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Mathematik und
Informatik
Lehrgebiet Stochastik Forschungsbericht
Eugen Grycko, Werner Kirsch, Frank Recker
Über das Trägheitsmoment aus
maßtheoretischer Sicht
UBER DAS TR ¨¨ AGHEITSMOMENT AUS MASSTHEORETISCHER SICHT
Eugen Grycko1, Werner Kirsch1, Frank Recker2
1Fakult¨at f¨ur Mathematik und Informatik FernUniversit¨at
Universit¨atsstraße 1 Hagen / GERMANY
2 Fachbereich Mathematik, Naturwissenschaften und Informatik Technische Hochschule Mittelhessen
Wiesenstraße 14 35390 Gießen / GERMANY
1. Einleitung
Der vorliegende Beitrag ist in erster Linie als Motivation und Ausblick zu unserem Kurs [3] gedacht und besch¨aftigt sich mit dem fundamentalen Be- griff des Tr¨agheitsmoments der Mechanik, der bei der Betrachtung von Ro- tationsbewegungen von Materie eine Rolle spielt. Wir zeigen, dass er sich auf nat¨urliche Weise verallgemeinern l¨asst, wenn Kenntnisse der Maßtheorie vorliegen. Wir deduzieren auch einige elementare Eigenschaften des verallge- meinerten Tr¨agheitsmoments, insbesondere den Satz von Steiner, der sich in dem Kontext elegant beweisen l¨asst.
2. Materie im Euklidischen Raum
Als Beschreibung eines Aspekts von Materie, die sich im Euklidischen Raum Rd befindet (d ∈ {2,3}), wird ein endliches Maß µ auf dem Messraum (Rd,Bd) angesetzt, wobeiBddie Borelscheσ-Algebra bezeichnet.µ(A) quan- tifiziert die Materie, mit welcher der Raumausschnitt A ∈ Bd belegt ist;
insbesondere ist µ(Rd) die Gesamtmasse der betrachteten Materie.
Vom Maßµsetzen wir durchgehend voraus, dass sein zweites Moment endlich ist:
(2.1)
Z
Rd
|x|2dµ(x)<∞.
(|.| bezeichnet die Euklidische Norm).
Unter der Voraussetzung (2.1) l¨asst sich der Schwerpunkt S(µ) der betrach- teten Materie einf¨uhren:
(2.2) S(µ) := 1
µ(Rd)· Z
Rd
x dµ(x),
falls die Bedingung
(2.3) 0< µ(Rd)<∞
erf¨ullt ist. Naheliegenderweise ist das Integral (2.2) einer vektorwertigen Funktion komponentenweise definiert.
Um nun das Tr¨agheitsmoment der Materie einzuf¨uhren, m¨ussen wir die F¨alle d= 2 und d= 3 separat betrachten.
3. Der Fall d= 2
Sei µein endliches Maß auf (R2,B2) derart, dass (2.1) und (2.3) erf¨ullt sind.
Wir betrachten einen Drehpunkta∈R2, bez¨uglich dem das Tr¨agheitsmoment definiert wird:
(3.1) Θ(µ, a) :=
Z
R2
|x−a|2dµ(x).
Der Wert Θ(µ, a) l¨asst sich als das auf den Drehpunktabezogene Tr¨agheitsmoment der Materie interpretieren.
Wir formulieren und beweisen den Satz von Steiner:
3.1 Satz
Seien a ∈ R2 und µ ein endliches Maß auf (R2,B2) derart, dass (2.1) und (2.3) erf¨ullt sind. Dann gilt:
(3.2) Θ(µ, a) = Θ(µ, S(µ)) +|a−S(µ)|2·µ(R2).
Insbesondere ist das Tr¨agheitsmoment Θ(µ, a) minimal, falls der Drehpunkt a mit dem Schwerpunkt S(µ) koinzidiert.
Beweis. Es gilt:
hx−a, x−ai − hx−S(µ), x−S(µ)i
= −2hx, ai+ha, ai+ 2hx, S(µ)i − hS(µ), S(µ)i
f¨ur x ∈ R2, wobei h., .i das Standard-Skalarprodukt bezeichnet. Das Ausin- tegrieren nach der Variablen x bez¨uglich µliefert
Θ(µ, a)−Θ(µ, S(µ)) =µ(R2)· ha−S(µ), a−S(µ)i und somit das Gew¨unschte.
4. Der Fall d= 3
Sei µein endliches Maß auf (R3,B3) derart, dass (2.1) und (2.3) erf¨ullt sind.
Sei ferner G := {a+λe|λ ∈ R} eine Gerade, wobei a, e ∈ R3 und |e| = 1 ist. Durch eine Standard-Rechnung kann man sich davon ¨uberzeugen, dass der quadratische Abstand zwischen einem Punkt x∈ R3 und G gegeben ist durch:
(4.1) dist(x, G)2 := min{|y−x|2 |y∈G}=ha−x, a−xi − ha−x, ei2 ≥0.
Beweis. Jeder Punkt y = y(λ) ∈ G l¨asst sich darstellen, als y(λ) = a+λe mit einem λ∈R. Damit gilt
|y(λ)−x|2 = hy(λ)−x, y(λ)−xi
= ha+λe−x, a+λe−xi
= ha−x, a−xi+ 2ha−x, λei+hλe, λei
= ha−x, a−xi+ 2λha−x, ei+λ2he, ei
= ha−x, a−xi+ 2λha−x, ei+λ2.
Dieses Polynom zweiten Grades besitzt ein eindeutiges Minimum. Durch Dif- ferenzieren und Nullsetzen ergibt sich, dass das Minimum f¨urλ=−ha−x, ei angenommen wird. Setzen wir dieses λ ein, so erhalten wir die Behaup- tung.
Nun wird G als eine Rotationsachse interpretiert. Das Tr¨agheitsmoment der Materie, deren Verteilung ¨uber R3 durch das Maß µ beschrieben ist, bezogen auf die Achse G, l¨asst sich definieren als
(4.2) Θ(µ, G) :=
Z
R3
dist(x, G)2dµ(x).
Sei G := {S(µ) +λe|λ ∈ R} die durch den Richtungsvektor e eindeutig bestimmte Gerade, welche durch den Schwerpunkt S(µ) der Materie geht.
Wir formulieren und beweisen den Satz von Steiner.
4.1 Satz:
Sei G := {a+λe|λ ∈ R} eine beliebige Gerade in R3 mit Richtungsvektor e∈S2 aus der Einheitssph¨are S2 ⊂R3. Es gilt:
Θ(µ, G) +µ(R3)·dist(S(µ), G)2 = Θ(µ, G),
d.h. das Tr¨agheitsmoment der Materie ist bez¨uglich G minimal, wenn man zur Konkurrenz alle Geraden mit dem Richtungsvektor e zul¨asst.
Beweis. Wir nehmen o.B.d.A. an, dass µ(R3) = 1 und < a, e >= 0 ist. Sei x∈R3 beliebig. (4.1) und eine Standard-Rechnung implizieren
dist(x, G)2−dist(x, G)2
= (ha−x, a−xi − ha−x, ei2)−(hS(µ)−x, S(µ)−xi − hS(µ)−x, ei2)
= ha, ai −2· ha, xi − hS(µ), S(µ)i+ 2· hS(µ), xi − hS(µ), ei2
+ 2· hS(µ), ei · hx, ei;
das Ausintegrieren nach der Variablen x bez¨uglich µ ergibt:
Θ(µ, G)−Θ(µ, G) = hS(µ)−a, S(µ)−ai − hS(µ)−a, ei2
= dist(S(µ), G)2 ≥0
Gem¨aß dem Satz von Steiner kommt den Geraden G, die durch den Schwer- punkts = (s1, s2, s3) :=S(µ) gehen, eine besondere Bedeutung zu. Sie lassen sich insbesondere durch e := (e1, e2, e3) ∈ S2 :={u ∈R3| |u| = 1} parame- trisieren:
Ge :={s+λ·e|λ ∈R}.
(4.1) und (4.2) implizieren die G¨ultigkeit der folgenden Identit¨at (4.3) Θ(µ, Ge) =
Z
R3 3
X
j=1
(xj−sj)2dµ(x)−
Z
R3 3
X
j,k=1
(xj−sj)·(xk−sk)·ej·ekdµ(x)
f¨ure= (e1, e2, e3)∈S2; wir erhalten:
(4.4) Θ(µ, Ge) =
3
X
j=1
ϑjj−
3
X
j,k=1
ϑjk ·ej·ek =
3
X
j=1
ϑjj− he, ϑei
f¨ure= (e1, e2, e3)∈S2, wobeiϑ = (ϑjk)3j,k=1 die durch (4.5) ϑjk :=
Z
R3
(xj −sj)·(xk−sk)dµ(x) (j, k = 1,2,3)
definierte Matrix ist.
4.2 Bemerkung:
Seien µ1 und µ2 zwei endliche Maße auf (R3,B3) derart, dass (2.1) und die folgenden drei Bedingungen erf¨ullt sind:
(4.6) 0< µ1(R3) = µ2(R3)<∞
(4.7)
Z
3
xjdµ1(x) = Z
3
xjdµ2(x) (j = 1,2,3)
(4.8)
Z
R3
xj·xkdµ1(x) = Z
R3
xj·xkdµ2(x) (j, k = 1,2,3).
Der Satz von Steiner und (4.3)-(4.8) implizieren die Identit¨at
(4.9) Θ(µ1, G) = Θ(µ2, G)
f¨ur alle GeradenG⊂R3, d.h. die Tr¨agheitsmomente von µ1 und vonµ2 sind bez¨uglich einer beliebigen Rotationsachse Gjeweils identisch.
Literatur
[1] H. Bauer,Measure and Integration Theory. De Gruyter, Berlin, New York (2001).
[2] J. Elstrodt, Maß- und Integrationstheorie, 2. Aufl., Springer (1998).
[3] W. Kirsch,Maß- und Integrationstheorie. Kurs der FernUniversit¨at, Hagen (2015).