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Sag mir, wo die Blumen sind

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© Schattauer 2017 Nervenheilkunde 12/2017

945

Editorial

Sag mir, wo die Blumen sind

M. Spitzer, Ulm

Nervenheilkunde 2017; 36: 945–948 Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, Universitätsklinikum Ulm Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III Leimgrubenweg 12, 89075 Ulm

Die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood (

Abb. 1) machte dieses Jahr gleich mehrfach in Deutschland von sich reden, denn am 13.6. erhielt sie den Frie- denspreis des Deutschen Buchhandels, der ihr im Rahmen der Frankfurter Buchmesse verliehen wurde. Erst kürzlich wurde sie zudem mit dem internationalen Literatur- preis der Franz-Kafka-Gesellschaft in Prag ausgezeichnet. Sie schreibt nicht nur Ro- mane, Essays, Kurzgeschichten und Lyrik, sondern vor knapp drei Jahren zusammen mit 27 weiteren britischen Autoren auch ei- ne Beschwerde an Oxford University Press.

Dieser weltbekannte Verlag hatte gerade einmal wieder sein Kinderwörterbuch der englischen Sprache für Kinder ab sieben Jahre überarbeitet. Dabei wurden – wie schon bei der vorherigen Neuauflagen im Jahr 2007 – „alte“ Wörter weggelassen und neue eingeführt. Dieser Rosskur fielen Dutzende Wörter zum Opfer, die mit Natur und Landleben in Beziehung stehen, wie beispielsweise „blackberry“ (Brombeere),

„acorn“ (Eichel), „buttercup“ (Butterblu- me), „cauliflower“ (Blumenkohl) oder

„clover“ (Klee). Stattdessen finden die Kin- der nun Wörter wie „Blog“, „Chatroom“,

„broadband“, „analogue“ und „BlackBerry“

– gemeint ist das Mobiltelefon (!) des gleichnamigen Herstellers.

Dieser Rosskur fielen Dutzende Wörter zum Opfer, die mit Natur und Landleben in Beziehung stehen

„Wir verstehen das Bedürfnis, neue Wörter einzuführen und Platz für sie zu schaffen, und wir haben nicht die Absicht, die Aus- wahl der neu hinzugekommen Wörter ein- zeln zu kommentieren. Aber es ist beunru-

higend, dass im Gegensatz zu denen, die herausgenommen wurden, viele [der neu- en Wörter nur noch] mit der heute in In- nenräumen stattfindenden einsamen Kindheit assoziiert sind,“1 schrieben die Autoren an Oxford University Press (8;

Übersetzung durch den Autor).

Sie heben eigens hervor, dass es ihnen nicht „um ihren romantischen Wunsch geht, den jungen Menschen von heute ihre eigenen rosigen Erinnerungen zu spie- geln“2

Sie beziehen sich dabei auf eine Studie des britischen National Trust Fund (

Abb. 2), die bereits im Jahr 2012 gezeigt hatte, wie wenig Kinder in Großbritannien noch mit der Natur zu tun haben bzw. sich in ihr auskennen: Seit den 1970er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich der Aktivitätsradius von Kindern – die Gegend um ihre Wohnung, in der sie sich ohne Aufsicht frei bewegen dürfen – um 90%

verkleinert.

Seit den 1970er-Jahren hat sich der Aktivitätsradius von Kindern – die Gegend um ihre Wohnung, in der sie sich ohne Aufsicht frei bewegen dürfen – um 90% verkleinert.

Im Jahr 1971 gingen 80% der Sieben- bis Achtjährigen den Schulweg zu Fuß, allein oder mit Freunden, wohingegen nur 20 Jahre später nur noch 10% der Kinder die- ses Alters zu Fuß zur Schule gingen – fast

alle von ihren Eltern begleitet (11). Wäh- rend vor einer Generation noch fast die Hälfte aller Kinder regelmäßig draußen in der Natur spielten, tun dies heute nur noch 10%. „Eines von drei Kindern weiß nicht, was eine Elster ist und die Hälfte kann eine Biene nicht von einer Wespe unterschei- den; aber neun von 10 Kindern erkennen einen Dalek“ (

Abb. 3; 11, S. 5). Dies passt zur Beobachtung aus dem Jahre 2002 (1), dass Kinder ab dem achten Lebensjahr in mehr Pokémon-Phantasie-Monsterchen benennen können als Tiere und Pflanzen zusammengenommen (13).

Die Autoren sehen den normativen Aspekt jeder Kultur sehr klar: „Die Oxford Wörterbücher haben zu Recht Autorität und einen kulturellen Führungsanspruch.

Wir glauben daher, dass das Oxford Junior Dictionary dies ernst nehmen sollte und dass es den Kindern beim Verständnis der Welt behilflich sein sollte anstatt einfach Abb. 1 Margaret Eleanor Atwood 2015 auf dem Texas Book Festival (Foto: Larry D. Moore, CC BY-SA 4.0 auf wikimedia).

1 Im Englischen geht das kürzer und schöner, zumal die Autoren ja bekannte Schriftsteller sind. Der Originaltext sei daher dem Leser nicht vorenthal- ten: „We recognise the need to introduce new words and to make room for them and do not intend to comment in detail on the choice of words added.

However it is worrying that in contrast to those ta- ken out, many are associated with the interior, soli- tary childhoods of today.“

2 Und wieder klingt das viel schöner im Original:

„The 28 signatories to the letter [...] say their con- cern is ,not just a romantic desire to refect the rosy memories of our own childhoods onto today’s youngsters.‘“

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nur deren Trends widerzuspiegeln“ (8;

Übersetzung durch den Autor).3

Sie stützen sich dabei auch auf Erkennt- nisse zu den positiven Auswirkungen des Naturerlebens, der erst kürzlich Thema in dieser Zeitschrift war (14).4 Die Nature De- ficit Disorder wurde vor mehr als zehn Jah- ren bei Kindern beschrieben (10) und mitt- lerweile nicht nur immer wieder diskutiert (3), sondern auch empirisch untersucht (15). „Im Lichte dessen, was wir über posi- tiven Auswirkungen des Spielens in der freien Natur und der [dadurch geförder- ten] Verbundenheit mit der Natur, und über die Gefahren von deren Abwesenheit, wissen, halten wir die Auswahl der wegge- lassenen Wörter für unüberlegt und scho- ckierend,“5 schrieben Atwood und ihre Kollegen an Oxford University Press (8;

Übersetzung durch den Autor). Den Verlag beeindruckte das wenig. Wie für die Me- dien heute allgemein6 ist für ihn Kultur das, was die Menschen tun (und explizit nicht das, was sie tun sollten), weswegen man eben nur den Tatsachen (z. B. des Nichtge- brauchs von „Butterblume“) Rechnung zu tragen habe.

Man könnte es dabei belassen, wären da nicht Studien, die nicht nur auf der indivi- duellen Ebene von Kindern und Erwachse- nen (12), sondern auf der kulturellen, ge- sellschaftlichen Ebene gezeigt haben, dass

unsere Beziehung zur Natur schwächer ge- worden ist. Hierzu untersuchten britische und US-amerikanische Wissenschaftler die

„kulturellen Fußabdrücke“ – ein schönes Bild! –, die Menschen in Büchern und Zeit-

schriften nicht nur in den „offiziellen“ Tex- ten, sondern beispielsweise auch in der Werbung hinterlassen (9). Der zugrunde liegende Gedanke ist einfach: „Das bedeu- tet, dass naturbezogene Begriffe immer dann Eingang in kulturelle Produktionen finden, wenn sie im Geist der Produzenten von Kultur gespeichert und für das denken damit verfügbar sind. Da diese geistige Verfügbarkeit davon abhängt, wie häufig und wie nahe in der Vergangenheit der Be- griff verwendet wurde [...] sollten wieder- holte Begegnungen mit der Natur zu einer höheren Verfügbarkeit von naturbezoge- nen Begriffen führen und dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass sie in kulturellen Produktionen auftauchen?“ (S.

259f)7.

So würden Literaten, Komponisten, Fil- memacher sich eher auf die Natur bezie- hen, wenn sie davon ausgehen, dass diese beim Publikum Interesse und Reaktionen bewirkt. Wenn sie demgegenüber nicht da- von ausgehen würden, würden sie sich auch nicht darauf beziehen.

Um die Häufigkeit des Bezugs zur Natur in kulturellen Produktionen zu untersu- chen, generierten die Autoren daher zu- nächst eine Art Natur-Wörterbuch mit 186 Wörtern aus 4 Kategorien:

allgemeine auf Natur bezogene Wörter (z. B. Strand, Blatt, Berg, Regen, Wind, Welle; n = 60) sowie die Namen von

Vögeln (z. B. Ente, Fink, Flamingo, Fal- ke, Specht, Spatz; n = 34),

Bäumen (z. B. Birke, Buche, Eiche Ahorn, Weide, Pappel; n = 37) und

Blumen (z. B. Butterblume, Sonnenblu- me, Aster, Tulpe, Rose, Gänseblümchen;

n = 57).

Zum Vergleich wurden Wörter verwendet, die menschengemachte Produkte der Um- gebung bezeichnen (n = 40), wie beispiels- weise Straße, Ziegelstein, Möbel, Küche, Treppe oder Fenster.

Abb. 2 Titelseite der Studie Natural Childhood des britischen National Trust Fund (11).

Abb. 3 Ein Dalek (abgebildet) ist ein nicht menschlicher außerirdischer Krieger aus der briti- schen Science-Fiction-Kultserie Doctor Who, des- sen größte Feinde sie sind (gemeinfrei, Wiki com- mons).

3 „The Oxford Dictionaries have a rightful authority and a leading place in cultural life. We believe the OJD should address these issues and that it should seek to help shape children’s understanding of the world, not just to mirror its trends.”

4 Die günstigen Auswirkungen von Naturerleben auf die Funktion der Aufmerksamkeit (2) und auf Kin- der mit Aufmerksamkeitsstörungen (4–7, 12) wur- den ebenfalls eindrucksvoll wissenschaftlich nach- gewiesen.

5 „In light of what is known about the bene!ts of na- tural play and connection to nature; and the dan- gers of their lack, we think the choice of words to be omitted shocking and poorly considered.“

6 Man bedenke nur die Eröffnung der Games.com durch Kanzlerin Merkel: Sie zitierte Friedrich Schil- ler aus den Briefen zur ästhetischen Erziehung:

„Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“.

Aber hat er wirklich „Ballern“ und „Leute mit dem Auto überfahren“ gemeint? – Wohl kaum! Aber die Rufe nach Kulturförderung des Spielegeschäfts wa- ren dennoch laut zu hören, als verdiente die Brache (deren Umsatz höher ist als die der gesamten übri- gen Software-Industrie) nicht schon genug Geld aus der Zeitverschwendung und dem Lernen fal- scher Werte durch Kinder und Jugendliche.

7 This means that nature-related concepts can make their way into cultural products if they are stored in the minds of cultural creators and are cognitively accessible to them. As cognitive accessibility is a function of a concept’s recency and frequency of use [...], recurring encounters with nature would render nature-related concepts more accessible and thereby increase the odds that they will feature in cultural creations (S. 259f).

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Insgesamt ergab sich damit über unterschiedliche Kulturprodukte bzw. kulturelle Genres hinweg, dass Natur in der Kultur seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine abneh- mende Rolle spielt.

Die Autoren führen zwei Ursachen dieses Effekts an, die in der Literatur diskutiert werden: die zunehmende Urbanisierung sowie die Mediatisierung des Lebens der Menschen in den USA (als größte und zu- gleich kulturbestimmendste englischspra- chige Gruppe). Da sich die Urbanisierung jedoch zwischen 1840 und 1960 mit einer hohen Stetigkeit, d. h. ohne größere Sprün- ge, vollzog, lehnen sie diese als Ursache des von Ihnen beobachteten Effekts eher ab:

„Die Wachstumsrate der Stadtbevölkerung in den USA [...] erhöhte sich im Zeitraum vom Anfang bis zur Mitte des 20. Jahrhun- derts zu keinem Zeitpunkt plötzlich [...].

Damit ist es unwahrscheinlich, dass die Ur- banisierung für den beobachteten Effekt al- lein oder auch nur wesentlich verantwort- lich ist?8

Anders verhält es sich bei der Mediati- sierung, wobei die Autoren von „the growth in indoors and virtual recreation options“ (S. 267) sprechen. In den 1950er- Jahren hat zunächst das Fernsehen, in den 63%. This means that for every three na-

ture-related words in the popular songs of the 1950s, there was only barely more than one 50 years later.“

In einer dritten Untersuchung ging es um insgesamt 274 011 Filme (alle Filme ei- ner entsprechenden Datenbank englisch- sprachiger Filme) aus Australien, Großbri- tannien, Irland, Kanada, Neuseeland, und den USA aus den Jahren 1930 bis 2014, de- ren Handlung („film storylines“) einen Korpus aus etwa 16 Millionen Wörtern bil- deten. Bei 18% der Filme (n = 49 246) han- delte es sich um Dokumentarfilme. Wieder wurden relative Häufigkeiten (jährlich) mittels entsprechender Software bestimmt und wieder zeigte sich eine deutlich Ab- nahme aller naturbezogenen Wörter im untersuchten Zeitraum (r = –0,70; p <

0,0001). Bei den Dokumentarfilmen waren wieder die Blumen mit einer signifikanten negativen Korrelation von –0,23 besonders

„betroffen“, die Abnahme der Namen von Vögeln (r = –0,04) und Bäumen (r = –0,11) war jeweils nicht signifikant.

Für die 40 Kontrollwörter gab es über den gesamten Zeitraum keinen Effekt (sie fielen vor 1950 signifikant ab und danach stiegen sie wieder signifikant an). Insge- samt ergab sich damit über unterschiedli- che Kulturprodukte bzw. kulturelle Genres hinweg, dass Natur in der Kultur seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine abnehmende Rolle spielt.

Editorial

Ausgestattet mit diesen Listen verwen- deten sie dann die Funktion Ngram der Firma Google (Google Ngram Viewer;

http://books.google.com/ngrams) und be- stimmten damit jährlich den Prozentsatz des Vorkommens dieser Natur-bezogenen Wörter an allen Wörtern in der englisch- sprachigen Literatur (Genre: Fiction) für die Jahre 1900 bis 2000. Über diesen ge- samten Zeitraum ergab sich eine signifi- kante negative Korrelation (r = –0,72, p <

0,0001) der Verwendung naturbezogener Wörter und dem Erscheinungsjahr, also ei- ne Abnahme der Verwendung naturbezo- gener Wörter im Zeitraum von 100 Jahren.

Dieser war bei den Blumen am größten (

Abb 4).

Bei den Kontrollwörtern (menschenge- machte Produkte der Umgebung) gab es dagegen einen signifikanten Zuwachs mit einer positiven Korrelation von 0,62 (p <

0,0001).

Für eine zweite Untersuchung wurden Liedertexte aus den Jahren 1950 bis 2011 herangezogen. Man bestimmte für jedes Jahr die hundert Top-Hits (das ergibt 6 200 Titel) von denen nur 5 924 Texte auswert- bar waren, denn manche der Hits waren Instrumentalstücke und an manche älteren Texte kam man nicht mehr heran. Den- noch ist es beachtlich, dass immerhin ver- schiedene musikalische Genres (z. B.

Country oder Jazz) zu einem Korpus von etwa 1,7 Millionen Wörtern beitrugen.

Man bestimmte dann für die oben erwähn- te Liste von 186 naturbezogenen Wörtern sowie den 40 Kontrollwörtern deren relati- ve Häufigkeit (jährlich). Auch hier zeigte sich eine klare Abnahme der naturbezoge- nen Wörter über die Zeit (r = –0,76; p <

0,001). Wieder verschwanden die Blumen in stärkerem Ausmaß als die Bäume oder die Vögel.

Wieder verschwanden die Blumen in stärkerem Ausmaß als die Bäume oder die Vögel.

Insgesamt war das Ausmaß des Effekts in der Musik deutlich größer als in der Litera- tur. In den Worten der Autoren (S. 265):

„The appearance ratio of nature-related words dropped from 1.07% in the 1950s (1950–1959) to 0.40% in the first decade of the 21st century (2000–2009) – a decline of

Abb. 4

Abnahme der relativen Häufigkeit naturbezo- gener Wörter (Diffe- renz der relativen Häu- figkeit zwischen der ersten (1900–1949) und zweiten (1950–2000) Hälfte des vergangenen Jahr- hunderts (nach Daten aus 9, S. 263).

0 4 8 12 16 20

alle allgem. Vögel Bäume Abnahme der Verwendung naturbezogener Wörter

24

Blumen

%

Wortgruppe

8 The growth rate of the U.S. urban population [...]

did not suddenly accelerate at any point in the be- ginning or middle of the 20th century [...]. Hence, if urbanization is a factor in explaining the observed pattern, it is unlikely to be the only or dominant one“ (S. 267).

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1970ern dann die Videospiele und seit Mit- te der 1990er hat das Internet die Natur als Ort der Freizeit abgelöst.

In den 1950er-Jahren hat zunächst das Fernsehen, in den 1970er- Jahren dann die Videospiele und seit Mitte der 1990er-Jahren hat das Internet die Natur als Ort der Freizeit abgelöst.

Entsprechend nahm die Bedeutung der Natur bei Kulturschaffenden und Kultur- konsumenten ab. Dies sehen die Autoren aus zwei Gründen mit Sorge: (1) „To the extent that the disappearance of nature vo- cabulary from cultural conversation re- flects an actual distancing from nature, the findings suggest unrealized gains to human health and well-being, as well as lost oppor- tunities to nurture pro-environmental atti- tudes and stewardship behaviors.“

Neben diesen bereits eingangs diskutier- ten geringer werdenden positiven gesund- heitlichen Auswirkungen des Naturerle- bens beschreiben sie zweitens einen negati- ven Rückkopplungseffekt (Teufelskreis) zwischen Kultur als das, was ist und Kultur als dem, was uns bestimmt: „Kulturelle Produktionen spiegeln nicht nur die vor- herrschende Kultur wider, sondern gestal- ten sie auch. Bücher, Songs und Filme sind Agenten der Sozialisierung die den Men- schen dabei unterstützen, bestimmte Sicht- weisen auf die Welt zu entwickeln, aufrecht zu erhalten und zu verstärken. Die abneh- mende kulturelle Aufmerksamkeit gegen- über der Natur bedeutet eine Dämpfung der Botschaft, dass die Natur diese Auf- merksamkeit in unseren Diskursen ver- dient. Sie bedeutet auch einen Verlust von Gelegenheiten, Neugierde zu wecken, sie schätzen zu lernen und ihr Ehrfurcht ent- gegen zu bringen. Der Verlust des körperli- chen Kontakts mit der Natur könnte zu-

sammen mit dem parallel dazu ablaufen- den Verlust des symbolischen Kontakts mit der Natur über kulturelle Produktionen ei- nen Teufelskreis in Gang setzen, der zu ei- ner zunehmenden Verminderung des Inte- resses an der Natur und ihres Wertschät- zens führt? (S. 267; Hervorhebungen durch den Autor).9

Man kann mit den Autoren nur hoffen, dass Ergebnisse wie die hier vorgestellten, einem zunehmenden Teil der Menschen bewusst werden – ganz im Sinne der ein- gangs erwähnten Aktivitäten. Denn nur dann besteht die Hoffnung, dass unsere Er- kenntnis dieser langfristigen Veränderun- gen unserer Kultur dazu führen, dass wir sie rückgängig machen. Mit den Worten der Autoren (S. 267f): „Wir hoffen, dass ein Gewahrwerden der gegenwärtigen Trends unsere Kulturschaffenden dazu inspiriert und befähigt, diese Trends umzukeh- ren.?“10

Literatur

1. Balmford A, Clegg L, Coulson T, Taylor J. Why conservationists should heed Pokémon. Science 2002; 295: 2367–2367.

2. Berman MG, Jonides J, Kaplan S. The Cognitive Benefits of Interacting With Nature. Psychological Science 2008; 19: 1207–1212.

3. Egan T. Nature-deficit disorder. The New York Times, The Opinion Pages section, The Opinion- ator blog, 29.3.2012. 2015 (http://opinion- ator.blogs.nytimes.com/2012/03/29/nature-defi- cit-Disorder; abgerufen am 31.10.2017).

4. Faber Taylor AF, Kuo. Children with attention deficits concentrate better after walk in the park.

Journal of Attention Disorders 2009; 12: 402–409.

5. Faber Taylor AF, Kuo. Could exposure to everyday green spaces help treat ADHD? Evidence from children’s play settings. Applied Psychology:

Health and Well-Being 2011; 3: 281–303.

6. Faber Taylor AF, Kuo FE, Sullivan WC. Coping with ADD. The surprising connection to green play settings. Environment and Behavior 2001; 33:

54–77.

7. Faber Taylor AF, Kuo FE, Sullivan WC. Views of nature and self-discipline: Evidence from inner city children. Journal of Environmental Psychol- ogy 2002; 22: 49–63.

8. Flood A. Oxford Junior Dictionary’s replacement of ‘natural’ words with 21st-century terms sparks outcry. The Guardian, 13.1.2015. (https://www.

theguardian.com/books/2015/jan/13/oxford-jun- ior-dictionary-replacement-natural-words; abge- rufen am 21.10.2017).

9. Kesebir S, Kesebir P. A growing Disconnection from nature is evident in cultural products. Per- spectives on Psychological Science 2017; 12:

258–269.

10. Louv R. Last Child in the Woods: Saving Our Children from Nature-Deficit Disorder. Algon- quin Books 2005, Chapel Hill, NC.

11. Moss S. Natural Childhood. Natural Trust Fund.

Park Lane Press. 2012 (https://www.nationaltrust.

org.uk/documents/read-our-natural-childhood- report.pdf; abgerufen am 22.10.2017).

12. Richardson EA, Pearce J, Shortt NK, Mitchell R.

The role of public and private natural space in children‘s social, emotional and behavioural devel- opment in Scotland: A longitudinal study. Environ Res 2017; 158: 729–736.

13. Spitzer M. Pokémon go away. Nervenheilkunde 2017; 36: 500–507.

14. Spitzer M. Ins Grüne und Blaue. Natur: Geschützt, gesund und teuer! Nervenheilkunde 2017; 36:

689–694.

15. Warber SL, DeHudy AA, Bialko MF, Marselle MR, Irvine KN. Addressing „Nature-Deficit Disorder“:

A Mixed Methods Pilot Study of Young Adults At- tending a Wilderness Camp. Evid Based Comple- ment Alternat Med 2015: 651827 (doi:

10.1155/2015/651827).

9 Cultural products not only reflect the prevailing culture, they also shape it. Books, songs, and films are agents of socialization that help people to form, maintain, and reinforce particular worldviews. The flagging cultural attention to nature means a mu- ting of the message that nature is worth paying at- tention to and talking about. It also means a loss of opportunities to awaken curiosity, appreciation, and awe for nature. The loss of physical contact with nature, combined with a parallel loss of sym- bolic contact through cultural products, may set in motion a negative feedback loop, resulting in dimi- nishing levels of interest in and appreciation for na- ture“ (S. 267; Hervorhebungen durch den Autor).

10 We hope that an awareness of the existing trends will be instrumental in instigating cultural leader- ship to reverse them.

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