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1. 1. Begrifflichkeiten

Zu Beginn der Arbeit möchte ich versuchen die Begriffe der (Bedarfsorientierten) Mindestsicherung und der Sozialhilfe zu definieren und die zugrundeliegenden Ideen darzulegen.

Da die Konzepte häufig als Synonym verstanden und verwendet werden, versuche ich nachfolgend etwaige feine, aber doch vorhandene, sprachliche Abgrenzungen aufzuzeigen.

1. 1. 1. Sozialhilfe

Der deutsche Duden definiert die Sozialhilfe wie folgt:

„Gesamtheit der Hilfen, die einem Menschen in einer Notlage die materielle Grundlage für eine menschenwürdige Lebensführung geben soll“.2

Sie ist das letzte soziale Auffangnetz für Personen in einer sozialen Notlage, die die Hilfe der Gemeinschaft benötigen, um ihren Lebensbedarf zu sichern. Im Begriff der Sozialhilfe stecken nur marginale Ansätze der Hilfe zur Selbsthilfe, vielmehr entwickelte sich der Begriff historisch aus dem Almosen- und Fürsorgewesen.3

Pfeil sieht mit dem Begriff der Sozialhilfe va die Gewährung von Sachleistungen oder persönlicher Hilfe umfasst. Wobei diese Sachleistungen nicht durch den Sozialhilfeträger selbst erbracht werden, sondern durch dessen (teilweise) Kostenübernahme von Sachleistungen Dritter.

Persönliche Hilfe beschreibt soziale Dienstleistungen, wie etwa Beratung durch Sozialarbeiter*innen, mobile Pflegedienste oder Haushaltshilfen, die vom Sozialhilfeträger finanziert werden.4

Klar abzugrenzen ist die Sozialhilfe vom Bereich der Sozialversicherung. Beide Komponenten sind Teile des Sozialrechts, die Sozialhilfe ist jedoch dadurch unterschieden, dass der/die Leistungsempfänger*in vor Bezug keine Beitragsleistung erbracht hat.5

1. 1. 2. Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS)

Der Begriff der BMS findet nur im österreichisch-deutschen Sprachraum Verwendung. Er wurde mit der österreichischen Bund-Länder-Vereinbarung aus dem Jahr 2010 für die Schaffung einheitlicher Grundsätze und Zielsetzungen einer möglichst harmonisierten Grundsicherung

2 Vgl https://www.duden.de/rechtschreibung/Sozialhilfe (Stand: 24.07.2019).

3 Vgl Mayr/Pfeil, Mindestsicherung und Sozialhilfe (2012) 21 f.

4 Vgl Pfeil, Österreichisches Sozialrecht12 (2018) 159 ff.

5 Vgl Resch, Sozialrecht7 (2017) 7.

erstmals bedeutsam. Dadurch löste die BMS den zuvor in den Landesgesetzen meist verwendeten Begriff der Sozialhilfe6 weitgehend ab. Mit der Einführung der BMS wurde die Leistungshöhe von der Erwerbsarbeitsbereitschaft der Bezieher*innen abhängig gemacht und soll somit eine dauerhafte (Wieder-)Eingliederung in das Arbeitsleben möglich machen.7 Va durch diese Aktivierungsmaßnahmen wird somit vom Fürsorgegedanken weg in Richtung einer verstärkten Hilfe zur Selbsthilfe und Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe und Reintegration auf dem Erwerbsarbeitsmarkt gearbeitet.8 Zusätzlich neu war die Einführung eines einheitlichen Mindestsatzes für ganz Österreich und die Organisation aller Transferleistungen über eine Stelle (Prinzip des One-Stop-Shop), dem Arbeitsmarktservice (AMS).9 Pfeil sieht in der BMS im Gegensatz zur Sozialhilfe im Regelfall die Erbringung in Form von Geldleistungen.10

Die BMS fungiert ebenso als das letzte Auffangnetz für unterstützungsbedürftige Personen, die sich in einer besonders schwerwiegenden Notlage befinden. Sie ist weiterhin neben der Pflegevorsorge Teil der Sozialen Fürsorge im System des österreichischen Sozialrechts. Die Mittel zur Auszahlung werden aus dem allgemeinen Steueraufkommen gestellt.11

Das primäre Ziel der Sozialhilfe gleichwie der BMS ist die Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens durch die Gemeinschaft von denjenigen Personen, die in (soziale) Notlage geraten sind.

Dabei soll das Sozialsystem den betroffenen Menschen bestenfalls nicht nur finanziell unter die Arme greifen, sondern ihnen Perspektiven anbieten können, zukünftig wieder selbstständig in der Lage zu sein den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.12 Die sogenannte offene Sozialhilfe oder Mindestsicherung wird dabei direkt an Privathaushalte ausbezahlt. Unter stationärer oder geschlossener Sozialhilfe wird in der Literatur hingegen die Bereitstellung von Betreuungsangeboten va in Heimen oder Tageszentren verstanden bzw die monetäre Unterstützung der Bewohner*innen, falls diese für die Kosten nicht selbst aufkommen können.13

6 Anders in Tirol: Hier war von 1. März 2006 bis 31.12.2010 das Tiroler Grundsicherungsgesetz (TGSG) in Kraft (LGBl 2006/20, letzte Änderung LGBl 2010/9).

7 Dies soll va durch gezielte Fördermaßnahmen und Weiterbildungsangebote geschehen. Verbesserte Vermittlungschancen der Bezieher*innen auf dem Arbeitsmarkt sollen somit die Verweildauer in der BMS möglichst verkürzen (Vgl Materialien, 677 der Beilagen XXIV. GP - Vereinbarung Art. 15a B-VG).

8 Vgl Mayr/Pfeil, Mindestsicherung 22 und Stanzl, Bedarfsorientierte Mindestsicherung. Eine

Bestandsaufnahme, in Stelzer-Orthofer/Weidenholzer (Hg), Aktivierung und Mindestsicherung. Nationale und europäische Strategien gegen Armut und Arbeitslosigkeit (2011) 201 (211 f).

9 Vgl Globisch/Madlung, Aktivierende Sozialpolitik zwischen Systemimperativ und Eigensinn: Eine Untersuchung der Effekte und Aneignungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Österreich, ÖZS 42(4) (2017) 321 (328).

10 Vgl Pfeil, Sozialrecht 159.

11 Vgl Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 6.

12 Vgl Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht Basics4 (2017) 269.

13 Vgl Pfeil, Sozialrecht 162 und Resch, Sozialrecht 9.

Die beiden Bezeichnungen und Konzepte gleichen sich sohin in ihrer Grundidee und unterscheiden sich nur in wenigen geringfügigen Aspekten. Persönlich empfinde ich den Begriff der Sozialhilfe historisch betrachtet im öffentlichen Diskurs als negativ konnotiert, was sich wohl in seiner Herkunft aus der Almosengewährung erklären lässt. Im Gegensatz dazu fokussiert die BMS, obwohl sie genauso als letztes Auffangnetz fungiert, die Unterstützung zur Selbsthilfe und Wiederermöglichung der sozialen Teilhabe ihrer Bezieher*innen.

Für die vorliegende Arbeit werde ich im weiteren Gebrauch den aktuell noch in den Landesgesetzen vorherrschenden Begriff der Mindestsicherung verwenden, außer es handelt sich um begrifflich abweichende Regelungen.

1. 2. Historischer Überblick über die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und die Herausbildung der Mindestsicherung

In einem knappen historischen Aufriss folgt eine kurze Zusammenschau über die Entwicklung von sozialstaatlichen Strukturen und darauffolgend die Herausbildung des Systems der Mindestsicherung in Österreich.

Der österreichische Sozialstaat, so wie wir ihn heute kennen, hat die Verfolgung und Stabilisierung von sozialem Frieden als Hauptmerkmal, das mit der starken Basis der Sozialversicherung gesichert werden soll.14 Das Sozialrecht selbst kann somit als recht junges Rechtsgebiet angesehen werden, das sich erst im Zuge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann.15

Erste Unterstützungsmaßnahmen für Menschen in Not gab es jedoch schon im Mittelalter. Diese erfolgten jedoch auf freiwilliger Basis durch Klöster im Rahmen der kirchlichen Armenpflege oder durch private Stiftungen, Gilden und Bruderschaften und unterlagen somit keiner staatlichen Organisation.16 Wachsender Reichtum ermöglichte es den Menschen zunächst für sich selbst vorzusorgen. So entstand im Laufe des europäischen Mittelalters die bürgerliche Familie als Realität und auch als angestrebtes Ideal. In einem nächsten Schritt wurde auch Fürsorge für notleidende Mitmenschen geleistet, wobei zunächst die Verwandtenunterstützung und Nachbarschaftshilfe im Vordergrund stand. Erst in einer späteren Entwicklung und einem neuen solidarischen Gemeinschaftsgefühl, tauchten erste Formen allgemeiner sozialer Unterstützung auf. Im 19. Jahrhundert wurde die öffentliche Armenversorgung mit dem Reichsgemeindegesetz

14 Vgl Hesoun, Soziale Sicherheit auf dem Prüfstand (1998) 10.

15 Vgl Pfeil, Sozialrecht 3.

16 Vgl Burger/Mair/Wachter, Sozialrecht 269.

Teil des eigenständigen Wirkungsbereichs der Gemeinden und somit kommunale Verantwortung.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann dann das Prinzip der gesetzlichen Sozialversicherung als staatliche Institution an Bedeutung, va in Deutschland mit der Bismarckschen Sozialreform 1883.17 Mit dem Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 (B-VG) wurde das „Armenwesen“ als Grundsatzgesetzgebungskompetenz des Bundes verankert. Bis 1975 beschlossen die Länder eigene Landes-Sozialhilfegesetze, da der Bund ein einheitliches Fürsorgegrundsatzgesetz zwar entwarf und diskutierte, jedoch nie umsetzte. Diese Landesgesetze wurden in den 1980-er Jahren novelliert und tendenziell restriktivere Bedingungen für den Sozialhilfebezug eingeführt. Diese Maßnahmen wurden wohl auf sozialpolitische Herausforderungen zurückgeführt, die aufgrund der Pluralisierung von Familien- und Lebensformen sowie einer steigenden Alterststruktur in der Gesellschaft auftraten.18

Atzmüller sieht in der Vorherrschaft des Neoliberalismus eine Krise des Sozialstaates. Seine Dominanz habe in den meisten Ländern zu massiver sozialer Ungleichheit und Armut geführt.

Neoliberale Regierungsprojekte wenden sich klar gegen eine inklusive Gesellschaftsordnung.

Diejenigen, die auf eine solidarische Gemeinschaft angewiesen sind, werden unter den Generalverdacht des ungerechtfertigten Leistungsbezugs gestellt und die betroffenen Bevölkerungsgruppen müssen eine dementsprechende Stigmatisierung erfahren. Arbeitslosigkeit und Armut resultiere aus individuellen Defiziten und Verhaltensweisen, so Atzmüller weiter, das stelle die vorherrschende gesellschaftliche Interpretation dar.19Gamper erkennt ebenfalls zwei Schwierigkeiten in der Verwirklichung des Wohlfahrtsstaates: Aufgrund geringer verfassungsrechtlicher Vorgaben komme es immer wieder auf den politischen Willen des einfachen Gesetzgebers an, das Sozialsystem näher auszugestalten. Aufgrund von globalen Herausforderungen wie Migration und höherer Lebenserwartung erscheine die Aufrechterhaltung bestehender Sozialsysteme außerdem zusehends nicht mehr in diesem Ausmaß möglich.20 Der leistungsfähige Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn aktuell in Österreich genießen dürfen, sollte daher niemals als Selbstverständlichkeit hingenommen werden und die Weiterentwicklung von sozialer Gerechtigkeit als Priorität angesehen und gefordert werden.

17 Vgl Gehmacher, Die Evolution der sozialen Sicherheit, in Hesoun (Hg), Soziale Sicherheit auf dem Prüfstand (1998) 30 (34 ff).

18 Vgl Melinz, Vom „Almosen“ zum „Richtsatz“: Etappen österreichischer Armenfürsorge-/Sozialhilfe(politik):

1863 bis zur Gegenwart, in Dimmel/Schenk/Stelzer-Orthofer (Hg), Handbuch Armut in Österreich2 (2014) 845 (855).

19 Vgl Atzmüller, Überlegungen zur Krise der Solidarität. Thesen zur Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, in Stelzer-Orthofer/Weidenholzer (Hg), Aktivierung und Mindestsicherung. Nationale und europäische Strategien gegen Armut und Arbeitslosigkeit (2011) 13 (26 f).

20 Vgl Gamper, Staat und Verfassung. Einführung in die Allgemeine Staatslehre4 (2018) 56.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Österreich ein konservatives Sozialstaatsregime und bei der Gewährung von Mindestsicherung den Ansatz eines dezentralen Ermessens verfolgt.21 Wie diese Prinzipien im Bereich der Mindestsicherung verfassungsrechtlich genauer umgesetzt sind, wird in den folgenden Kapiteln erläutert. Zunächst wird im zweiten Kapitel auf die kompetenzrechtlichen Aspekte eingegangen und ihre chronologische Umsetzung.