DIE GEGENWARTSBEZOGENE ORIENTFORSCHUNG
ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND JOURNALISMUS
von Udo Steinbach, Hamburg
Wenn es m den letzten Jahren zu einer Verstärkung der Forschungstätigkeit über die vielfältigen aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten, d.h. zur Ausbildung emer
gegenwartsbezogenen Orientforschung, gekommen ist, dann ganz offensichtlich
unter dem Dmck der sich ausweitenden politischen Beziehungen zwischen der Bun¬
desrepubhk Deutschland und dem Nahen Osten, der Dimension der Entwicklung
des wirtschaftlichen Austauschs zwischen beiden Seiten und eines wachsenden In¬
formationsbedürfnisses eines breiten Publikums. Es liegt dabei völlig auf der Hand, daß die gegenwartsbezogene Orientforschung nicht nur in „Gefahr" ist, von prak¬
tischen Interessen - in einem sehr weiten Sinn des Wortes - bestimmt zu werden,
sondern den Kontakt mit diesen Interessen im einen oder anderen Fall suchen muß,
gewissermaßen als ihre ,/aison d'etre".
Die gegenwartsbezogene Orientforschung befmdet sich damit von Entstehung,
Aufgabenstellung und Methode her zwischen den Anforderungen an wissenschaft¬
liches Arbeiten auf der einen und dem Informationsanspmch der Praxis auf der an¬
deren Seite. Dazu hat sie sich freilich zunächst von der klassischen Orientalistik
abzugrenzen, zu der sie noch weithin — insbesondere von den Orientalisten selbst —
gerechnet whd. Inhaltlich inter- bzw. transdisziplinär mit starkem Gewicht auf den Wirtschafts- und Sozial Wissenschaften in einem weiten Sinne, hat sie darüber hinaus Eigenheiten, die aus dem aktuellen Bezug ihrer Arbeiten resultieren:
Der Begriff der Quelle ist in seiner weitesten Anwendung zu gebrauchen.
Zwischen Zeitung, Staatsanzeiger, statistischem Jahrbuch, Flugblättern politischer
Bewegungen, Entwicklungsplänen und Jahresberichten, Rundfunknachrichten oder
Fragebögen spannt sich ein sehr breites Spektrum von für die Arbeit an gegenwarts¬
bezogenen Themen relevanten Informationen.
Der Faktor Zeit bestimmt die Arbeit in doppelter Weise. Wie in der Fach¬
bezeichnung impliziert, ist die gegenwartsbezogene Orientforschung auf die „Gegen¬
wart", d.h. auflaufende Entwicklungen und Prozesse hin orientiert. Der Geschichts¬
schreiber des Konflikts im Libanon, der trotz der unklaren Lage ün Süden des Lan¬
des als abgeschlossen gelten darf, treibt — streng genommen — nicht mehr gegen¬
wartsbezogene Orientforschung. Darüber hinaus sieht sich die gegenwartsbezogene
Orientforschung in vielen Fällen vor der Aufgabe, künftige Entwicklungen zu pro¬
gnostizieren. In gewisser Weise bestätigen damit oder widerlegen diese die Resultate
der Analyse. Damit scheint ein nicht wissenschaftsimmanentes Kriterium in die Be¬
urteilung von Forschungsergebnissen einzudringen.
An dieser SteUe wüd der Zeitfaktor noch in einer zweiten Hinsicht relevant.
Viele Arbeiten im Bereich der gegenwartsbezogenen Orientforschung werden unter
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
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Zeitdruck gemacht, der von verschiedenen Elementen (Aktualität, Projekt-
fördemng von außen, Feldaufenthalte etc.) ausgeht. Dies geht zu Lasten einer
gründlichen, allein wissenschaftlichen Erwägungen folgenden Ausarbeitung.
Die Orientiemng der gegenwartsbezogenen Orientforschung am Bedarf läßt sie
bisweilen an Gegenstände herantreten, die nach Art und Niveau nicht mehr „wissen¬
schaftlich" im herkömmlichen Sinne erscheinen. Zu nennen sind hier etwa hand¬
buchartige Nachschlagewerke und Materialsammlungen.
Nicht nur fehlen Ländermonographien in deutscher Sprache über die Nahoststaaten entweder vollständig oder sind weitgehend veraltet. Auch sektorale Zusammenstel¬
lungen smd rar und unsystematisch. Es ist in höchstem Maße erstaunlich, in wel¬
chem Umfang politische Schritte, whtschaftliche Zusammenarbeit und entwick¬
lungspolitische Hilfeleistungen unternommen werden, ohne daß die grundlegenden
Fakteninformationen gegeben sind. Die Schließung der Lücke liegt durchaus mi
Aufgabenbereich der gegenwartsbezogenen Orientforschung.
Eine andere Kategorie aus dem Randbereich der gegenwartsbezogenen Orient¬
forschung sind Arbeiten, deren Ausführung schon in den Bereich der Entwick¬
lungshilfe gehört. „Angepaßte Technologie" ist das Stichwort hierzu. Hier
liegt ein weites Feld für die gegenwartsbezogene Orientforschung, wo Wissenschaft nicht nur einen Praxisbezug hat, sondern selbst nahezu Praxis ist. Es geht dabei um
die Anpassung von in den Industrienationen entwickelten Technologien an kultu¬
relle, sozio-ökonomische und mentale Gmndstmkturen in den Entwicklungsländern
im allgemeinen und in den Nahoststaaten im besonderen. Was ist z.B. der Unter¬
schied zwischen einer MüUkompostiemngsanlage für Kairo und einer für Mexico
City?
Uberhaupt ist die gegenwartsbezogene Orientforschung in enger Beziehung zur
„Entwicklungspolitik" zu sehen. Hervorgegangen aus einem starken
Interesse der Praxis an fundierter Information über den Nahen Osten, ist sie nicht zuletzt Ausdmck und aktiver BestandteU des Versuchs, eine neue Form politischer Beziehungen und wütschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den Industrienationen
und den Entwicklungsländern zu suchen. Die tatsächlichen Aspirationen der Nah¬
oststaaten zu verdeutlichen, die wichtigsten Kräfte und Strömungen nachzuzeich¬
nen und die Grundprobleme mi Entwicklungsprozeß dieser Staaten zu analysieren,
dabei Ansatzflächen einer Kooperation zwischen beiden Seiten aufzuzeigen, die auf
langfristiger Kontinuität beruht, ist in diesem Zusammenhang eine der wichtigsten Aufgaben der gegenwartsbezogenen Orientforschung.
So verstanden muß die gegenwartsbezogene Orientforschung mehr und mehr
auch aus gemeinsamer Forschung zwischen beiden Seiten entstehen.
Diese Fordemng resultiert nicht nur daraus, daß die Nahoststaaten selbst über ein
wachsendes Potential von Wissenschaftlern verfügen, sondern liegt auch in dem
Anspmch begründet, den Entscheidungsträgern im Nahen Osten selbst eine Ent-
scheidungshUfe zu erarbeiten. Indem die einhehnischen Wissenschaftler so eine Art
Scharnier zwischen der Wissenschaft und den Entscheidungsträgern üirer Länder
darstellen, kommt freUich ein durchaus subjektiver Zug in die Forschung. Im Klar¬
text — von üirer Bestimmung her ist die gegenwartsbezogene Orientforschung bald
mehr bald weniger von politischen Interessen mitbestimmt.
Die gegenwartsbezogene Orientforschung ist nicht mehr Wissenschaft nach dem
Die gegenwartsbezogene Orientforschung zwischen Wissenschaft und Journaüsmus 581
herkömmlichen Verständnis; sie ist vor allem nicht mehr Orientalistik. Durch einen
engen Praxisbezug ist sie der reinen Wissenschaft ent- wie dem Gehalt nach in die
Nähe der Journalistik ge-rückt. Sie ist freilich auch nicht Journalistik in einem vordergründigen Sinn des Wortes. In üiren Untersuchungen sich wissenschaftlicher
Elemente bedienend, überhebt sie sich über Tagesberichterstattung oder mechani¬
sches Kompüieren und ist nach Ethos und Methode Wissenschaft. Auf drei Elemen¬
te kann sie insbesondere nicht verzichten: die Rückkehr auf originale Quellen (an¬
dere freüich als die herkömmlichen); die Anwendung der Methoden der Fachwis¬
senschaften ; und das Vorhandensein einer orientalistischen Grund¬
substanz: Die gute Kenntnis mindestens einer orientalischen Sprache, die Ver¬
trautheit mit Kultur, Geschichte und den religiösen Verhältnissen des Raumes sowie persönliche Landeskenntnisse — ohne sie gibt es keinen Zugang zu den wichtigsten Quellen, und ohne sie kein Gespür für die Relevanz von Entwicklungen.
Die gegenwartsbezogene Orientforschung ist somit etwas Eigenständiges, grün¬
dend letztlich auf einem gesellschaftlichen Bedarf und durch diesen gerechtfertigt.
Die Orientalistik herkömmlicher Art bleibt zwar em konstituierendes Element,
wüd aber in neue Zusammenhänge der Wissenschaft und Praxis gestellt.
DIE POLITISCHE FUNKTION DER RELIGION
ANSÄTZE ZU EINER VERGLEICHENDEN ANALYSE
von Michael Wolffsohn, Saarbrücken
Dies ist die Zusammenfassung der in Erlangen vorgetragenen Zusammenfassung
einer ausführlichen Untersuchung zu diesem Thema, in der gefragt wird, welche po¬
litische Funktion die Religion im Zionismus, vor allem im , Jüdischen Staat", in Israel, im islamisch-(nichtchristlich-)arabischen Nationalismus sowie im politischen
KathoHzismus in Deutschland und Frankreich während der vergangenen zwei Jahr¬
hunderte erfüllte und erfüllt. (Vgl. zu Israel meinen Aufsatz in der Zeitschrift
„ORIENT", Heft 2/1978.)
Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt der Studie:
1. Wie ist es mögHch, daß die Bedeutung des rehgiösen Faktors auf der Makroebene
während der „Entwicklung" im christlichen Westeuropa und im Zionismus ab-,
im islamisch-arabischen Raum jedoch zunimmt? Welche Vorgänge spielen sich
dabei auf der Mikroebene ab? Die Modernisiemngs-/Säkularisiemngsdiskussion wird hierbei erörtert.
These: Modernisierung bedeutet im islamisch-arabischen Raum eben nicht!
, /wangsläufig" mehr Säkularisiemng.
2. Warum kann dieselbe Religion verschiedene politische Funktionen erfüllen? (Vgl.
die religiösen Parteien in Israel, die politisch höchst unterschiedliche Positionen vertreten.)
Folgende Funktionen werden im einzelnen untersucht, wobei der Verfasser auf
sozialwissenschaftlich abgesichertes empirisches Material sowie auf historische Bei¬
spiele zurückgreift.
Die Identitätsfunktion, Legitimitätsfunktion, die Funktion der Religion im Na¬
tionalismus, in Pan -Bewegungen, im Internationalismus, die gesellschaftliche Inte¬
grationsfunktion, die Funktion im Rahmen der politischen Mobilisiemng und Parti¬
zipation (Demokratie- und Autoritätsproblematik) sowie die ideologische Funktion (rechte versus Hnke Positionen).
Ausgehend von kommunikationstheoretischen Überlegungen im Zusammerüiang
mit der ,>lodernisiemng" (im Text definiert), die immer neu^ „challenges" auf¬
stellt und „responses" auslöst, wurden auf Grund der Untersuchungsergebnisse folgende Modelle entwickelt und erläutert:
XX. Deutscher OrientaMstentag 1977 in Erlangen