DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
DAS EDITORIAL
Neue Therapiemöglichkeiten
beim lumbalen Bandscheibenvorfall
Karl Friedrich Schlegel
D
rei neue Verfahren haben in den letzten Jahren zur Behandlung des lumbalen Bandscheibenvorfalls von sich reden gemacht: Die Che- monukleolyse, die perkutane Diskektomie, ohne oder mit Diskoskopie und endoskopischer Fusion des Bewegungssegmen- tes, und die Implantation einer Bandscheiben- prothese. Wie üblich wurden diese Verfahren Laien und behandelnden Ärzten in der Regel aus den Massenmedien bekannt. Erst später fan- den sie in der Fachliteratur Niederschlag, so daß nur eine geringe Zahl von Insidern über diese Maßnahmen besser informiert ist.Über die Chemonukleolyse haben wir an dieser Stelle 1983 berichtet (Pon, A; Schlegel, K. F. und J. Haasters). Sie hat nach anfänglich nahezu kritikloser Anwendung und weitester Verbreitung inzwischen den ihr gebührenden, schmalen Raum im Indikationsbereich der The- rapie des Diskusprolaps gefunden.
Über die Frühergebnisse der Endoprothe- sierung der lumbalen Bandscheibe, 1983 von Prof. Dr. Schellnack und Frau Dr. sc. med.
Büttner-Janz von der Orthopädischen Universi- tätsklinik in der Charite in Berlin/DDR inaugu- riert, wurde anderwärtig berichtet. Die ersten Implantationen außerhalb der Charit6 wurden anläßlich eines internen Workshop zwischen den Orthopädischen Universitätskliniken Berlin-Ost und Essen in Kooperation mit den beiden Inau- guratoren in Essen durchgeführt. Bei der weiter- hin zu erwartenden Bewährung dieser Methode, die als Alternative zur Distraktions-Spondylode- se eines pathologisch veränderten, lumbalen Be- wegungssegmentes angesehen werden muß, wird wohl im begrenzten Indikationsbereich die Anwendung freigegeben werden können.
Die perkutane Diskektomie, über die in der Folge H. M. Mayer und M. Brock berichten, ist ebenfalls aktuell. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß die über zehnjährigen Erfahrungen von Hijikata, Kambin und die achtjährigen Er- fahrungen von Suezawa aus Zürich eine zurück- haltende Bewertung erkennen lassen. Dies hat beispielsweise dazu geführt, daß Suezawa seit 1982 die Diskokopie eingeführt hat, um das ope- rative, endoskopische Vorgehen im Diskus zu kontrollieren. Von seiner Arbeitsgruppe in Zü- A-850 (42) Dt. Ärztebl. 85, Heft 13, 31. März 1988
rich wird inzwischen auch das Arthroskopie- Shaver-System mit Spül-/Saug-Vorrichtung ver- wendet. Die alleinige Nukleotomie führt in je- dem Falle zu einem postoperativen Kollabieren der Bandscheibe, weshalb ein instabilitätsbe- dingtes Post-Diskotomie-Syndrom auch bei die- ser Technik und nicht nur bei den konventionel- len Diskektomie-Verfahren erwartet werden muß. Shepperd (1986) hat deshalb die perkuta- ne Nukleotomie mit einer Spondylodese verbun- den, ein Verfahren, das auch in der Orthopädi- schen Universitätsklinik Balgrist in Zürich und anderwärts inzwischen geübt wird.
Während des 1. Kurses für Diskoskopie und perkutane Nukleotomie vom 22. bis 23. Oktober 1987 berichteten Schreiber, Suezawa und Mitar- beiter auch über ihre Ergebnisse. 95 Patienten, wurden insgesamt an 113 Bandscheiben in dem Zeitraum von 1979 bis 1987 operiert. Unverän- derte Beschwerden hatten postoperativ 10 Pro- zent, nach drei Monaten bereits 23 Prozent, und zwei ihrer Fälle waren verschlechtert. 35 Patien- ten, die durchschnittlich viereinhalb Jahre spä- ter nachkontrolliert wurden, gaben Beschwer- defreiheit oder Besserung in 73 Prozent an.
Im Hinblick auf die Komplikationen sind die Zahlen der Schweizer Arbeitsgrupe geeig- net, die optimistische Schau von Mayer und Brock im nachfolgenden Artikel zu relativieren.
Immerhin kam es in sieben Fällen zur Spondylo- diszitis und in einem Fall zu einer Arterienver- letzung, die die notfallsmäßige Laparotomie er- forderlich machte Man kann also den Satz, daß der Eingriff praktisch komplikationslos sei, we- der anhand der Schweizer Statistik noch anhand der Angaben der anderen Autoren bestätigen.
Es ist zu wünschen, daß dieses Verfahren, zumindest noch längere Zeit, ausschließlich in den Händen erfahrener Operateure verbleibt, bis Operationstechnik und Indikationsbreite noch weiter standardisiert sind und auch ent- sprechend viele Spätergebnisse vorliegen, die dann die Einführung dieses neuen Verfahrens in das therapeutische Rüstzeug beim Bandschei- benschaden erlauben.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Karl Friedrich Schlegel Direktor der Orthopädischen Universitäts-Klinik und Poliklinik des GHS Essen
Hufelandstraße 55 • 4300 Essen 1