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Verantwortung übernehmen!: Kommunal- und landespolitische Aufgaben bei der Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung

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89. Sar-Lor-Lux-Symposion am 09.11.2016 in der Stadthalle Merzig Soziale Psychiatrie in der Gemeinde – quo vadis?

140 Jahre Psychiatrie in Merzig

Verantwortung übernehmen!

Kommunal- und landespolitische Aufgaben

bei der Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung Vortrag von Hermann Elgeti

Lieber Wolfgang Werner, lieber Martin Kaiser,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus Lothringen, Luxemburg und dem Saarland, sehr geehrte Damen und Herren!

Ich bedanke mich für die Einladung zu Ihrem Symposion und freue mich, Ihnen meine Überlegungen zu den kommunal- und landespolitischen Aufgaben bei der Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung darlegen zu dürfen. Wir alle kennen aus unserem therapeutischen Alltag und aus zahllosen wissenschaftlichen Studien die starken Wechselwirkungen zwischen psychischen Erkrankungen und der sozialen Lage der davon betroffenen Menschen. Das gilt für die Vorbeugung und Früherkennung genauso wie für die Therapie und Rehabilitation, den Langzeitverlauf und die Lebenserwartung. Es ist auch allgemein bekannt, wie eine psychiatrische Versorgung strukturiert sein müsste, um diesen Wechselwirkungen mehr Beachtung schenken zu können, sowohl im Einzelfall als auch bezogen auf den Sozialraum. Der Titel dieser Veranstaltung zeigt in die angezielte Richtung und stellt die bange Frage, wohin uns der Weg führt: Soziale Psychiatrie in der Gemeinde – wohin gehst Du?

Ich gliedere meine Überlegungen zu kommunal- und landespolitischen Aufgaben bei der Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung in drei Abschnitte:

 Der erste Abschnitt lautet: „Informieren wir uns: Wie läuft es andernorts?“. Ich erzähle Ihnen darin zunächst von meinen Kontakten und meinem lückenhaften Kenntnisstand zur psychiatrischen Versorgung in Frankreich, in Luxemburg und im Saarland. Ich hoffe, Sie haben ein bisschen Verständnis für mögliche Missverständnisse, Irrtümer und Fehlschlüsse meinerseits in Bezug auf die Situation in Ihren Ländern. Dann berichte ich Ihnen noch kurz, in welchem Umfeld ich meine Erfahrungen zum Thema des Vortrags gemacht habe.

 Der zweite Abschnitt heißt: „Definieren wir die Aufgabe: Was hat die Politik zu tun?“. Hier geht es darum, die Qualität der psychiatrischen Versorgung nach ethisch-fachlichen Grundsätzen zu entwickeln und sich um sinnvolle Rahmensetzungen für eine flächendeckend bedarfsgerechte soziale Infrastruktur zur Daseinsvorsorge zu kümmern.

 Im dritten Abschnitt „Organisieren wir den Wandel: Wo können wir ansetzen?“

erläutere ich den Zirkelprozess der Qualitätsentwicklung auf den verschiedenen Interventionsebenen. Zum Schluss trage Ihnen einige Vorschläge für politische Initiativen zur Umsetzung des Landespsychiatrieplans Niedersachsen vor.

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1. Informieren wir uns: Wie läuft es andernorts?

Meine Kontakte zu Frankreich, Luxemburg und zum Saarland

Die besonderen Umstände, in denen wir leben und arbeiten, prägen sowohl unser Handeln als auch das, was wir darüber denken. Mein Blick auf die Thematik ist geprägt von den Erfahrungen, die ich dazu seit 1984 in der Sozialpsychiatrie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) gesammelt habe. Meine Facharzt- Weiterbildung absolvierte ich noch unter der Leitung von Karl Peter Kisker und Erich Wulff, den Begründern des hannoverschen Modells der Gemeindepsychiatrie. Beide waren vertraut mit dem psychiatrisch-philosophischen Diskurs in Frankreich: Kisker übersetzte 1967 das Werk „La Conscience“ des französischen Psychopathologen Henry Ey.1 Wulff kam 1953 als junger Arzt mit einem Stipendium nach Paris, um am Collège de France die Phänomenologie zu studieren, nach eigener Aussage lernte er mit den Schriften von Maurice Merleau-Ponty Französisch.2 1959 nahm er am ersten Treffen deutsch- und französischsprachiger Psychiater bei Henry Ey in der Klinik Bonneval teil. Erich Wulff verdanke ich meinen bisher einzigen persönlichen Kontakt mit der Psychiatrie in Luxemburg. Er hatte die Einladung zu einem Vortrag bei der Eröffnung des Psychiatrie-Wochenendes in Walferdange im Mai 1996 an mich weitergegeben.3 An der Einführung der sektorisierten Psychiatrie in Hannover Anfang der 1970er Jahre war Manfred Bauer, der u.a. auch die Gemeindepsychiatrie in England studiert hatte, maßgeblich beteiligt.4

1999 lernte ich Wolfgang Werner kennen, als die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie ihre Jahrestagung in Saarbrücken veranstaltete, wo er einen Vortrag hielt und ich auf einem Forschungsforum referierte.5 Bei dieser Gelegenheit bat ich ihn um Unterstützung bei der Suche nach Autoren für ein Schwerpunktheft der Zeitschrift

„Sozialpsychiatrische Informationen“ über die Psychiatrie in Frankreich, und er lud mich spontan ein, ihn zu diesem Zweck in Merzig zu besuchen. Er zeigte mir seine Klinik, und wir wanderten auf dem Grenzweg zwischen dem Saarland und Lothringen. Sein damaliger Oberarzt Martin Kaiser fuhr mit mir über die Grenze nach Lorquin, wo wir etwas über die dortige Klinik erfuhren, eine Ambulanz in der Stadt und eine ausgelagerte Station in Phalsbourg besuchten. Die französischen Kollegen luden uns zu einem wunderbaren Mittagessen in ein Dorfgasthaus ein und sagten mir einen Beitrag für das geplante Schwerpunktheft zu.6

1 Ey H (1967): Das Bewusstsein. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von Karl Peter Kisker. Phänomenologisch-psychologische Forschungen Band 8. Berlin: Walter de Gruyter & Co.

2 Wulff EA (2001: Irrfahrten Autobiografie eines Psychiaters. Bonn: Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie- Verlag; S. 225.

3 Elgeti H (1996): Der Umgang mit psychisch Kranken in der Gemeinde. Vortrag zur Eröffnung des Psychiatrie- Wochenendes in Walferdange / Luxemburg am 2. Mai 1996 (unveröffentlichtes Manuskript).

4 Bauer M (1977): Sektorisierte Psychiatrie. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag.

5 Elgeti H (1999): Bedarf an stationärer Versorgung unter entwickelten gemeindepsychiatrischen Bedingungen am Beispiel Hannover (unveröffentlichtes Manuskript).

6 Pidolle A, Choffardet S (2002): Die Umsetzung des Sektorprinzips in der Psychiatrie: Das Beispiel des CHS Lorquin in Lothringen. Sozialpsychiatrische Informationen 32 (3): 25-29.

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Das Saarland ist mit rund einer Million Einwohnern etwas kleiner als die Region Hannover, seine fünf Landkreise umfassen 90.000 bis 200.000 Einwohner; der Regionalverband Saarbrücken ist doppelt so groß. Die Siedlungsdichte hat mit durchschnittlich 3,9 Einw. pro Hektar städtisches Niveau. Bei meinem Besuch in Merzig lernte ich einiges über die Auflösung des Landeskrankenhauses zugunsten psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern in jedem Landkreis in Anlehnung an das französische Sektormodell.7 Wolfgang Werner hielt auch nach Abschluss dieses bundesweit einzigartigen Projekts immer Ausschau nach anderswo laufenden zukunftsweisenden Entwicklungen. So initiierte er 2004 die Studienreise einer vom saarländischen Psychiatriereferenten Ingwardt Tauchert angeführten Expertendelegation nach Hannover, wo wir über Modellprojekte zur Gemeindepsychiatrie und stationären Akutversorgung berichteten. Im Jahr darauf kam dann eine Gruppe aus der Sozialpsychiatrie der MHH zu einem Gegenbesuch nach Merzig und Homburg an der Saar. Wir blieben weiterhin in Kontakt, und im Herbst 2013 fuhr ich noch einmal nach Merzig, um in kleinem Kreis dem Sozialminister unser Konzept zur Sozialraumorientierung, psychiatrischen Planung und Berichterstattung zu erläutern. Doch es gelang uns wieder nicht, die Politik zu motivieren, selbst die Initiative zu einer systematischen Weiterentwicklung der sozialen Psychiatrie in der Gemeinde zu ergreifen.

Das Großherzogtum Luxemburg hat 600.000 Einwohner und eine sehr unterschiedliche Siedlungsstruktur: städtisch verdichtet im Süden und gering besiedelt im Norden. Die 12 Kantone waren vor 2015 in drei Distrikten zusammengefasst. Ich kenne die Planungsstudie „Psychiatrie Luxemburg“ von Wulf Rössler aus dem Jahre 2005. Rössler registriert dort erste Bemühungen um den Aufbau dezentraler Strukturen zur Entlastung und Verkleinerung des Centre Hospitalier Neuro-Psychiatrique (CHNP) in Ettelbrück. Er übt aber Kritik an der

„trägen Umsetzung der Psychiatriereform“ und macht die drei Ebenen Politik, Struktur des Gesundheitssystems und Leistungserbringer dafür verantwortlich.8 Rössler wusste, wovon er redete; denn er war 1992 schon einmal vom Gesundheitsministerium des Großherzogtums beauftragt worden, eine Planungsstudie zu erstellen.9 Wie es in Luxemburg heute aussieht, ist mir unbekannt.

Die psychiatrische Versorgung in Frankreich brachte uns vor allem Tilo Held nahe.10 Er arbeitete von 1965 bis 1981 als Psychiater und Psychoanalytiker in Paris, auch als Leiter der Dienste im 13. Arrondissement, dem Pilotprojekt der Sektorpsychiatrie.

Dann erfuhr ich einiges bei den Vorbereitungen zum erwähnten Schwerpunktheft der

7 Werner W (1998): Auflösung ist machbar. Bonn: Psychiatrieverlag

8 Rössler W, Koch U (2005): Psychiatrie Luxemburg Planungsstudie 2005.

http://www.sante.public.lu/fr/publications/r/rapport-rossler-psychiatrie-lux-planungsstudie-2005- bestandeserhebung.pdf (letzter Zugriff: 04.10.2016)

9 Rössler W, Salize HJ, Häfner H (1993): Gemeindepsychiatrie: Grundlagen und Leitlinien. Planungsstudie Luxemburg. Innsbruck und Wien: Verlag Integrative Psychiatrie.

10 Held T (1990): Frankreich oder: Die Unverzichtbarkeit der Ideologie. In: Thom A, Wulff E (Hg.): Psychiatrie im Wandel Erfahrungen und Perspektiven in Ost und West. Bonn: Psychiatrie-Verlag; S. 462-478

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Sozialpsychiatrischen Informationen, aber das ist nun schon 15 Jahre her.11 Das Fachkrankenhaus in Lorquin hat für das Departement Moselle in Lothringen mit 1 Mio. Einw. wohl trotz der langjährigen Bemühungen um Dezentralisierung der stationären und ambulanten Behandlung noch etwas von dem, was die Anstalt in Merzig für das Saarland war und das CHNP in Ettelbrück für Luxemburg mit Abstrichen bis heute ist. Lothringen hat 2,3 Mio. Einwohner in vier Departements, ist mit durchschnittlich 1,0 Einw. pro Hektar vergleichsweise gering besiedelt und seit 2015 Teil der Region Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine. Entsprechend der Vorgaben aus Paris wurde pro Sektor ein Centre Médico-Psychologique (CMP) eingerichtet. Für jeweils mehrere Sektoren gibt es spezielle Versorgungsbereiche (Intersecteurs) mit ambulanten, teil- und vollstationären Angeboten, z.B. für die Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie oder forensische Psychiatrie.

2014 las ich in der Zeitschrift „Soziale Psychiatrie“ einen Beitrag zur aktuellen Entwicklung in Frankreich von Philippe Meyer.12 Er sah die Notwendigkeit, mit aller Kraft das Prinzip der Kontinuität der Behandlung im Rahmen der Sektorversorgung zu verteidigen und sich gegen zunehmende Ökonomisierung, Sparmaßnahmen und Fragmentierung der Versorgung zu stemmen. Jetzt fand ich im Internet zwei etwas ältere Texte zur französischen Psychiatrie: In einem Text von Elisabeth Giraud Baro aus dem Jahr 2009 steht, dass die Sektorpsychiatrie die psychosoziale Rehabilitation nicht gefördert hat und eine Integration medizinischer und sozialer Sichtweisen bei den Hilfen für Menschen mit seelischen Behinderungen noch aussteht.13 In einem anderen Artikel informierte Ursula Descamps 2011 über die ambulante medizinische Versorgungssituation, die abseits der sektorisiert arbeitenden CMP unübersichtlich strukturiert und ungleichmäßig verteilt zu sein scheint.14 Bei der Ausarbeitung dieses Vortrags erhielt ich außerdem einige Anregungen von Christa Widmaier-Berthold, die sich seit langer Zeit in einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe für die Verbindung zwischen dem Elsass und Baden-Württemberg engagiert. In dieser Arbeitsgruppe ist über die wechselseitigen Besuche in deutschen und französischen Kliniken und Einrichtungen der Eindruck entstanden, dass in den französischen Kliniken viele schwer und chronisch beeinträchtigte Menschen auf Langzeitstationen versorgt werden, die in Deutschland weitgehend im Heimbereich betreut werden, der sich parallel zum Abbau von Klinikbetten sehr stark ausgeweitet hat.

Die CMP in Frankreich werden oft mit den Sozialpsychiatrischen Diensten (SpDi) in Deutschland verglichen, aber das stimmt nicht ganz. Zwar sind beide Dienste für ein definiertes Gebiet zuständig, in Frankreich sind es rund 70.000 Einwohner, in

11 Elgeti H (2003): Frankreich und seine Psychiatrie: ein Annäherungsversuch. Sozialpsychiatrische Informationen 32 (3): 2-7.

12 Meyer P (2014): Neues wagen, Bewährtes verteidigen. Frankreich: Psychiatrie im Umbruch Perspektiven 2014. Soziale Psychiatrie 38 (1): 24.

13 Giraud Baro E (200): Psychosoziale Rehabilitation in Frankreich Konzepte und Umsetzung, aktuelle Situation und Perspektiven. http://www.dgsp-

ev.de/fileadmin/dgsp/pdfs/Texte_Anmeldecoupons/Rehabilitation_GiraudBaro.pdf (letzter Zugriff: 04.10.2016)

14 Descamps U (2010): Ambulante Versorgungssituation in Frankreich. http://www.forum-

gesundheitspolitik.de/dossier/PDF/AmbulanteVersorgunginFrankreich.pdf (letzter Zugriff: 04.10.2016)

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Deutschland ist es ein Landkreis oder eine kreisfreie Stadt, in größeren Kommunen oft mit Nebenstellen oder Außensprechstunden. Die CMP sind eng mit den Kliniken verknüpft; hauptsächlich ist dort krankenpflegerisches und ärztliches Personal beschäftigt, während in den SpDi Sozialpädagogik und Sozialarbeit die größte Berufsgruppe bilden. Der Träger des SpDi ist die Kommune oder – vor allem in Bayern und Baden-Württemberg – ein Verband der Freien Wohlfahrtspflege. Ihr Aufgabenspektrum ist nicht so einheitlich wie in Frankreich, sondern richtet sich nach den gesetzlichen Bestimmungen der einzelnen Bundesländer. Darüber hinaus gibt es auch zwischen den Kommunen eines Bundeslandes große Unterschiede in der Aufgabenwahrnehmung und bei der Personalausstattung.15

Das Saarland hat als einziges Bundesland gar keinen SpDi. Martin Kaiser hat dies einmal damit gerechtfertigt, dass dessen Funktionen durch eine Sektorisierung nach französischem Vorbild von der Klinik wahrgenommen werden könnte.16 Seine Argumentation blieb allerdings auch im Saarland nicht unwidersprochen, und es lohnt sich, weiter darüber zu diskutieren.17 Nach meinem Eindruck hat das Sektormodell in Frankreich und Luxemburg bisher weder die zentralen Anstalten abgeschafft noch den klinischen Blick durch psychosoziale Perspektiven relativiert.

Und auch im Saarland scheinen mir die Krankenhausärzte ihren traditionell dominierenden Einfluss auf das psychiatrische Versorgungssystem zu behaupten.

Mein Engagement für die Region Hannover, für Niedersachsen und Vorarlberg

Ich selbst habe mich seit 1985, dem Beginn meiner ambulanten Tätigkeit in der Sozialpsychiatrischen Poliklinik der MHH, nicht nur in der Krankenversorgung und Lehre engagiert, sondern auch in der Versorgungsforschung und Netzwerkarbeit.18 Später übernahm ich Funktionen der gemeindepsychiatrischen Fachberatung und Steuerungsunterstützung für die Sozialpolitik im Großraum Hannover (ab 1996), im Land Niedersachsen (ab 2007) und im österreichischen Bundesland Vorarlberg (ab 2003). Anfang 2012 ließ ich mich von der MHH beurlauben und nahm diese Aufgaben mit zur Region Hannover, die Ende 2001 von der Stadt und den 20 Kommunen des ehemaligen Landkreises Hannover gebildet wurde. Die Region ist u.a. auch Träger des SpDi mit einer Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche sowie dezentralen Beratungsstellen für Erwachsene in allen elf Versorgungssektoren. Als Mitglied der Stabsstelle Sozialplanung beim Dezernenten für soziale Infrastruktur bin ich auch an Aktivitäten zur besseren Koordination und Steuerung der Angebote sozialer und gesundheitlicher Daseinsvorsorge beteiligt.

15 Elgeti H, Albers M (Hg.) (2010): Hart am Wind Welchen Kurs nimmt die Sozialpsychiatrie? Köln: Psychiatrie- Verlag.

16 Kaiser M (2007): Wie geht es eigentlich ohne Sozialpsychiatrische Dienste im Saarland? Sozialpsychiatrische Informationen 37 (2): 39-41

17 Kiefer J (2010): Leserbrief zu „Wie geht es eigentlich ohne Sozialpsychiatrische Dienste im Saarland?“ In:

Elgeti H, Albers M (Hg.): Hart am Wind Welchen Kurs nimmt die Sozialpsychiatrie? Bonn: Psychiatrie-Verlag; S.

130-131

18 Elgeti H (2015): Ein mitmenschlicher Stützpunkt zwischen System und Lebenswelt. Persönlicher Rückblick auf die Geschichte der Sozialpsychiatrischen Poliklinik Hannover-List. Sozialpsychiatrische Informationen 45 (4): 3-8

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Ein Schwerpunkt meiner Tätigkeiten liegt in der Konzeption, Einführung und kontinuierlichen Weiterentwicklung von EDV-gestützten Programmen zur regionalen Berichterstattung und integrierten Hilfeplanung in der Psychiatrie.19 Ich bin beteiligt an der jährlichen Erstellung des Sozialpsychiatrischen Plans der Region Hannover.20 Enge Kontakte zu den sozialpolitischen Entscheidungsträgern ergaben sich auch bei der Erstellung des Vorarlberger Psychiatriekonzepts 2015 – 202521 und des Landespsychiatrieplans Niedersachsen, der im Frühjahr 2016 veröffentlicht wurde.22 Das Gleiche gilt für meine Funktionen als Geschäftsführer des Regionalen Fachbeirates Psychiatrie der Region Hannover und des Landesfachbeirates Psychiatrie Niedersachsen (LFBPN) sowie als Mitglied des Landespsychiatriebeirates der Vorarlberger Landesregierung. Darüber hinaus beteilige ich mich an der Koordination des bundesweiten Netzwerks Sozialpsychiatrischer Dienste, dass 2010 gegründet wurde.23

Vielleicht ist es so, dass die französischen Kolleginnen und Kollegen bei den Begriffen Evaluation und Planung, Koordination und Steuerung eher an lästige Pflichten denken, die ihnen die Bürokratie des Departements und der Region jährlich auferlegt, von oben nach unten weitergegeben werden, ohne dass sich in Ihrem Versorgungsalltag etwas vorwärtsbewegt. Wenn das so ist, möchte ich Sie bitten, diesen Assoziationen einen Augenblick zu widerstehen und sich einem Ansatz gegenüber zu öffnen, der auf eine Abstimmung von unten nach oben ausgerichtet ist, auf ethisch-fachlichen Grundsätzen aufbaut und auf der Partizipation aller Systempartner. Zentral ist für uns in Deutschland dabei die aktive Einbeziehung der von psychischer Erkrankung betroffenen Menschen und ihrer Angehörigen – das verstehen wir in Deutschland unter einer trialogischen Psychiatrie.

2. Definieren wir die Aufgabe: Was hat die Politik zu tun?

Qualitätssicherung der Versorgung nach ethisch-fachlichen Grundsätzen

Menschen mit schweren chronischen psychischen Erkrankungen sind besonderen Risiken ausgesetzt, was den Schutz ihrer Freiheit und Würde, Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Teilhabe angeht (Abbildung 1). Angst und Ohnmacht, Tendenzen

19 Bott O, Elgeti H, Schmidt S (2015): Entwicklung eines Sozialpsychiatrischen Informationsmanagements für Niedersachsen 2010 bis 2015. In: Elgeti H, Ziegenbein M (Hg.): Jahrbuch 2014/2015 Psychiatrie in

Niedersachsen (Band 7). Köln: Psychiatrie-Verlag; 202-215

20 Sozialpsychiatrischer Dienst der Region Hannover (Hg.): Sozialpsychiatrischer Plan der Region Hannover (Ausgaben 1998-2016). http://www.hannover.de/Leben-in-der-Region-

Hannover/Gesundheit/Beratungsstellen/Sozialpsychiatrischer-Verbund/Sozialpsychiatrischer-Plan

21 Elgeti H, Neubacher T (2015): Das neue Vorarlberger Psychiatriekonzept Bericht über einen Versuch, gute Arbeit gut zu planen. Sozialpsychiatrische Informationen 44 (4): 11-16

22 Landespsychiatrieplan Niedersachsen (2016). In: Elgeti H, Schmid R, Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Hg.): Jahrbuch 2016 Psychiatrie in Niedersachsen (Band 8). Köln:

Psychiatrie-Verlag; 20-63

23 Nähere Informationen dazu bietet die Homepage des Netzwerks: http://www.sozialpsychiatrische-dienste.de

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zum sozialen Rückzug und zur Ablehnung von Hilfen können sie in die Verelendung führen. In Kombination mit einem gelegentlich unbeherrschten Machtstreben auch von Helfern sind sie häufiger Objekt persönlicher Willkür. Ausgrenzungstendenzen der Gesellschaft verstärken ihre soziale Exklusion: Trotz der rechtlich verbindlichen UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) sind sozialdarwinistische Tendenzen auch in der Sozialgesetzgebung weiterhin allgegenwärtig. So laufen die Betroffenen Gefahr, entweder in Sondereinrichtungen durch Überfürsorglichkeit bei der Entfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten behindert zu werden oder durch strukturelle Hürden gar nicht die erforderlichen Hilfen zu erhalten.

Abbildung 1: Beachtung der Risiken für Freiheit und Würde psychisch Kranker Angst und

Ohnmacht der Kranken

kollegiale Beratung und Teamarbeit!

Mangel an notwendigen Hilfen (Verelendung)

sozialpolitisches Engagement!

Rückzug und Ablehnung

von Hilfen

Machtmissbrauch von Helfern (Willkür)

Fürsorglichkeit!

Behinderung von Hilfen durch strukturelle Hürden (Barrieren) Freiheit und Würde der Kranken

schützen, durch Hilfen Selbstbestimmung und Teilhabe

fördern Empowerment!

Machtstreben von

Helfern

Behinderung der Entfaltung eigener Fähigkeiten (Überfürsorglichkeit)

Ausgrenzungs- tendenzen der

Gesellschaft Einige ethisch-fachliche Grundsätze können dabei helfen, diese Risiken zu beachten und sich zu bemühen, sie zu minimieren. Kollegiale Beratung und Teamarbeit helfen gegen die persönliche Willkür der professionellen Helfer, eine kluge Mischung von Fürsorglichkeit und Empowerment wirkt gegen Verelendung und Überfürsorglichkeit.

Aber auch sozialpolitisches Engagement ist vonnöten, um Barrieren zu beseitigen, die den Visionen Inklusion und Partizipation der UN-BRK im Wege stehen. Eine dazu erforderliche verstärkte Sozialraumorientierung der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen ist vielleicht die größte Herausforderung.24 Für mich gehört es zu den Aufgaben der Politik, sich mit allen Systempartnern einschließlich der Selbsthilfeinitiativen der Betroffenen und ihrer Angehörigen auf solche Grundsätze zu einigen und sie als Leitlinien der Psychiatrieplanung verbindlich zu machen.

Zumindest in Deutschland benötigen wir 40 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete keine neuen bundesweiten Expertenpapiere, sondern eine systematische Evaluation und Planung der Versorgung in Verantwortung der Bundesländer und Kommunen.25

24 Elgeti H (2015): Was bedeuten Inklusion und Sozialraumorientierung für die Sozialpsychiatrie?

Sozialpsychiatrische Informationen 45 (2): 19-22

25 Elgeti H (2016): Wo stehen wir nach 40 Jahren Psychiatriereform? Sozialpsychiatrische Informationen 46 (2):

56-60

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Während inzwischen einige Bundesländer in ihren Psychisch-Kranken-Gesetzen auch eine Landespsychiatrieplanung vorsehen, gilt das im Hinblick auf kommunale Pläne bisher nur für Niedersachsen. Hier muss der SpDi seit 1997 im Benehmen mit dem Sozialpsychiatrischen Verbund einen Sozialpsychiatrischen Plan über den Bedarf und das gegenwärtige Angebot an Hilfen erstellen und regelmäßig fortschreiben. Mangels verbindlicher Vorgaben und ausreichend verfügbarer Fachkompetenz in den SpDi erfüllen die Ergebnisse allerdings noch nicht überall die Erwartungen an einen solchen Plan. Die Region Hannover erstellt jährlich einen Plan, mit Berichten der Verbundgremien, Diskursen zu einem Schwerpunktthema sowie Auswertungen zur regionalen Psychiatrieberichterstattung und Hilfeplanung.

Der 2016 veröffentlichte Landespsychiatrieplan Niedersachsen (LPP-N) enthält neben ethisch-fachlichen Grundsätzen und einer Bestandsanalyse auch einige relativ konkrete Aussagen zu prioritären Entwicklungsfeldern.

Flächendeckende bedarfsgerechte soziale Infrastruktur zur Daseinsvorsorge

Eine große Bedeutung für den Abbau von Barrieren auf dem Weg zu mehr Inklusion und Partizipation behinderter Menschen in der Gesellschaft hat die Sorge für eine flächendeckende bedarfsgerechte soziale Infrastruktur. Die politischen Gebietskörperschaften tragen Verantwortung für die Daseinsvorsorge auch ihrer psychisch erkrankten und seelisch behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger. Je stärker die in Konkurrenz zueinander stehenden Kostenträger und Leistungsanbieter der psychiatrischen Versorgung ihre Partialinteressen verfolgen, desto notwendiger ist eine unabhängige sozialpolitische Rahmensetzung, Koordination und Steuerung.

Solange die Politik die Versorgungsplanung den jeweiligen Kostenträgern überlässt oder sich nur den Wünschen der Leistungserbringer beugt, werden diejenigen das Nachsehen haben, mit denen man weder Kosten sparen noch Gewinn machen kann.

Die Kommunen sollten als Basis ihrer Sozialplanung strategische Handlungsfelder definieren und festlegen, wie die Arbeit der Akteure in der eigenen Verwaltung und im regionalen Netzwerk zu koordinieren ist. Das Dezernat für Soziale Infrastruktur der Region Hannover hat dazu neben der überall zu berücksichtigenden proaktiven Entwicklung von Sozialräumen acht Handlungsfelder bestimmt (Abbildung 2). Sie beziehen sich auf Lebensphasen mit besonderem Förder- und Unterstützungsbedarf (Kindheit, Jugend und Alter), auf Kernbereiche gesellschaftlichen Lebens (Wohnen und Arbeiten) sowie auf Grundformen sozialer Ungleichheit (Behinderung, Migration und Armut). Die Psychiatrie stellt hier kein eigenes Handlungsfeld dar, ihre Kompetenz und Erfahrung wird vielmehr in allen Handlungsfeldern benötigt. Eine soziale Psychiatrie muss künftig also viel stärker als bisher in die gesamte soziale Infrastruktur der Gemeinde eingebettet sein, statt nur Menschen, mit denen man dort nicht zurechtkommt, in ihr eigenes Sondersystem aufzunehmen.

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Abbildung 2: strategische Handlungsfelder der Region Hannover

Sozialräume proaktiv entwickeln 1 Kinder und ihre Familien stärken

Lebensphasen mit besonderem Förder- und

Unterstützungsbedarf 2 Jugendliche und junge Erwachsene bei der

Verselbständigung unterstützen

3 Selbstbestimmung und Teilhabe im Alter sichern

4 Teilhabe durch Arbeit und Beschäftigung ermöglichen Kernbereiche gesell- schaftlichen Lebens 5 Bedarfsgerechtes und bezahlbares Wohnen sichern

6 Inklusion von Menschen mit Behinderung fördern

Grundformen

sozialer Ungleichheit 7 Menschen mit Migrationserfahrung integrieren

8 Armutsfolgen mildern

Für Menschen mit psychischen Erkrankungen und seelischen Behinderungen gibt es ein ganzes Kaleidoskop von spezifischen Hilfsangeboten. Sie erbringen für verschiedene Kostenträger ambulante, teil- oder vollstationäre Leistungen. Zusätzlich zur hausärztlichen Versorgung gibt es psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische Behandlungen. Diese lassen sich wiederum unterscheiden von komplementären Hilfen zum Wohnen und zur Selbstversorgung, zur Arbeit und Ausbildung, sozialer Beziehungsgestaltung und kultureller Teilhabe (Abbildung 3).

Erforderlich ist auch noch ein interdisziplinärer ambulanter Dienst für diejenigen hilfsbedürftigen Menschen, die von den vorrangig zuständigen Angeboten noch nicht oder nicht mehr erreicht werden. Mit Zuständigkeit für ein definiertes Einzugsgebiet soll dieser Dienst in der Lage sein, ohne Wartezeit und ggf. aufsuchend eine niederschwellige Beratung und Betreuung, Krisenintervention und Notfallhilfe zu leisten. Das sind in vielen deutschen Bundesländern Kernaufgaben der SpDi.

Abbildung 3: Das Kaleidoskop der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen

ambulant teilstationär stationär

Behandlung organisiert in Praxen organisiert von Kliniken hausärztlich fachärztlich spezialfachärztlich

psychotherapeutisch / psychosomatisch interdisziplinäre niederschwellige Beratung und

Betreuung, ggf. aufsuchende Krisenintervention und Notfallhilfe (z.B. Sozialpsychiatrischer Dienst)

komplementäre Hilfen

häusliche Pflege Hilfen zum Wohnen und zur

Selbstversorgung Heime

ambulante Hilfen zur Arbeit und Ausbildung: Arbeits- Therapie, Arbeitsassistenz (z.B. IFD), Zuverdienst

Werkstätten, Integrationsfirma Kontaktstelle und

Sozialcafé

Hilfen zur Beziehungsgestaltung und kulturellen Teilhabe (wochen-/ tagesstrukturierende Programme)

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Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen den Prinzipien der Sozialraumorientierung und dem Anspruch auf Zugang zu spezialisierten Fachdiensten, die bei besonderen Problemlagen eine Voraussetzung für wirksame Hilfeleistung sein können. Solche Spezialangebote werden häufig wohnortfern und bisher oft auch ausschließlich im stationären Setting angeboten. Aufgabe einer vorausschauenden Sozialpolitik ist es, sich um ein sinnvoll abgestuftes Hilfesystem mit einer guten Balance zwischen den Forderungen nach Lebensweltbezug und nach Spezialkompetenz zu bemühen.

Dabei gilt das Prinzip, so viel Unterstützung wie möglich ambulant, dezentral und integriert durch Generalisten anzubieten. Innerhalb einer Versorgungsregion muss es aber auch so viel Spezialisten wie nötig geben, die an mehreren Standorten oder an zentraler Stelle erreichbar sind und bei Bedarf aufsuchend tätig werden können.

Im Zuge der Erstellung des LPP-N habe ich für das Bundesland die Definition von 12 Versorgungsregionen unterhalb der Ebene der ehemaligen Regierungsbezirke vorgeschlagen.26 Die insgesamt 46 Landkreise und kreisfreien Städte in Niedersachsen sollten bei der Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgung zu einer verstärkten interkommunalen Zusammenarbeit ermutigt werden. Ziel wäre ein abgestuftes Hilfesystem in jeder Versorgungsregion, in der es für alle psychisch erkrankten Personen ein geeignetes Angebot gibt (Abbildung 4). Allgemeine Basisdienste und lokale Netzwerke in den Landgemeinden bzw. Stadtbezirken sollten eng kooperieren mit gut erreichbaren Fachdiensten und entsprechenden Netzwerken im Versorgungssektor, auf kommunaler oder regionaler Ebene. Ein Gemeindepsychiatrisches Zentrum (GPZ) könnte dabei die wichtigsten Aktivitäten im Versorgungsraum bündeln. Dort sollte der kommunale SpDi mindestens mit einer Institutsambulanz (PIA) und einer Tagesklinik der zuständigen psychiatrischen Klinik zusammenarbeiten.

Abbildung 4: Modell eines abgestuften Versorgungssystems für Niedersachsen Versorgungsebene Richtzahl

Einwohner Netzwerke Hilfsangebote Zentrum der Aktivitäten Land Niedersachsen 7,8 Mio. landesweit

Psy-Netzwerke

Psy-Kompetenz- zentren überregional

landesweit Psy- Koordinations-

stellen regional ehemaliger

Regierungsbezirk 1,7-2,4 Mio.

Versorgungsregion 0,5-1,1 Mio.

regional Psy-Netzwerke

teilregional

zentral Psy-Fachdienste

dezentral Versorgungsraum

(Kommune, Sektor) 50-100 Tsd.

Gemeinde- psychiatrisches

Zentrum Sozialregion (Stadt-

bezirk, Gemeinde) ca. 20 Tsd. lokale Netze allgemeine

Basisdienste integrierte Anlaufstellen Sozialraum

(Dorf, Quartier) ca. 2 Tsd. Selbst-, Laien- und Bürgerhilfe Nachbarschafts- treffs

26 Elgeti H (2015): Versorgungsregionen verbessern Vergleiche Auswertungsbericht zur

Landespsychiatrieberichterstattung für das Berichtsjahr 2013. In: Elgeti H, Ziegenbein M (Hg.): Jahrbuch 2014/2015 Psychiatrie in Niedersachsen. Köln: Psychiatrie-Verlag; 172-188

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Eine in Süddeutschland verbreitete GPZ-Variante operiert mit einer Tagesstätte für seelisch behinderte Menschen statt mit einer Tagesklinik, sowie mit einem SpDi, der von einem gemeinnützigen Träger der Freien Wohlfahrtspflege betrieben wird. Das hat eine Reihe von Vor- und Nachteilen, auf die ich hier aus Zeitgründen nicht näher eingehen kann.

3. Organisieren wir den Wandel: Wo können wir ansetzen?

Der Zirkelprozess von Planung, Umsetzung, Berichterstattung und Evaluation

Eine nachhaltig wirksame Qualitätsentwicklung der psychiatrischen Versorgung kann nur gelingen, wenn der PDCA-Zirkelprozess von Planung (Plan), Umsetzung (Do), Berichterstattung (Check), Evaluation (Act) und Fortschreibung der Planung im Alltag ernst genommen wird. Dabei müssen die einzelnen Ebenen gut aufeinander bezogen werden: Die individuelle Hilfeleistung ist abhängig von ihrer institutionellen Bereitstellung durch Dienste und Einrichtungen. Deren Mitwirkung im regionalen Verbund bedarf der politischen Rahmensetzung durch die Kommunen und das Land (Abbildung 5). Wer Netzwerke koordinieren und die Qualitätsentwicklung der Versorgung steuern will, benötigt Dialoge, Daten und Diskurse.27 Dazu müssen sich die Systempartner auf gemeinsame Regeln zur Kommunikation und Kooperation, zur Erhebung und Auswertung von Daten einigen. Die Initiative dazu kann nur von der Politik kommen, und die Moderation des Prozesses zur Einigung auf solche Regeln bedarf der entschiedenen politischen Unterstützung.

Abbildung 5: Qualitätsentwicklung: Zirkelprozess auf verschiedenen Ebenen Ebenen der

Qualitäts- entwicklung

Plan Definition und

Konzeption

Do Vereinbarung und Intervention

Check Dokumentation und

Berichterstattung

Act Analyse und Interpretation Land und

Kommunen Psychiatrieplan erstellen

Entwicklungsprojekte initiieren Psychiatrieberichterstattung aufbauen Verfahren zur Evaluation festlegen regionale

Verbünde Netzwerkgremien koordinieren

Qualitätsentwicklung fördern quantitative Daten vergleichend auswerten regionale Beschwerdestellen einrichten Dienste und

Einrichtungen Organisationen weiterentwickeln

Personal aus-, weiter- u. fortbilden wichtige Daten erheben und weiterleiten Auswertungsergebnisse diskutieren individuelle

Hilfeleistung Bedarf und Zielsetzung ermitteln

Hilfe vereinbaren und durchführen Nachrichten und Meinungen austauschen Leistungen dokumentieren und berichten Gerade bei chronisch psychisch erkrankten Menschen mit einem komplexen Hilfebedarf sind oft mehrere Dienste und Einrichtungen nacheinander oder gleichzeitig an der individuellen Leistungserbringung beteiligt. In diesen Fällen ist eine gute Koordination der Maßnahmen im Einzelfall (Casemanagement) notwendig, um ein unverbundenes Neben- oder Gegeneinander der einzelnen Hilfen zu

27 Elgeti H (2003): Dialoge, Daten, Diskurse zur Qualitätsentwicklung im Sozialpsychiatrischen Verbund.

Sozialpsychiatrische Informationen 2003; 33(1): 24-29

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verhindern. Es ist eine Aufgabe der Kommunal- und Landespolitik, in Zusammenarbeit mit den Systempartnern geeignete Verfahren für eine Rechtskreis- übergreifende personenbezogene Planung, Koordination und Evaluation der Hilfen zu etablieren. Dabei sind auch Regelungen zu treffen, wie die vielfältigen Erfahrungen aus der Hilfeplanung im Einzelfall für die Weiterentwicklung des Versorgungssystems (Caremanagement) fruchtbar gemacht werden können.

Beispiele guter Praxis sind dabei ebenso wertvoll wie Hinweise auf Über-, Unter- oder Fehlversorgung. Der SpDi kann hier eine wichtige Rolle spielen; denn er ist ein unabhängiger Fachdienst mit intimer Kenntnis des Versorgungsraums und des verfügbaren Netzwerks an Hilfen.

Vorschläge zur Umsetzung des Landespsychiatrieplans Niedersachsen

Zum Abschluss und als Zusammenfassung meines Vortrags möchte ich noch ein Positionspapier erwähnen, das der LFBPN im August dieses Jahres zur zielorientierten Umsetzung des LPP-N beschlossen hat. Es thematisiert Ansatzpunkte für eine politische Unterstützung der Qualitätsentwicklung in der psychiatrischen Versorgung in Niedersachsen.28 Der LFBPN hat dem Sozialministerium zu allen sieben Themenfeldern seine aktive Mitwirkung angeboten.

1. Die wichtigen Systempartner an einen Tisch bringen!

Die Umsetzung der im Plan ausgesprochenen Empfehlungen kann nur gelingen, wenn sie als Gemeinschaftsaufgabe aufgefasst wird. Die Federführung hat das Sozialministerium, es muss diesen Prozess initiieren und moderieren. Die Kommunen und die Sozialversicherungsträger sind ebenso einzubeziehen wie die Leistungserbringer und die Interessenvertretungen der Nutzenden. Um die Kooperation der Systempartner sicherzustellen, sind regelmäßige Gesprächsrunden erforderlich zur Information über den Stand der Umsetzung und zum Austausch von Stellungnahmen. Darüber hinaus sollten zu konkreten Entwicklungsprojekten themenbezogene Werkstattgespräche stattfinden, um Ideen zu sammeln und gemeinsam Umsetzungs-Konzepte zu erarbeiten.

2. Die ethisch-fachlichen Grundsätze im Alltagshandeln verankern!

Die im Plan formulierten ethisch-fachlichen Grundsätze für die psychiatrische Arbeit in Niedersachsen lassen sich nur im Alltagshandeln verankern, wenn der Trialog zwischen Fachleuten, Betroffenen und ihren Angehörigen zur Selbstverständlichkeit wird. Dazu sollten Trialog-Foren in den Sozialpsychiatrischen Verbünden aller Gebietskörperschaften initiiert und organisatorisch unterstützt werden. In den Gremien der Verbünde und bei der Fortschreibung der Sozialpsychiatrischen Pläne ist der aktuelle Entwicklungsstand auf dem Weg zu einer trialogischen Psychiatrie regelmäßig zu thematisieren und die Ergebnisse an das Land zu melden. Außerdem

28 Elgeti H (2016): Ein Plan wird gemacht, um die Wirklichkeit zu verändern Zur Umsetzung des

Landespsychiatrieplans Niedersachsen. In: Elgeti H, Schmid R, Niedersächsisches Ministerium für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung (Hg.): a.a.O.; 12-17.

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sollte das Land die Stärkung der Interessenvertretung von Betroffenen und Angehörigen in den Kommunen und auf Landesebene sowie die Selbsthilfe- Freundlichkeit psychiatrischer Hilfsangebote durch geeignete Projekte fördern.

3. Individuelle Rechtskreis-übergreifende Hilfeplanung einführen!

Die Landkreise und kreisfreien Städte sollten im Rahmen ihrer Verantwortung für die Daseinsfürsorge Maßnahmen ergreifen, um für Menschen mit komplexem Hilfebedarf eine Kostenträger-übergreifende und personenzentrierte „integrierte“ Hilfeplanung zu realisieren, entsprechend anerkannter Standards und unter Einbeziehung des SpDi.

Das Land sollte die verschiedenen Leistungsträger zu einer konstruktiven Zusammenarbeit in dieser Sache auffordern.

4. Gemeindepsychiatrische Zentren in den Kommunen aufbauen!

Gefördert werden sollten Kooperationsprojekte zum GPZ zwischen einzelnen Landkreisen bzw. kreisfreien Städten und den für ihr Gebiet zuständigen allgemeinpsychiatrischen Kliniken. Sie bieten die Chance, zu einem institutionellen Kristallisationskern der Umsetzung des Plans in den Gebietskörperschaften zu werden. Kernbausteine sollten der SpDi, eine allgemeinpsychiatrische Tagesklinik und eine PIA sein, zuständig für ein überschaubares Gebiet von rund 100.000 Einwohnern. Zu den Aufgaben eines GPZ gehört insbesondere auch ein ambulant- aufsuchender interdisziplinärer Krisen- und Notfalldienst während der normalen Öffnungszeiten. Die Einbeziehung weiterer Hilfsangebote in das Leistungsspektrum sollte entsprechend der regionalen Gegebenheiten erwogen werden.

5. Interkommunale Zusammenarbeit in der Versorgungsregion entwickeln!

Eine bedarfsgerechte und wohnortnahe gemeindepsychiatrische Versorgung lässt sich nur im Rahmen eines sinnvoll abgestuften Hilfesystems innerhalb einer Vollversorgungsregion konzipieren. Für die Landespsychiatrieberichterstattung wurde bereits ein Konzept für 12 Versorgungsregionen entwickelt. Auf dessen Grundlage sollte das Land die interkommunale Zusammenarbeit zwischen den Gebietskörperschaften einer Versorgungsregion fördern, auch im Hinblick auf die Identifizierung prioritärer Handlungsfelder bei der Schließung von Versorgungslücken und bei der Qualitätsentwicklung psychiatrischer Hilfen.

6. Landespsychiatrieberichterstattung kooperativ und koordiniert ausbauen!

Die Umsetzung der Empfehlungen zum Ausbau und zur Weiterentwicklung der Landespsychiatrieberichterstattung wird umso eher gelingen, je besser die Beteiligten miteinander kooperieren und ihre Aktivitäten koordinieren. Zu diesem Zweck sollte in Abstimmung mit den kommunalen Spitzenverbänden eine Landesstelle Psychiatriekoordination unter dem Dach des Niedersächsischen Landesgesundheitsamtes (NLGA) eingerichtet werden. Hier sollten das Fachwissen und die Datenquellen insbesondere aus dem NLGA, dem Sozialministerium sowie der Geschäftsstelle des LFBPN zusammengefasst werden; weitere Datenhalter sind zur Kooperation einzuladen.

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7. Die Umsetzung der Empfehlungen mit einem Projektmanagement begleiten!

Der Landespsychiatrieplan definiert sieben prioritäre Entwicklungsfelder, für deren Bearbeitung das Land unbedingt ein leistungsfähiges Projektmanagement benötigt.

Nur so kann es gelingen, die einzelnen Entwicklungsprojekte zielorientiert auszurichten, aufeinander abzustimmen, ihren Verlauf im Blick zu behalten und auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Auch wenn leider nicht als prioritäres Entwicklungsfeld ausgewiesen, sollte die Teilhabe an Arbeit besondere Aufmerksamkeit erhalten. Das betrifft den Erhalt, die Entwicklung und Wiedergewinnung eines Arbeitsplatzes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ebenso wie Zuverdienst-Möglichkeiten für schwer beeinträchtigte Menschen. Im Landespsychiatrieplan wird empfohlen, den LFBPN in das Controlling seiner Umsetzung einzubeziehen. In diesem Zusammenhang sollte er die Funktion eines Beirats übernehmen und Gelegenheit erhalten, sich regelmäßig über den Fortgang der Entwicklungsprojekte zu informieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Anschrift des Verfassers Dr. med. Hermann Elgeti

Dezernat für soziale Infrastruktur der Region Hannover Stabsstelle Sozialplanung

Hildesheimer Str. 20 30169 Hannover

hermann.elgeti@region-hannover.de

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Verantwortung übernehmen!

Kommunal- und landespolitische Aufgaben bei der Weiterentwicklung

der psychiatrischen Versorgung

Vortrag von Hermann Elgeti auf dem 89. Sar-Lor-Lux-Symposion

„Soziale Psychiatrie in der Gemeinde – quo vadis? 140 Jahre Psychiatrie in Merzig“ am 09.11.2016 in der Stadthalle Merzig 1. Informieren wir uns: Wie läuft es andernorts?

2. Definieren wir die Aufgabe: Was hat die Politik zu tun?

3. Organisieren wir den Wandel: Wo können wir ansetzen?

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1. Informieren wir uns: Wie läuft es andernorts? (3)

Lothringen mit seinen vier Departements als Teil der Region Alsace-Champagne-Ardenne-Lorraine

4 Einwohner-

zahl

Bevölkerungs- dichte (E/ha)

Lorraine 2.345.197 1,0

Departements

Meurthe-et-Moselle 731.004 1,4

Meuse 192.094 3,1

Moselle 1.046.873 1,7

Vosges 375.226 0,6

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Referenzen

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