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Archiv "Gesundheitsleistungen: Subtile Veränderung des Denkens" (08.07.2005)

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G

enau genommen gibt es auch die positive Priorisierung von Ge- sundheitsleistungen, also die be- wusste Förderung durch zusätzliche (finanzielle) Mittel. Doch solche Zeiten sind vorerst vorbei. Heute wird unter Priorisierung de facto Rationierung verstanden. Ein Begriff wie „Prioritä- tensetzung“ verhüllt nur den unpopu- lären Umstand.

Unpopulär? Eine aktuelle Befra- gung von Onkologen zum Thema Allo- kationsentscheidungen ergab, dass die meisten der Befragten meinten, noch gebe es keine Rationierung, wohl aber eine engere Indikationsstellung. Ge- wachsen sei die Einsicht, in Entschei- dungen auch ökonomische Parameter einzubeziehen. Dr. Jeanne Nicklas- Faust, die über die Befragung bei einer Tagung der Evangelischen und der Ka- tholischen Akademie Berlin Anfang Ju- ni berichtete (dazu auch „Ethikräte:

Mitgefangen“, DÄ, Heft 23/2005), kon- statierte einen stillschweigenden Mei- nungswandel: Was 1997, bei einer ande- ren Untersuchung, noch als Rationie- rung empfunden worden sei, werde heute akzepiert. Einer der jetzt befrag- ten Ärzte habe davon gesprochen, „wie subtil das Denken verändert wird“.

Als Maßstab für ihre Allokationsent- scheidungen nannten die befragten Onkologen aus Klinik und Praxis:

>evidenzbasierte Leitlinien

>die eigene Erfahrung

>die Prognose im konkreten Fall

>Kosten-Nutzen-Erwägungen

>das Alter des Patienten.

Kosten und Nutzen scheinen freilich nicht systematisch bewertet zu werden, sondern nur in eklatanten, dem Arzt vielleicht nur zufällig bekannten Fällen, etwa wenn eine Antikörper-Therapie bei Darmkrebs mit Kosten von 15 000

Euro gegen eine Lebensverlängerung um vier Wochen abgewogen wird. Ge- nerell seien Ärzte, so Nicklas-Faust, ge- sundheitsökonomisch nicht besonders gut geschult.

Den Patienten ist die „Allokations- entscheidung“ des Arztes vielfach nicht transparent. Das liegt gewiss an der sensiblen Arzt-Patient-Beziehung, zu- mal bei solch angstbesetzten Erkran- kungen wie Krebs. Es dürfte aber auch an dem tabubehafteten Thema Ratio- nierung liegen.

Tabubehaftet? Immerhin stimmen 44 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einer„Prioritätensetzung“

zu. 1996 seien es lediglich 33 Prozent in West- und nur 23 Prozent in Ostdeutsch- land gewesen, so Dr. David Schwap- pach von der Universität Witten-Her- decke. 1996 plädierten noch 65 Prozent der befragten Bürger dafür, die Ent- scheidung über die Prioritäten den Ärz- ten zu überlassen, 2004 nannten ledig- lich 30 Prozent die Ärzte, 39 Prozent hingegen die Versicherten und 34 Pro- zent Patientenverbände.

Mitsprache der Bevölkerung

Solche Befragungsergebnisse stützen die auf der Berliner Tagung allgemein vorgebrachte Forderung, über Rationie- rung in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs einzutreten. Gefordert wurde auch, explizit statt implizit zu priorisie- ren/rationieren. Ob Budgetierungen im- plizite Rationierung bedeuten, blieb in Berlin heftig umstritten. Der Rechtswis- senschaftler Prof. Dr. Volker Neumann (HU Berlin) hielt sie für Rationali- sierungen, schloss aber nicht aus, dass Budgetierung zu Rationierung führen könne – zuvor müsse man dann aber

mal über ärztliche Einkommen reden, schloss er etwas sibyllinisch.

Laut Schwappach wollen „sechzig bis siebzig Prozent der Bevölkerung an der Prioritätensetzung beteiligt wer- den“. Die Bevölkerung scheint einer- seits einsichtiger zu sein, als ihr Exper- ten oder Politiker zutrauen. So etwa plädiert sie dafür, als einen Maßstab für Priorisierung die „Schwere der Aus- gangslage“ zu nehmen. Sprich: je schwerer der Kranke belastet ist und je aussichtsreicher die Behandlung er- scheint, desto eher wird ihm die medizi- nische Leistung gegönnt.

Harte Zeiten für Alte und Schwache

Andererseits muss die Bevölkerung, sollte sie stärker in Priorisierungsent- scheidungen einbezogen werden, sorg- fältiger aufgeklärt werden. Und kei- neswegs können Rationierungsent- scheidungen allein auf Meinungsbefra- gungen gestützt werden. Auch dazu trug Schwappach aufschlussreiche Be- fragungsergebnisse vor. So priorisieren die meisten Bürger Krebs, Aids oder kardiovaskuläre Erkrankungen; ginge es nach ihnen, würden dagegen psych- iatrische Erkrankungen vernachlässigt.

Die Präferenz liegt zudem auf den Jün- geren (selbst die „Alten“ bevorzugen im Zweifelsfall die „Jungen“, vor allem die Kinder). Priorisiert wird ferner die soziale Rolle des Erkrankten, wer also für die Gesellschaft Wichtiges leistet oder aktiv im Produktionsprozess steht oder von wem solche Leistungen noch zu erwarten sind, soll priorisiert sein.

Die „Alten“ geraten bei solchen Prä- ferenzen unter die Räder: ihre Rolle läuft aus oder ist ausgelaufen. Medizi- nische Leistungen für Ältere müssen, schlussfolgert Schwappach, einen weit höheren Nutzen aufweisen als für Jün- gere, um gesellschaftlich akzeptiert zu werden.

„Es gibt keine einfachen Lösungen“, prophezeite der Tübinger Ethiker Dr.

Georg Marckmann. Zu erwarten sei vielmehr ein längerfristiger aufwendiger Prozess. Für den formulierte er eine ethi- sche Grundprämisse: Begrenzte Leistun- gen für alle sind gerechter als unbegrenz- te Leistungen für wenige. Norbert Jachertz P O L I T I K

A

A1928 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 278. Juli 2005

Gesundheitsleistungen

Subtile Veränderung des Denkens

Das Verständnis für „Prioritätensetzung“ nimmt zu. Offener

gesellschaftlicher Diskurs ist besser als schleichender Vollzug.

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