibt es allerdings noch keine justiziablen Kriterien. Grundsatzgesetze ohne Ausführungsgesetze haben keine Durchgriffswirkung, dh sie sind nicht unmittelbar anwendbar. Es können also keinerlei Verwaltungsakte gesetzt werden, selbst dann nicht, wenn die Ausführungsgesetze fehler- oder lückenhaft sind.25

2. 3. Vereinbarung nach Art 15a B-VG

Durch die B-VG-Novelle 444/1974 wurde der Art 15a eingeführt. Demnach gilt gemäß Abs 1:

„Bund und Länder können untereinander Vereinbarungen über Angelegenheiten ihres jeweiligen Wirkungsbereiches schließen. (…)“

Solche Vereinbarungen binden nur die Vertragsparteien unmittelbar. Außerdem werden bestehende Gesetze und Verordnungen von Bund sowie von den Ländern nicht geändert. Die Vereinbarung kann lediglich die Vertragsparteien verpflichten Änderungen vorzunehmen. Bei Beteiligung aller neun Bundesländer und dem Bund handelt es sich um eine sogenannte universelle Bund-Länder-Vereinbarung.26

Eine solcher Staatsvertrag, nämlich die Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 15a B-VG über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung27, war im Zeitraum 1.

Dezember 2010 bis 31. Dezember 2016 in Kraft. Genaueres zu den festgelegten Inhalten und den Charakteristika der Vereinbarung folgt in Kapitel 4.

2. 4. Selbstständige Mindestsicherungs- bzw Sozialhilfegesetze der Länder

Nach den gescheiterten Verhandlungen über eine erneute oder verlängerte Bund-Länder- Vereinbarung nach Art 15a B-VG über eine bundesweite BMS befand sich mit 1. Jänner 2017, mangels der Ausübung der Grundsatzgesetzgebung durch den Bund, die alleinige Gesetzgebungskompetenz zum „Armenwesen“ wieder bei den einzelnen Bundesländern. Diese konnten in Folge wieder ohne vorgegebenen Rahmen (va Mindestsätze) zu eigenständigen Landesgesetzen greifen. Im Großen und Ganzen führten die meisten Novellierungen der landesgesetzlichen Regelungen zu Zugangsbeschränkungen und Leistungskürzungen, welche

25 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht Rz 245 und Berka, Verfassungsrecht Rz 416.

26 Vgl Institut für Föderalismus, Leitfaden Vereinbarungen gemäß Artikel 15a B-VG (2015) 7 ff.

27 BGBl 2010/96.

(11)

teilweise nach entsprechenden Beschwerden vom VfGH auf Verfassungsmäßigkeit geprüft wurden.28 In Kapitel 4 wird näher auf die relevante Rechtsprechung der letzten Jahre eingegangen.

Begrifflich ist dabei interessant, dass fast alle Bundesländer bei einem „Mindestsicherungsgesetz“

blieben (so auch das Tiroler Mindestsicherungsgesetz - TMSG29), nur das Bundesland Wien hat ein

„Sozialhilfegesetz“.

2. 5. Erlass des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes durch den Bund im April 2019

Unter dem Kabinett Kurz (vom 18. Dezember 2017 bis zum 28. Mai 2019) plante die Bundesregierung das erste Mal in der Geschichte der Republik von ihrer Grundsatzgesetzgebungskompetenz im Bereich des „Armenwesens“ Gebrauch zu machen. Mit dem Nationalratsbeschluss vom 28. April 2019 wurde dieses Vorhaben Realität und das Sozialhilfe- Grundsatzgesetz (SHGG) trat mit 1. Juni 2019 in Kraft. Die Länder haben demnach bis 31. 12.2019 Zeit, ihre bestehenden Mindestsicherungsgesetze dem SHGG anzupassen.

Da es sich beim SHGG im Bereich des „Armenwesens“ um eine Neuerlassung eines Grundsatzgesetzes handelt, hat der Bundesgesetzgeber eine Frist für die Erlassung der Ausführungsgesetze der Länder zu setzen, die zwischen sechs Monaten und einem Jahr liegen muss.30 Zu einer anderen Fristsetzung bedürfte es der Zustimmung des Bundesrates.31 Mit einer Frist von sieben Monaten liegt der Bundesgesetzgeber somit im verfassungskonformen Rahmen.

Da die Länder die Materie mangels einer Grundsatzgesetzgebung bisher frei regelten, würde eine Nichtanpassung des Landesgesetzes innerhalb der vorgegebenen Frist zur Invalidation führen. Dh, die Landesgesetze bleiben zwar bis zur Aufhebung gültig, werden aber nach Ablauf einer zuvor gesetzten Frist verfassungswidrig.32

Auf näheres zum Inhalt des SHGG gehe ich im fünften Kapitel ein. Vorher möchte ich noch die Rolle sozialer Grundrechte im österreichischen Verfassungsrecht darlegen, was im nächsten Kapitel geschieht.

28 Vgl Rihs, Die bedarfsorientierte Mindestsicherung im Lichte der rezenten VfGH-Judikatur, migraLex 2 (2018), 46 (46).

29 LGBl 2010/99.

30 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht Rz 246.

31 Art 15 Abs 6 B-VG.

32 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht Rz 246 und Berka, Verfassungsrecht Rz 415.

(12)

3. D

IE

R

OLLE

S

OZIALER

G

RUNDRECHTE IN

Ö

STERREICH

3. 1. Allgemeines zu den Grundrechten

3. 1. 1. Grundrechtsbegriff

In der österreichischen Rechtsordnung folgt man einem rechtspositivistischen Grundrechtsverständnis. Grundrechte sind nach dieser Auffassung fundamentale subjektive Rechte von Individuen, die im Verfassungsrecht verankert sind.33 Als solche normierte Rechte gelten sodann als unmittelbar anwendbar und justiziabel vor dem VfGH. Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings auch, dass nur ein vor dem VfGH einklagbares Recht als echtes Grundrecht gilt.34

Diese Rechtsschutzsystem galt bereits für die 1867 niedergeschriebenen bürgerlichen Freiheitsrechte im StGG.35 Diese liberalen Grundrechte dienen der Abwehr von staatlichen hoheitlichen Eingriffen. Jellinek bezeichnet dies als den negativen Status, oder status libertatis.

Der Einzelne habe somit einen Anspruch auf Anerkennung seines Freiheitsstatus und den Staatsbehörden sei jede Störung desselben verboten.36 Sohin war der anfängliche Zweck der Grundrechte auf den Schutz natürlicher Personen gerichtet, genauer der Einzelperson vor dem absolutistischen Herrschaftswillen. Menschen sind Grundrechtsträger*innen bis zu ihrem Tod.37 Aus diesen Abwehrrechten und mit ihnen verknüpften Unterlassungsgeboten ergeben sich auch Handlungspflichten des Staates. Reicht der Schutz vor staatlichen Eingriffen nicht aus, damit die Inanspruchnahme eines Grundrechtes auch tatsächlich möglich ist, hat der Staat im Umkehrschluss durch positive Maßnahmen die grundrechtlich garantierten Rechtsgüter zu gewährleisten und zu sichern. Diese Gewährleistungspflicht erstreckt sich auch auf die Beeinträchtigung von nicht-staatlicher Seite.38

Soziale Grundrechte sind vorrangig auf Leistungspflichten durch den Staat ausgerichtet. Dazu zählen beispielsweise das Recht auf Arbeit, Wohnung, Sozialhilfe, Altersversorgung, gerechten Lohn, Gesundheitsleistungen etc.39 In der Statuslehre von Jellinek sind sie dem positiven Status,

33 Ebenso der Ausdruck „verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte“ (Art 144 Abs 1 B-VG).

34 Vgl Öhlinger/Stelzer, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Österreichs, in Iliopoulos- Strangas (Hg), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon (2010) 497 (500 f).

35 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 (RGBl 1867/142).

36 Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte2 (1905) 105.

37 Vgl Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Österreichisches Staatsrecht. Band 3: Grundrechte3 (2019) Rz 41.063.

38 Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte3 (2019) Rz 1/33.

39 Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte Rz 1/31.

(13)

dem status civitatis oder der Staatsangehörigkeit, zuzuschreiben. Seinen rechtlichen Inhalt abschöpfend und passend für alle Staaten zu bestimmen sei unmöglich.40 Eine genaue juristische oder politische Definition sozialer Grundrechte gibt es bisher noch nicht.

Ein weiteres Abgrenzungsmerkmal sozialer Grundrechte gegenüber liberalen oder politischen Freiheitsrechten ist, dass sie stets, wenn überhaupt, unter dem Vorbehalt des finanziell Möglichen gewährt werden. Sie stehen somit unter der Einschränkung der gegenwärtigen und/oder zukünftigen Leistungsfähigkeit des Staates.41

Soziale Grundrechte stellen eine neuere Generation von Grundrechten dar, welche auf ein gezieltes Gewähren sozialer Ansprüche durch die staatliche Rechtsordnung abzielen. Sie haben den Zweck die soziale Lage der Einzelperson zu sichern. Sie orientieren sich an sozialistischen Gedankenströmungen, werden aber teilweise auch von der christlichen Soziallehre gefordert.42 Es liegt jedoch schon häufig in der Natur der Rechte selbst, dass ein Staat gar nicht als Garant für diese Rechte auftreten kann bzw auch keine Dritten verpflichten kann, diese vollständig zu gewährleisten.43 Daher sind in den meisten Staaten entweder gar keine sozialen Grundrechte im Verfassungsrang und falls doch nur unter großen Vorbehalten verankert.

Viel häufiger befinden sich Bekenntnisse zu sozialstaatlichen Standards in Staatszielbestimmungen im Verfassungsrang, die jedoch in keiner Weise justiziabel sind und dies erst dann würden, sollten Ansprüche einfachgesetzlich umgesetzt werden. Sie sollen vielmehr das Bekenntnis des Staates zu hohen sozialen Standards ausdrücken, ohne individuelle Ansprüche zu verleihen.44

3. 1. 2. Entwicklungen seit dem StGG 1867 bis heute

Nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit vom Deutschen Reich knüpfte Österreich 1945 an das B-VG von 1920 an, was somit auch zur Wiederherstellung der Grundrechte von 1867 führte. In der Folge wurde dieser Katalog jedoch vom nationalen Gesetzgeber weiterentwickelt und ergänzt.

Außerdem fand eine zunehmende Internationalisierung der Grundrechte statt. Aktuell normieren die unterschiedlichsten Rechtsquellen die Grundrechte in Österreich, das StGG 1867 bildet nur noch einen kleinen Teil.45 Hierbei ist überhaupt anzumerken, dass das österreichische

40 Vgl Jellinek, System 116 f.

41 Vgl Neubeck, Die Europäische Sozialcharta und deren Protokolle (2002) 31.

42 Vgl Adamovich/Funk/Holzinger/Frank, Staatsrecht Rz 41.073.

43 Bspw kann niemandem ein Recht auf Gesundheit oder ein Recht auf einen Arbeitsplatz garantiert werden.

Eine Gewährleistung kostenloser Krankenbehandlung hingegen wäre zwar möglich, jedoch politisch und finanziell schwer vollständig realisierbar.

44 Vgl Gamper, Staat 265 f.

45 Vgl Neschwara, Materialien zur Geschichte der österreichischen Grundrechte. 150 Jahre Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (2017) 42.

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Verfassungsrecht nicht aus einer einzigen kodifizierten Verfassungsurkunde besteht. Das B-VG stellt zwar die wichtigste Verfassungsrechtsquelle dar, macht jedoch selbst darauf aufmerksam, dass Bundesverfassungsrecht ebenso in speziellen Verfassungsgesetzen und auch in Verfassungsbestimmungen als Teil von einfachen Bundesgesetzen enthalten sein kann (Art 44 B- VG).46 Wegen dieses Umstandes bezeichnet die Lehre die österreichische Verfassung auch als zersplittert und unübersichtlich.47

Im theoretischen Verfassungsverständnis galt die österreichische Verfassung lange Zeit als

„Spielregelverfassung“, dh dass sie lediglich die Abläufe für den politischen Prozess vorgibt. In späterer Folge kam es zu einem Vorrang der teleologischen Interpretation und sohin zur Theorie einer wertorientierten Verfassungsauslegung. Die vagen Formulierungen des StGG sowie jene positivrechtlichen Ausführungen über Leitgrundsätze der Verfassung veranlassten den VfGH in den 1980er Jahren seinen Interpretationsstil in der Judikatur vom Verfassungswortlaut loszulösen und Verfassungsprinzipien in richterlicher Rechtsfortbildung weiterzuentwickeln. Die VfGH- Judikatur wurde somit von Erkenntnis zu Erkenntnis zur faktischen Rechtsquelle des Verfassungsrechts und insbesondere der Grundrechtsauslegung.48

3. 2. Soziale Grundrechte in der österreichischen Verfassung?

In seiner Rechtsprechung in den späten 70er-Jahren betonte der VfGH noch den ausschließlichen Abwehrcharakter von Grundrechten. Das StGG, welches

„als Verfassungsgesetz gilt, ist - aus der Entstehungszeit erklärlich - von der klassischen liberalen Vorstellung getragen, dem einzelnen Schutz gegenüber Akten der Staatsgewalt zu gewähren.“49 Der VfGH judizierte in seiner Grundrechtsauslegung auch stets im Lichte des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), was zunehmend ebenso zu Schutzpflichten von Gesetzgebung und Vollziehung führte und somit die österreichische Grundrechtsordnung nicht mehr nur von Abwehrrechten geprägt war.50

46 Vgl Öhlinger/Stelzer, Schutz 505 f.

47 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht Rz 8 und Berka, Verfassungsrecht Rz 76.

48 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht Rz 33.

49 VfSlg 8136/1977, Rechtssatz b).

50 Vgl Öhlinger/Stelzer, Schutz 504.

(15)

Im Gegensatz zu den liberalen Abwehrrechten sind soziale Ansprüche jedoch nicht im Katalog der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte in Österreich verankert, dh es kam bisher zu keinerlei Kodifikation von einklagbaren subjektiven Leistungsansprüchen auf Verfassungsebene.51 Der Schutz sozialer Rechte und Ansprüche aus der Existenzsicherung ist somit Sache des einfachen Gesetzgebers, wobei Österreich über einen im internationalen Vergleich hohen sozialen Standard verfügt. Ein normiertes Sozialstaatsprinzip ist jedoch in der Bundesverfassung ebenso wenig zu finden wie das Rechtsstaatsprinzip, welches jedoch aus der Gesamtschau der einzelnen relevanten Elemente und dem Aufbau der Bundesverfassung von der Lehre sehr wohl als Grundbaustein anerkannt wird und somit auch nicht ohne Volksabstimmung abgeändert werden kann (Art 44 Abs 3 B-VG).52 Pernthaler geht noch weiter und nennt das Prinzip des sozialen Rechtsstaats bzw der sozialen Ordnung als verbindliche Leitlinie des gesamten Staatshandelns. Dies argumentiert er aus einer Zusammenschau der Kompetenzartikel, einzelner Staatszielbestimmungen (auch in den Landesverfassungen), der Gesetzesvorbehalte zu den Grundrechten und des Gleichheitssatzes.53 Diese Ansicht hat in der herrschenden Verfassungsrechtslehre aber keine Anerkennung gefunden.54

In Österreich gibt es auch keine Staatszielbestimmung, die sich zum Wohlfahrtsstaat oder Leistungen der sozialen Sicherheit bekennt. Die Länder machen aber von ihrer relativen Verfassungsautonomie Gebrauch und nehmen dabei ebenfalls die Befugnis in Anspruch, Grundrechte sowie Zielbestimmungen normieren zu dürfen. Im mehreren Landesverfassungen lassen sich Bekenntnisse zum Sozialstaat, zur Sozialhilfe und/oder soziale Landesgrundrechte finden.55

Art 13 der Tiroler Landesordnung 1989 (TLO) statuiert bspw:56

„Unterstützung von Personen in einer Notlage und von Menschen mit Behinderungen

(1) Das Land Tirol hat nach Maßgabe der Landesgesetze Personen, die sich in einer Notlage befinden, zu unterstützen.

(2) Das Land Tirol hat nach Maßgabe der Landesgesetze Menschen mit Behinderungen zu unterstützen und ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu fördern.“

51 Vgl Hengstschläger/Leeb, Grundrechte Rz 1/31.

52 Vgl Öhlinger/Stelzer, Schutz 512 f.

53 Vgl Pernthaler, Raumordnung und Verfassung (3) (1990) 461 f.

54 Vgl Öhlinger/Stelzer, Schutz 513; Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht Rz 78 und Berka, Verfassungsrecht Rz 198.

55 Vgl Schäffer/Klaushofer, Zur Problematik sozialer Grundrechte, in Merten/Papier (Hg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band VII/1 Grundrechte in Österreich2 (2014) § 20 Rz 13.

56 Landesverfassungsgesetz vom 21. September 1988 über die Verfassung des Landes Tirol (LGBl 1988/61 idF LGBl 2019/71).

(16)

Der Landesverfassungsgesetzgeber sieht in dieser Bestimmung normierte soziale Landesgrundrechte. Im Sinne einer Institutsgarantie beauftragt Art 13 TLO den Landesgesetzgeber, sowohl eine soziale Absicherung für hilfsbedürftige Personen als auch die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen zu gewähren. Über welches Ausmaß und in welcher Form diese Unterstützungen sicherzustellen sind, trifft Art 13 TLO keine Aussage.57 Die praktische Relevanz dieser landesverfassungsgesetzlich kodifizierten Garantien ist insofern sehr gering, da sie nur soweit reichen können wie die Kompetenzen zur Gesetzgebung und Vollziehung der Länder.58

Der Struktur nach sind auch ein Großteil der seit 2011 im Verfassungsrang verankerten Kinderrechte soziale Grundrechte.59 Genaueres zum BVG-Kinderrechte folgt im Kapitel 4.7.3.

3. 3. Soziale Grundrechte im Unionsrecht (insbesondere soziale Sicherheit)

3. 3. 1. Grundlagen und Entwicklungen

Mit dem Beitritt zur Europäischen Union (EU) mit 1. Jänner 1995 verpflichtete sich Österreich als Mitgliedstaat die gesamten, auch jene vor dem österreichischen Beitritt erlassenen, Unionsrechtsakte verbindlich in den nationalen Rechtsbestand zu übernehmen.60 Dazu gehört auch das Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts, welches selbst gegenüber staatlichem Verfassungsrecht gilt, was von den österreichischen Gerichten und auch vom VfGH allgemein anerkannt wird.61

Das Unionsrecht ist weiters eine autonome Rechtsquelle im Bestand der nationalen Rechtsordnung, was auf den ersten Blick eine Einbruchsstelle in den Grundrechtsschutz darstellt.

Dem VfGH ist es nämlich verwehrt unionsrechtliche Bestimmungen an Standards des innerstaatlichen Rechtsschutzes zu messen, da über die Gültigkeit unionsrechtlicher Rechtsakte nur der EuGH zu entscheiden befugt ist. 62

Somit ist der Grundrechtsschutz zu einem großen Teil nicht mehr nur von dem in Österreich innerstaatlich geltenden Recht abhängig und muss immer auch im Lichte des Unionsrechtes wahrgenommen werden.63

57 Vgl ErläutRV, Landtagsmaterialien 235/11, 7.

58 Vgl Öhlinger/Stelzer, Schutz 507 f.

59 Vgl Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht Rz 701.

60 Sogenannte unmittelbare Geltung des Unionsrechts, Vgl Schroeder, Grundkurs Europarecht5 (2017) § 5 Rz 10.

61 Vgl Schroeder, Grundkurs § 5 Rz 16.

62 Vgl Berka, Verfassungsrecht Rz 1181.

63 Vgl Öhlinger/Stelzer, Schutz 508.

(17)

Zu Gründungszeiten der Europäischen Gemeinschaft gab es keinen kodifizierten Grundrechtekatalog. Nur im Primärrecht fanden sich einige wenige Gleichheitsverbürgungen, wie die Lohngleichheit beider Geschlechter (Art 157 AEUV), das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) und aus sonstigen Gründen (Art 10 AEUV). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) erkannte jedoch auch ungeschriebene Grundrechte des Unionsrechtes als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechtes in ständiger Rechtsprechung an. Den Inhalt dieser ungeschriebenen Grundrechte leitet der EuGH ab aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie aus völkerrechtlichen Verträgen, welchen die Mitgliedstaaten beigetreten sind. Va der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), kommt dabei große Bedeutung zu. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das Fehlen eines ausdrücklich vorliegenden Grundrechtskatalogs behoben und die Europäische Grundrechtecharta (GRC) explizit in Art 6 Abs 1 EUV als Primärrechtsbestandteil in Geltung gesetzt.64 Die Charta soll die bestehenden ungeschriebenen Grundrechte nur bestätigen:

„Diese Charta bekräftigt unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Gemeinschaft und der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus dem Vertrag über die Europäische Union und den Gemeinschaftsverträgen, aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Gemeinschaft und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“65

Die EMRK ist im Unionsrecht nicht unmittelbar in Geltung, obwohl alle Mitgliedstaaten der EU auch Vertragsstaaten der EMRK sind. Durch das 14. Zusatzprotokoll der EMRK wurde ihr Beitritt vom Erfordernis der Mitgliedschaft im Europarat gelöst. Durch Art 59 Abs 2 EMRK wird sogar explizit der Beitritt der EU zugelassen. Auch in Art 6 Abs 2 EUV wurde nicht nur die entsprechende Kompetenzgrundlage für einen EMRK-Beitritt geschaffen, sondern sogar die Verpflichtung dazu.

Ein möglicher Beitritt wurde auch bereits verhandelt und Beitrittsabkommen entworfen.66 Der EuGH sprach sich 2013 jedoch in einem Gutachten67 dagegen aus. Der Gerichtshof sieht va das durch die Verträge geschaffene Gerichtssystem, insbesondere das Vorabentscheidungsverfahren,

64 Vgl Berka, Verfassungsrecht Rz 1183 f.

65 Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000/C 364/01).

66 Vgl Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention6 (2016) § 4 Rz 14 f und Schroeder, Grundkurs § 15 Rz 6.

67 EuGH, Gutachten 2/13, EMRK II, EU:C:2014:2454.

(18)

das der einheitlichen Auslegung des Unionsrecht und seiner effektiven Geltung und Autonomie diene, gefährdet.

Der Inhalt der Unionsgrundrechte ergibt sich somit direkt aus der GRC und der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, welcher hierbei sowohl die EMRK als auch die Judikatur des EGMR als Auslegungshilfe beachtet.

Die erste Verpflichtete der Unionsgrundrechte ist dabei selbstverständlich die EU selbst, was nicht zuletzt direkt in den Verträgen umfassend festgeschrieben ist.68

Dabei verschreibt sich die GRC einem doppelten Günstigkeitsprinzip. Gemäß Art 52 Abs 3 GRC wird die EMRK als Mindeststandard für die Unionsgrundrechte festgelegt. Die GRC darf aber sehr wohl ihren unabhängigen Schutzbereich gegenüber der EMRK überschreiten. Außerdem normiert Art 53 GRC, dass keine Bestimmung der Charta als menschenrechtliche Einschränkung auszulegen ist, die im jeweiligen Anwendungsbereich auch durch völkerrechtliche Abkommen und die Verfassungen der Mitgliedstaaten geschützt ist.69

Eine Grundrechtsverpflichtung der Union aus den Grundrechtskatalogen der Mitgliedstaaten besteht freilich nicht, da dies die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährden würde.

Umgekehrt verpflichtet die GRC jedoch sämtliche Verwaltungsorgane, die Unionsrecht vollziehen.70 Somit sieht der EuGH in seiner Rechtsprechung auch die Mitgliedstaaten in der Verpflichtung Unionsgrundrechte einzuhalten, wenn sie das Unionsrecht gegenüber den Unionsbürger*innen durchführen. Dies bezeichnet die Literatur als agency situation. Der EuGH sieht dabei nicht nur die Anwendung von Verordnungen als Durchführung von Unionsrecht, sondern ebenso die Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Richtlinien in das innerstaatliche Recht. Genauso unterliegt das nationale Verwaltungsverfahrensrecht den Unionsgrundrechten, insofern es sich auf einen unionalen Sachverhalt bezieht. 71

Da Österreich die EMRK72 als Staatsvertrag in den Verfassungsrang des innerstaatlichen Rechts transformiert hat und diese zudem den Mindeststandard der Unionsrechte darstellt, kann es zu keiner Grundrechtekonkurrenz zwischen der GRC und dem österreichischen Recht kommen.73 Der

68 Art 6 Abs 1 EUV iVm Art 51 Abs 1 S 1 GRC.

69 Vgl Frenz, Handbuch Europarecht. Band 4 Europäische Grundrechte (2009) Rz 72.

70 Art 51 Abs 1 S 1 GRC.

71 Vgl Schorkopf, Grundrechtsverpflichtete, in Grabenwarter (Hg), Europäischer Grundrechtsschutz (2014) § 3 Rz 19.

72 Siehe näheres zur EMRK Kapitel 3.4.4.

73 Vgl Schroeder, Grundkurs § 15 Rz 9.

(19)

VfGH hat zusätzlich ausgesprochen, dass die GRC in Österreich verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte gemäß Art 144 und 144a B-VG enthält und daher als Kontrollmaßstab für die Verfassungskonformität österreichischer Rechtsnormen gilt.74

3. 3. 2. Art. 34 GRC

Generell finden sich die sozialen Grundrechte im Titel IV der GRC Solidarität. Dies bedeutet, dass solidarische Erwägungen im Einzelfall den individuellen Interessen vorrangig sind. Es handelt sich einerseits um Grundrechte, also subjektiv öffentliche Rechte, die Einzelpersonen ermächtigen sich gegen ein Verhalten oder Unterlassen eines Hoheitsträgers zur Wehr zu setzen. Andererseits sind großteils Grundsätze im 4. Kapitel niedergeschrieben, welche durch Rechtsakte der Mitgliedstaaten umgesetzt werden können, jedoch keine justiziablen Rechte für Individuen verbürgen.75 Den Grundsätzen wird durch Art 52 Abs 5 GRC eine eigenständige, gegenüber den Rechten und Freiheiten reduzierte Wirkungsweise zugeschrieben. Sie können durch Gesetzgebungsakte und Ausführungsakte der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sowie durch Akte der Mitgliedstaaten, insofern sie Unionsrecht durchführen, in ihrem jeweiligen Kompetenzbereich umgesetzt werden. Bei Gericht werden sie jedoch nur bei der Auslegung dieser Akte und bei deren Rechtmäßigkeitsentscheidungen herangezogen.76 Dabei ist es nicht notwendig, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten die Grundsätze optimal verwirklichen, da ihnen ein Gestaltungsspielraum gewährt wird und die Grundsätze ohnedies nicht auf vollständige Verwirklichung angelegt sind. Es geht vielmehr um eine „fortlaufende Optimierung“. Die Funktionsweise der Grundsätze ist somit indirekt.77

„Artikel 34

Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung

(1) Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten, die in Fällen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit oder im Alter sowie bei Verlust des Arbeitsplatzes78 Schutz gewährleisten, nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.

74 VfSlg 19632/2012.

75 Vgl Bungenberg, Soziale Rechte, in Grabenwarter (Hg), Europäischer Grundrechteschutz (2014) § 17 Rz 1 f.

76 Vgl Cremer, Funktionen der Grundrechte, in Grabenwarter (Hg), Europäischer Grundrechteschutz (2014) § 1 Rz 46 f und Schroeder, Grundkurs § 15 Rz 24.

77 Vgl Frenz, Handbuch Rz 677.

78 Es handelt sich dabei um eine beispielhafte Aufzählung von Risiken, nicht um eine vollständig abschließende (Vgl Frenz, Handbuch Rz 4119).

(20)

(2) Jede Person, die in der Union ihren rechtmäßigen Wohnsitz hat und ihren Aufenthalt rechtmäßig wechselt, hat Anspruch auf die Leistungen der sozialen Sicherheit und die sozialen Vergünstigungen nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.

(3) Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.“79

Hinsichtlich des Adressatenkreises muss beachtet werden, dass sich die Art 34 Abs 1 und 3 GRC alleine an die Union richten, wobei eine gerichtliche Geltendmachung grundsätzlich nicht möglich ist. Außerdem lässt Art 34 GRC einen weiten Gestaltungsspielraum offen.80 Die Sozialpolitik ist eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten und insofern durch die nationalen Verfassungen einer grundrechtlichen Kontrolle zu unterlegen. Der Art 34 GRC ist somit nur für den sehr eingeschränkten Zuständigkeitsbereich der EU relevant.81

3. 3. 3. Anwendbarkeit des Kapitel IV GRC in der österreichischen Rechtsordnung

Der VfGH hat 2012 nur solche von der EU gewährten Grundrechte als vor ihm einklagbare Rechte anerkannt,

„wenn die betreffende Garantie der Grundrechte-Charta in ihrer Formulierung und Bestimmtheit verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten der österreichischen Bundesverfassung gleicht.“82 Das trifft auf die in Titel IV verbürgten sozialen Rechte wohl nicht zu, da sie Grundsätze gemäß Art 52 Abs 5 GRC verbürgen und sohin nicht durchsetzbaren Staatszielbestimmungen gleichen.

3. 4. Internationale Übereinkommen und relevante Rechtsquellen

3. 4. 1. Das Problem der rechtlichen Durchsetzbarkeit

Im Gegensatz zu den klassischen Abwehrrechten, zu denen hauptsächlich die Menschenrechte erster Generation (liberale Freiheitsrechte) zählen, sind Menschenrechte zweiter Generation (wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte) nicht in völkergewohnheitsrechtlicher Geltung, sondern stattdessen in einigen Verträgen abgesichert.83 Staaten verpflichten sich, gewisse soziale

79 ABl C 326, 26.10.2012.

80 Vgl Frenz, Handbuch Rz 4119.

81 Vgl Winner, Die Europäische Grundrechtecharta und ihre soziale Dimension (2004) 177.

82 VfSlg 19632/2012.

83 Vgl Herdegen, Völkerrecht17 (2018) § 4 Rz 15.

(21)

Mindeststandards durch Unterzeichnung internationaler Erklärungen und Pakte einzuhalten, jedoch kommt dem Individuum kein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf Einhaltung solcher Verträge und konkreter Leistungsgewährung zu.

Trotz der geringen rechtlichen Bedeutung möchte ich im Folgenden auf einige relevante internationale Übereinkommen zum Bekenntnis zur Gewährung sozialer Mindeststandards hinweisen, die Österreich unterschrieben bzw ratifiziert hat.

3. 4. 2. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 1948

„Artikel 22 - Recht auf soziale Sicherheit

Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.“84

Die gesamte AEMR ist trotz ihrem Bekenntnis zu grundlegenden Menschenrechten als unverbindlich politische Erklärung zu verstehen und verbürgt sohin keinerlei individuelle Rechte.85 Es handelt sich um sogenanntes völkerrechtliches soft law. Es hat zwar eine politische Dimension, das Brechen von international anerkannten und ratifizierten Menschenrechten wirft ein schlechtes politisches Licht auf einen Staat, rechtliche Konsequenzen drohen jedoch nicht.86

3. 4. 3. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPWSKR) 1966

„Artikel 9

Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht eines jeden auf soziale Sicherheit; dieses schließt die Sozialversicherung ein.“

„Artikel 11

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und

84 UN-Generalversammlung, 1948.

85 Vgl Grüner, Der verfassungsrechtliche Anspruch auf Gewährleistung des Existenzminimums, JRP 17 (2009), 97 (100).

86 Vgl Krajewski, Völkerrecht (2017) § 4 Rz 164.

(22)

Unterbringung sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und anerkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit. (…)“87

Die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte haben auf Völkerrechtsebene ihren Entstehungshintergrund nach dem Zweiten Weltkrieg in der Konfrontation von liberalrechtsstaatlichen Systemen und der (sozialen) Marktwirtschaft mit kommunistischen Staatsstrukturen und einer Planwirtschaft.88 Der IPWSKR strebt die Sicherung angemessener materieller Bedingungen für die Existenzsicherung von Einzelpersonen an. Die Mitgliedstaaten müssen über die Verwirklichung der gewährleisteten Rechte jährlich einen Bericht beim Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen vorlegen. 89 Der Ausschuss konkretisiert die normierten Rechte außerdem in seinen General Comments.90

3. 4. 4. Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 1953

Die EMRK stellt wohl einen der wichtigsten - obwohl regionalen - internationalen Vertrag über Grundrechte dar. Über die Einhaltung der normierten Rechte wacht der EGMR mit seinem Sitz in Straßburg. Sie wurde im Rahmen des Europarats erarbeitet, trat 1953 allgemein in Kraft und laufend wurde von allen 47 Mitgliedstaaten unterzeichnet und ratifiziert.91 Der EGMR beachtet bei seiner Judikatur die aktuellen wirtschaftlichen Bedingungen und sozialen Werte, da er die EMRK als living instrument ansieht.92 Das bedeutet, dass die Konventionsbestimmungen im „Lichte der heutigen Verhältnisse auszulegen“93 sind.

Im Gegensatz zum Unionsrecht enthält die EMRK keine Vorgaben über ihre Stellung, Wirkungsweise und ihren Rang im innerstaatlichen Recht. Das Verhältnis zum nationalen Verfassungsrecht ist daher von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschieden. In Österreich steht die EMRK seit 1964 im Verfassungsrang.94 Somit können alle durch die EMRK garantierten Rechte gleich wie genuin nationale Grundrechte vor dem VfGH geltend gemacht werden.95

87 BGBl 1978/590.

88 Vgl Holoubek, Zur Struktur sozialer Grundrechte, in FS Theo Öhlinger (2004) 507 (510 f).

89 Vgl Herdegen, Völkerrecht § 48 Rz 6 f.

90 Siehe bspw CESCR General Comment No. 19, The Right to Social Security.

91 1958 von Österreich (BGBl 1958/210).

92 Vgl Frenz, Handbuch Rz 58.

93 „In the light of present-day conditions“ (EGMR E 25.04.1978, Tyrer gegen Vereinigtes Königreich, Nr 5856/72, Z 31).

94 BGBl 1964/59, Art II Z 7.

95 Vgl Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention § 3 Rz 2.

(23)

Die EMRK verbürgt keinerlei explizite soziale Menschenrechte. Vereinzelt wird versucht aus den Art 2 (Recht auf Leben), 3 (Folterverbot und Verbot menschenunwürdiger Behandlung) und Art 1 1. Zusatzprotokoll zur EMRK (Recht auf Eigentum) ein Recht auf soziale Sicherheit abzuleiten.96 Diese Argumentationen bilden jedoch allesamt eine geringe Mindermeinung ab und haben keinerlei Halt in der herrschenden Lehre und Literatur.

Eine beabsichtigte Verpflichtung aus dem Recht auf Leben (Art 2 EMRK) zur Absicherung sozialer Rechte kann weder aus der Entstehung der Konvention insgesamt noch aus der Historie zu Art 2 EMRK entnommen werden.97

Art 3 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten nicht, allen Menschen in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet eine Wohngelegenheit zur Verfügung zu stellen. Ebenso wenig muss Flüchtlingen finanzielle Unterstützung geleistet werden oder ihnen ein gewisser Lebensstandard ermöglicht werden. Anderes gilt nur, wenn bestehendes positives Recht einen Vertragsstaat zu solchen Leistungen verpflichtet. Nur dann und bei Überschreiten der geforderten Schwelle an Schwere, kann eine Situation extremer Armut durch Verschulden des Staates möglicherweise in den Anwendungsbereich des Art 3 EMRK fallen.98 Außerdem besteht eine Verletzung des Art 3 EMRK, wenn obdachlose Asylsuchende keinerlei Zugang zu sanitären Einrichtungen oder sozialer Unterstützung haben und überdies auch keine Perspektive besteht, dass die betroffenen Personen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können.99

Das Recht auf Eigentum gemäß Art 1 1. Zusatzprotoll zur EMRK wurde vom EGMR bereits in einer Reihe von Fällen und Fragen zu sozialer Sicherheit zur Abwägung herangezogen. Jedoch stellte er in sehr wenigen Fällen eine Grundrechtsverletzung fest. In der Rechtssache Solodyuk100 befand er hingegen, dass die Hauptrolle des Schutzes aus dem Recht auf Eigentum in Relation zu Themen der sozialen Sicherheit darin liegt, gegen extreme Formen des Wertverlustes von Eigentumsrechten vorzubeugen. In den meisten Rechtsfragestellungen der sozialen Sicherheit befasst sich der EGMR jedoch zu Diskriminierungsfragen101 beim Zugang zu Sozialleistungen.102 Bemerkenswert ist die Entscheidung Gaygusuz103 des EGMR aus dem Jahr 1996, in der zum ersten Mal ein möglicher Zusammenhang zwischen sozialer Sicherheit und dem Schutz des Eigentums

96 Vgl Grüner, Anspruch 104 und Öhlinger/Stelzer, Schutz 504.

97 Vgl Grabenwarter/Pabel, Menschenrechtskonvention § 20 Rz 23.

98 Vgl Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz3 (2016) Rz 200.

99 Vgl Lehnert, Artikel 3 Verbot der Folter, in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hg), EMRK Handkommentar4 (2017) Rz 81.

100 EGMR E 12.07.2005, Solodyuk gegen Russland, Nr 67099/01.

101 Nach Art 14 EMRK - Verbot der Benachteiligung.

102 Vgl Cousins, The European Convention on Human Rights and Social Securtiy Law (2008) 45.

103 EGMR E 16.09.1996, Gaygusuz gegen Österreich, Nr 17371/90.

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