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Archiv "Stottern bei Kindern" (25.06.1990)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT

DIE ÜBERSICHT

Stottern bei Kindern

Ein noch ungelöstes ätiologisches und therapeutisches Problem

Günter Wirth

S

tottern ist nur ein Sym- ptom beziehungsweise ein Syndrom einer immer noch unbekannten Funk- tionsstörung. Es handelt sich nicht um ein einheitliches Krankheitsbild. Mehrere Organsy- steme sind zugleich betroffen. Das Phänomen Stottern stellt sich daher bei jedem Stotterer bezüglich Ver- ursachung, Symptomatik, Verlauf, Therapieindikation, Therapiewahl und Prognose unterschiedlich dar.

Die Sprechablaufstörung Stottern ist somit nur die maßgebliche Auffällig- keit der Kommunikationsbehinde- rung Stottern. Vielfältige zusätzliche Begleiterscheinungen sind vorhan- den. Vier Prozent der Kinder sind vom Stottern betroffen, 75 Prozent davon sind Knaben.

Entstehungstheorien

Am Zustandekommen des Syn- droms Stottern sind in individuell unterschiedlicher Verteilung und Gewichtung körperliche, seelische und interpersonelle Faktoren betei- ligt. Die somatischen Entstehungs- theorien sind zur Erklärung der Ver- ursachung und Entstehung des Stot- terns geeignet, die psychologischen Erklärungsversuche dagegen mehr für seine Entwicklung und Aufrecht- erhaltung.

Eindimensionale Erklärungsver- suche des kindlichen Stotterns kön- nen das äußerst vielschichtige Pro- blem des Stotterns nicht erklären.

Stottern ist vielmehr ein multidimen- sionales Problem. Eine Vielzahl von Faktoren sind nämlich an seinem Entstehen beteiligt, die bei jedem stotternden Kind herausgearbeitet werden müssen, obwohl wir einige wichtige Ursachenfaktoren über- haupt noch nicht kennen. Sogenann- te Risikofaktoren für die Entstehung des Stotterns beim Kind sind: Stot-

Im Hinblick auf die insgesamt nicht so günstige Prognose des Stotterns bleibt dieses Störungs- bild letztlich trotz des Vorhanden- seins verschiedenster Therapie- programme immer noch ein un- gelöstes therapeutisches, aber auch ätiologisches Problem.

tern in der Familie, verzögerte Sprachentwicklung, entwicklungsbe- dingte Sprechablaufstörungen oder eine ausgeprägte Selbstunsicherheit des Kindes.

Bei familiärer Disposition beim Stottern wird nur die Anlage vererbt.

Nur unter gewissen, das heißt zum Teil uns noch unbekannten inneren und äußeren Bedingungen kommt es zur klinischen Manifestation. Bei 30 Prozent der Stotterer findet man stotternde Verwandte, besonders vä- terlicherseits. Bei Zwillingsuntersu- chungen fand man, daß der zweite zweieiige Zwilling ein Stotterrisiko von 32 Prozent, der zweite eineiige Zwilling ein solches von 77 Prozent hat. Geschwister eines Stotterers ha- ben dagegen nur ein Risiko von 20 Prozent.

Auch organische Faktoren, wie zum Beispiel frühkindliche Hirn- schäden, Wahrnehmungsstörungen, Störungen peripherer motorischer Abläufe und deren Koordination oder Fehler in der zentralen Steue- rung sind wahrscheinlich nur Teilur- sachen eines Stotterns. Das gleiche gilt für Umweltfaktoren und seeli- sche Ereignisse.

Schockerlebnisse als Ursache ei- nes Stotterns kommen nur in Frage, wenn die Sprache vor dem Ereignis normal beziehungsweise altersent-

Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie (Direktor: Professor Dr. med. Günter Wirth), Hals-Nasen-Ohren- klinik der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

sprechend war, es sich um ein ganz außergewöhnliches Schreckerlebnis gehandelt hat, das Ereignis sofort zu einem Stottern geführt hat und kei- ne hirnorganischen Veränderungen oder pathologischen neurologischen Befunde vorliegen.

Beginn des Stotterns

Stottern beginnt meistens (66 Prozent der Fälle) während der Sprachentwicklung im dritten bis sechsten Lebensjahr, selten zum Zeitpunkt der Einschulung im sechs- ten bis achten Lebensjahr, noch sel- tener während der Pubertät im 12.

bis 15. Lebensjahr und ganz selten erst im Erwachsenenalter.

Entwicklungsstottern: Ein ech- tes Stottern liegt beim Entwicklungs- stottern noch nicht vor. Es handelt sich beim Entwicklungsstottern viel- mehr um eine physiologische Phase nichtflüssigen Sprechens während der Sprachentwicklung, also zwi- schen dem dritten bis sechsten Le- bensjahr. Sie beruht auf einem Miß- verhältnis zwischen motorischer Sprechgeschicklichkeit und Denk- vorgang. Entweder kommen also die gedankliche Gliederung und der for- male verbale Entwurf der bereits gut ausgebildeten motorischen Sprech- geschicklichkeit nicht nach, oder die motorische Sprechgeschicklichkeit kann umgekehrt dem raschen Ge- dankengang nicht folgen. Die Folge sind Unterbrechungen des Redeflus- ses, gelegentliches Wiederholen von Wörtern und Satzteilen und Verwi- schungen von Lauten und Silben, nur vorübergehendes Auftreten des Stotterns, kein Störungsbewußtsein.

Echtes chronisches Stottern: Bei fehlerhafter Verhaltensweise der Umwelt gegenüber der Sprechunge- schicklichkeit eines Kindes, bei zu- grundeliegender familiärer Sprach- schwäche, belastenden seelischen Umständen, Bewußtwerden norma- ler Sprechunterbrechungen und dem Versuch, diese mit erhöhtem Artiku- lationsdruck zu überwinden, kann sich schließlich aus dem Entwick- lungsstottern ein

echtes Stottern ent- wickeln.

Nur selten tritt Stottern plötz- lich auf. Stottern ist somit ein Ent- wicklungsphänomen. Es nimmt im Dt. Ärztebl. 87, Heft 25/26, 25. Juni 1990 (57) A-2061

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Kindesalter seinen Ausgang von ei- ner sprachlichen Auffälligkeit, die selbst nicht als Stottern zu bezeich- nen ist. Die Variablen, die tatsäch- lich für die Herausbildung eines kindlichen chronischen Stotterns re- levant sind, sind also bis heute nur vorläufig bekannt.

Trotz des Vorliegens zahlreicher Richtlinienschemata läßt sich daher noch keine eindeutige Abgrenzung zwischen Entwicklungsstottern und echtem chronischen Stottern vorneh- men; insbesondere läßt sich nicht si- cher voraussagen, ob sich aus einem Entwicklungsstottern ein echtes Stottern entwickelt. Der Wert einer Beurteilung einer kindlichen Sprech- unflüssigkeit durch einen erfahrenen Untersucher oder Therapeuten darf daher nicht unterschätzt werden.

Eine Beratung der Eltern bei ei- nem Entwicklungsstottern ist daher immer erforderlich. Den Eltern wird hierbei empfohlen, in Gegenwart des Kindes langsam zu sprechen, dem Kind Gelegenheit zu geben, sich zu äußern, ohne daß die Eltern Unge- duld zeigen, das Kind nicht zu ver- bessern, keine Satzergänzungen vor- zunehmen, aufregende Situationen vom Kind fernzuhalten, eine beruhi- gende Umgebung herzustellen sowie ein Bewußtwerden der Störung beim Kind zu vermeiden.

Therapie des

kindlichen Stotterns

Auf dem Hintergrund der unter- schiedlichsten theoretischen Vor- stellungen über Entstehung, Auf- rechterhaltung und Verlauf des Stot- terns beim Kind sind eine Vielzahl von Behandlungsansätzen entwickelt worden. Es handelt sich zumeist um komplexe methodenkombinierte Therapiepakete. Man kann sym- ptomorientierte, psychotherapeu- tisch-psychosozial angelegte und mehrdimensionale Therapieansätze unterscheiden. Je nach Störungs- schwerpunkt bei dem betreffenden Kind werden Inhalte der verschie- densten Therapieansätze kombiniert angewandt. Auf der Grundlage des Balbutiogramms (Erhebung thera- pierelevanter Daten), also einer indi- viduellen Diagnostik, werden die

speziellen Therapieansatzpunkte er- mittelt. Es erfolgt sowohl direkt eine Behandlung des Kindes als auch be- gleitend eine indirekte Behandlung über eine systematische Elternar- beit.

Die direkte Behandlung des Kindes beinhaltet eine Ausweitung des bereits vorhandenen flüssigen Sprechmusters durch ein Sprechauf- bauprogramm mit Hilfe einer positi- ven Verstärkungstechnik sowie eine Übertragung der erreichten Sprech- flüssigkeit auf verschiedenste Situa- tionen und Lebensbereiche mit Hil- fe eines sogenannten Transferpro- gramms

Oder es wird das vorhandene Sprechmuster zu verändern versucht durch weiche Stimmeinsätze und fließende Übergänge zwischen den Lauten, durch Reduktion des Sprechtempos, Einsatz von Tiefat- mung sowie einer Reduktion der Phonations- und Artikulationsbewe- gungen. Weiterhin werden Techni- ken zur Modifikation von Blockie- rungen vermittelt.

Bei der indirekten Behandlung finden Behandlungs- und Beratungs- konzepte für die Eltern Anwendung.

Ziel ist, eine erhöhte kognitive Ver- arbeitungsmöglichkeit des Stotterns auf seiten der Eltern zu erreichen, weiterhin eine Veränderung von Verhaltensmerkmalen der Eltern, die für das Sprechverhalten des Kin- des relevant sind. Außerdem wird auf eine Veränderung der emotio- nal-affektiven Verarbeitungsmög- lichkeiten der Eltern hingewirkt, die das Stottern bei diesen bewirkt.

Es gibt eine Fülle von Therapie- programmen und Einzeltechniken zur Behandlung des Stotterns. Diese verfolgen zum Teil ganz verschiede- ne und zuweilen sogar gegensätz- liche Zielsetzungen. Es gibt keine Behandlungsmethode, in der nicht in einem ganz bestimmten Einzelfall tatsächlich eine positive Verände- rung des Stotterns herbeigeführt werden kann. Aus einer im Einzelfall erreichten Veränderung kann jedoch nicht auf eine generelle Brauchbar- keit einer Methode geschlossen wer- den. Es handelt sich vielmehr um ei- nen hohen suggestiven und thera- peutenspezifischen Wirkfaktor sol- cher Therapiemethoden.

Behandlungen und Untersu- chungen stotternder Kinder werden überwiegend von Logopäden, Pho- niatern, Psychologen und Sprach- heilpädagogen durchgeführt.

Prognose des Stotterns

Es gelingt bis heute nicht, gleich- gültig, welche Therapiemethode an- gewandt wird, Stottern sicher zu hei- len. Das Behandlungsziel kann da- her nicht eine Heilung des Stotterns sein, sondern nur die Reduzierung des Stotterns auf ein Reststottern.

Beim Entwicklungsstottern ist Symp- tomfreiheit bei 70 bis 80 Prozent der Kinder zu erreichen, beim echten Stottern im Vorschulalter Symptom- freiheit nur bei etwas über 50 Pro- zent, Besserung bei 33 Prozent, kei- ne Besserung bei 14 Prozent der Kin- der. Bei Schulkindern kann man als Therapieziel nicht mehr von einer Symptomfreiheit, sondern nur noch von einer Besserung ausgehen. Ganz allgemein ist die Remission der Stot- tersymptomatik um so besser, je we- niger Toni vorliegen und je leichter die Störung ausgeprägt ist.

Somit stellt Stottern letztlich im- mer noch ein ungelöstes therapeuti- sches, aber auch ätiologisches Pro- blem dar.

Literatur

1. Schulze, H., u. H. S. Johannsen: Stottern bei Kindern im Vorschulalter: Theorie, Diagno- stik, Therapie. Phoniatrische Ambulanz, Ulm 1986

2. Schulze, H., u. H. S. Johannsen: Differential- diagnose der Sprechunflüssigkeiten im Vor- schulalter: Entwicklungsunflüssigkeit oder Stottern. Stimme — Sprache — Gehör 11 (1987) 54-60

3. Schulze, H.: Stottern und Interaktion. Ver- gleichbare Untersuchung der verbalen Inter- aktionsstile von Eltern und ihren Kindern.

Phoniatrische Ambulanz der Universität Ulm 1989

4. Wirth, G.: Sprachstörungen, Sprechstörun- gen, kindliche Hörstörungen, 3. Auflage, Deutscher Ärzteverlag Köln (im Druck)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Günter Wirth Abteilung für Stimm- und Sprachstörungen sowie Pädaudiologie

Universitäts-Hals-, Nasen- und Ohrenklinik

Im Neuenheimer Feld 400 6900 Heidelberg

A-2062 (58) Dt. Ärztebl. 87, Heft 25/26, 25. Juni 1990

Referenzen

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