DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
M Ausgangssituation
In den vergangenen Jahren ist Perchlorethylen (PER, Tetrachlor- ethen) in das Blickfeld des öffent- lichen Interesses geraten. Auslöser war der Nachweis von PER in Nah- rungsmitteln wie Fetten, Backwaren und Speiseöl. Belastete Nahrungs- mittel wurden häufiger in der Umge- bung von Chemisch-Reinigungen ge- funden. Wiederholte Berichte über ein krebserzeugendes Potential von PER haben die Bevölkerung verunsi- chert. Da in der Öffentlichkeit häu- fig die Frage nach einer möglichen Gesundheitsgefährdung durch PER gestellt wurde, sieht sich der Wissen- schaftliche Beirat der Bundesärzte- kammer veranlaßt, zu dieser Proble- matik eine Stellungnahme abzuge- ben.
Der nachstehende Bericht ent- hält eine bewertende Analyse des derzeitigen internationalen Wissens- und Erkenntnisstandes über die Wir- kung von PER. Er wurde verfaßt von einer Expertengruppe der Ständigen Kommission „Gesundheitsschäden durch Umwelteinflüsse" des Wissen- schaftlichen Beirates der Bundesärz- tekammer
Chemische und
biologische Daten und Fakten zu PER
PER gehört zur Gruppe der leichtflüchtigen, halogenierten Koh- lenwasserstoffe. Es zeichnet sich durch seine gut fettlösende Eigen- schaft aus. Deshalb ist es eines der
am meisten verwendeten organi- schen Lösemittel. In der Bundesre- publik Deutschland liegt der jähr- liche Verbrauch derzeit bei mehr als 75 000 t PER (1). Etwa 60 bis 70 Pro- zent werden in der Industrie, 20 bis 30 Prozent in Chemisch-Reinigun- gen verwendet (2).
PER ist in der Atmosphäre, im Erdreich und Wasser nachweisbar.
In der Bundesrepublik Deutschland liegen die durchschnittlichen Kon- zentrationen von PER in Reinluftge- bieten um ein µg/m 3 (3), während in Stadtgebieten im Mittel acht bis zehn µg/m3 Luft gemessen werden (4). Besonders hohe Werte sind in un- mittelbarer Nähe von Chemisch-Rei- nigungen nachgewiesen worden (5).
Der Mensch kann PER mit der Atemluft, über Nahrungsmittel und Trinkwasser aufnehmen und bei di- rektem Kontakt über die Haut resor- bieren (6). Unter beruflicher Bela- stung und in Nachbarschaft von Che- misch-Reinigungen ist der wichtigste Aufnahmeweg für PER die Lunge (7). Darüber hinaus können konta- minierte Lebensmittel zur Belastung beitragen (8).
PER ist in allen Geweben des Körpers nachweisbar (9), es reichert sich aufgrund seiner lipophilen Ei- genschaft bevorzugt in fetthaltigen Geweben an (Tabelle 1). Zur Beur- teilung der aktuellen Belastungssi- tuation sind PER-Analysen in Blut- proben geeignet.
Bei der Allgemeinbevölkerung betragen die PER-Konzentrationen weniger als ein pg/1 Vollblut (17).
Bei Anwohnern von Chemisch-Rei- nigungen wurden bis zu 250 p,g/1 Vollblut (10) und bei Beschäftigten
in Chemisch-Reinigungen bis zu 2500 Rg/1 Vollblut während der Ar- beitszeit gemessen. Bisher gibt es keine toxikologisch begründeten Richt- oder Grenzwerte für die PER-Belastung der Allgemeinbevöl- kerung. Für beruflich Exponierte wurde ein biologischer Arbeitsstoff- toleranzwert (BAT) festgelegt (1000 itg/1 Vollblut, donnerstags oder frei- tags, 15 bis 16 Stunden nach Arbeits- ende) (7). Im Gegensatz zu beruflich Exponierten werden die Anwohner von Chemisch-Reinigungen je nach Aufenthaltsdauer in der Wohnung bis zu 24 Stunden sieben Tage pro Woche exponiert (10).
PER wird zum weitaus größten Teil über die Lunge mit der Atem- luft aus dem Körper eliminiert. Ein sehr geringer Teil wird im Körper umgesetzt und über die Nieren aus- geschieden (40).
Im Vordergrund einer akuten wie auch einer chronischen Intoxika- tion stehen neurotoxische Symptome (Tabelle 2 „Symptomatik toxischer Belastungen durch PER"), die in der Regel reversibel sind. Anwohner aus der Umgebung von Chemisch-Reini- gungen klagten verstärkt über sub- jektive Beschwerden wie Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Gedächt- nisstörungen, Völlegefühl, im Ver- gleich zu einer Kontrollgruppe (10).
Diese Beschwerden traten noch häu- figer bei Beschäftigten in Chemisch- Reinigungen auf (10, 18). Zur Ob- jektivierung dieser Befindlichkeits- Störungen sind neuropsychologische und neurophysiologische Untersu- chungen begonnen worden, ihre Er- gebnisse liegen noch nicht vor.
In einer kürzlich erschienenen Übersichtsarbeit wird die Hypothese der Beeinflussung von Schwanger- schaft durch PER weder ausge- schlossen noch bestätigt (19). Bei Einhaltung der arbeitsmedizinischen Grenzwerte (MAK und BAT) ist nach Auffassung der Senatskommis- sion zur Prüfung gesundheitsschäd- licher Arbeitsstoffe eine Gefährdung der Schwangerschaft nicht zu be- fürchten.
BEKANNTMACHUNG DER BUNDESÄRZTEKAMMER
Belastung der Bevölkerung durch Perchlorethylen
(PER, Tetrachlorethen)
Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer
1
ki Toxische Wirkungen
A-3810 (66) Dt. Ärztebi. 86, Heft 49, 7. Dezember 1989
460 33 000 790 4700 2700 440
0,013 1,8 0,31 0,18 0,18 0,037 2,0
270 47 28 27 5,7 Hochbelastete
Wohnung:
Olivenöl Margarine Milch Schokolade Parmesankäse Eier
Summe Lebens- mittel
hochbelastet 380 2,5
Tabelle 1: Perchlorethylen in Luft und Nahrungsmitteln und resultierende Konzentrationen in Körperfett und Blut
(gemessen) (berechnet)
Parameter PER-Kon-
zentration
resultierende Fettkonzen-
tration (1-14/kg)
resultierende Blutkonzen-
tration
Luftbelastung:
Reinluft Großstadtluft Wohnraumluft (belastet) Wohnraumluft (Richtwert BGA)
1,8 18 50 000 8900
0,012 0,12 320 58
Lebensmittel- belastung, allgemeine Umweltbelastung:
Speiseöl Margarine Milch Schokolade Käse Fleisch
Summe Lebens- mittelbelastung/
allgemeine Umweltbelastung
(pg/kg)
2 3 2 14 54 36
0,00880 0,025 0,12 0,083 0,55 1,5
2,2
0,000057 0,00016 0,00077 0,00054 0,0035 0,0094
0,015
Die gemessenen Daten sind aus 4, 8, 10, 11 und 12 entnommen. Die Berechnung der sich im
„Steady-State" ergebenden Fett- und Blutkonzentrationen wurde für eine 70 kg schwere Per- son mit einer alveolären Ventilationsrate von 5 1/min vorgenommen (Körperfett 14 kg und Blutfett 32,5 g, nach 13). Für die terminale Halbwertszeit von PER wurde ein Wert von 60 Stunden eingesetzt (nach 14, 15). Die PER-Aufnahme über Nahrungsmittel wurde anhand ei- nes Ernährungsberichtes (16) berechnet.
(ggini3) 1 10 28 000 5000
I Kanzerogenität
Im Tierexperiment wurden durch Inhalation hoher PER-Kon- zentrationen bei Ratten mononu- kleäre Leukämie und bei Mäusen Leberzellkarzinome erzeugt (20).
Diese Studien wurden vom Interna- tional Agency for Research an Can- cer (IARC) als ausreichende Hin- weise (sufficient evidence) für krebs- erzeugende Wirkung beim Tier ge- wertet (21).
Die kanzerogenen Wirkungen werden auf bestimmte Metabolite von PER zurückgeführt (22, 23). Die Ge- schwindigkeit des Metabolismus die- ser Stoffe ist bei Maus, bei Ratte und beim Menschen sehr unterschiedlich (14, 15, 24-29). Bezogen auf ein Kilo- gramm Körpergewicht ist das Ausmaß der Biotransformation von PER beim Menschen 20 bis 150fach (exempla- risch für eine kontinuierliche Exposi- tion von 10 ppm berechnet) geringer als bei Ratte und Maus. Eine Interpre- tation der in den Tierversuchen beob- achteten Ergebnisse bezüglich des Ri- sikos für den Menschen erfordert des- halb die Berücksichtigung dieser Ver- hältnisse.
Aus epidemiologischen Studien ist bisher kein wissenschaftlich fun- dierter Beweis für die krebserzeu- gende Wirkung beim Menschen er- bracht worden. Beobachtete erhöhte Tumorhäufigkeit bezogen sich auf Personen mit beruflicher Lösemittel- mischexposition (30-39). Nur in ei- ner Arbeit (32) wurde eine Subko- horte untersucht, die allein PER-ex- poniert war. Hierbei wurde im Ver- gleich zur Normalbevölkerung keine erhöhte Tumorhäufigkeit nachge- wiesen. Bei dieser Sachlage wurde PER von der MAK-Kommission in die Gruppe III B (Stoffe mit begrün- detem Verdacht auf krebserzeugen- des Potential) eingestuft (40).
Bewertung
1. Nicht nur Beschäftigte, son- dern auch Anwohner von Chemisch- Reinigungen können eine höhere PER-Belastung aufweisen als die Allgemeinbevölkerung. Hauptbela- stungsweg ist dabei die Luft, wäh- rend die Belastung über kontami-
nierte Nahrungsmittel im Vergleich dazu gering ist.
2. Subjektive Beschwerden wer- den von Anwohnern der Chemisch- Reinigungen vermehrt angegeben.
3. Im Tierversuch erhaltene Hinweise auf ein krebserzeugendes Potential konnten anhand von epide- miologischen Studien beim Men- schen bisher nicht verifiziert werden.
Empfehlungen
1. Bei anamnestisch und klinisch begründetem Verdacht sind Blutspie- geluntersuchungen für PER durchzu- führen. Der Zeitpunkt und der Modus der Blutentnahme und des Versandes müssen unbedingt mit dem untersu- chenden Speziallabor abgesprochen und protokolliert werden.
Dt. Ärztebl. 86, Heft 49, 7. Dezember 1989 (69) A-3813
- Lungenödem - Leberschaden - Niereninsuffizienz Tabelle 2: Symptomatik bei PER-Intoxikationen (nach 6,6)
Akute Symptome Symptome bei
Langzeitexposition - Benommenheit
- Schwindel - Müdigkeit - Kopfschmerzen - Übelkeit - Erschöpfung
- beeinträchtigte Koordination
- Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses - Schlafstörungen - Ataxie
- Desorientierung - Reizbarkeit - Alkoholintoleranz - Augenreizung
- Nasenreizung
2. Wurden erhöhte PER-Bela- stungen im Blut festgestellt, sollte die Quelle der Belastungen gesucht werden, zum Beispiel durch Unter- suchung der Raumluftkonzentration.
3. Zum Schutz der in Chemisch- Reinigungen beschäftigten Personen sind die Unfallverhütungsvorschrif- ten (UVV Chemisch-Reinigung VGB 66, [41]) einzuhalten. Arbeits- medizinische Vorsorgeuntersuchun- gen sollten regelmäßig durchgeführt werden.
4. Es wird dringend empohlen, daß die technischen Möglichkeiten zur Emissions-Minimierung umfas- send ausgeschöpft werden. Ersatz- stoffe wie Fluorchlorkohlenwasser- stoffe oder (1, 1, 1)-Trichlorethan sind derzeit nicht zu empfehlen.
Mitglieder des Arbeitskreises Dr. J. Abel
Medizinisches Institut für Umwelthygiene an der Universität Düsseldorf
Prof. Dr. H. Altenkirch
Leiter des Funktionsbereiches Neurologie, Krankenhaus Spandau, Akademisches Lehrkrankenhaus der FU Berlin
Prof. Dr. Dr. H. M. Bolt
Institut für Arbeitsphysiologie an der Uni- versität Dortmund
Dipl.-Met. A. Böttger
Institut für Hygiene der Universität Düs- seldorf
Prof. Dr. H. Eckel
Chefarzt des Instituts für Klinische Radio- logie, Evangelisches Krankenhaus Göttin- gen-Weende
PD Dr. J. G. Filser
Institut für Toxikologie der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung mbH (GSF) Neuherberg
Prof. Dr. H. Greim
Institut für Toxikologie der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung mbH (GSF) Neuherberg
Prof. Dr. G. Lehnert
Direktor des Instituts für Arbeits- und So- zialmedizin, Poliklinik für Berufskrank- heiten der Universität Erlangen
Prof. Dr. R. Schiele
Institut für Arbeits- und Sozialmedizin, Po- liklinik für Berufskrankheiten der Univer- sität Erlangen
Prof. Dr. H.-W. Schlipköter (federführend)
Direktor des Medizinischen Instituts für Umwelthygiene und des Instituts für Hy- giene der Universität Düsseldorf.
Prof. Dr. F. Selenka
Institut für Hygiene der Ruhr-Universität Bochum
Prof. Dr. R. Teschke
Direktor der II. Medizinischen Klinik des Stadtkrankenhauses Hanau
Prof. Dr. H. Wiegand
Medizinisches Institut für Umwelthygiene an der Universität Düsseldorf
Zahlen in Klammem beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über:
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer Herbert-Lewin-Straße 1 5000 Köln 41
FÜR SIE REFERIERT
Scharf
gewürzte Speisen schädigen die
Magenschleimhaut nicht
Die Autoren untersuchten mit dem Videoendoskop den Einfluß scharf gewürzter Speisen auf die Ma- genschleimhaut. Vier Mahlzeiten wurden analysiert: eine blande Kost mit ungepfeffertem Steak und Pom- mes frites, eine blande Mahlzeit mit 1950 mg Aspirin (als positive Kon- trolle), eine scharf gewürzte mexika- nische Mahlzeit (30 g Jalapeno-Pfef- fer) und eine Pepperoni-Pizza. Zwölf Probanden (acht Männer und vier Frauen im Alter zwischen 24 und 43 Jahren) nahmen an einer randomi- sieten Cross-over-Studie teil. Die Mahlzeiten wurden zu Mittag und abends eingenommen Jeder Pro- band nahm alle vier Mahlzeiten zu sich, wobei primär endoskopiert und diese Untersuchung etwa zwölf Stun- den nach der letzten Mahlzeit wie- derholt wurde. Magen und Duode- nalschleimhautläsionen wurden, ei- nem Vorschlag von Lanza folgend, hinsichtlich erosiver und ulzeröser Schleimhautdefekte analysiert. Elf von zwölf Probanden entwickelten nach Einnahme einer blanden Mahl- zeit plus Aspirin multiple Magen- schleimhauterosionen, während nach dem mexikanischen Gericht und der Pepperoni-Pizza keinerlei Schleimhautveränderungen nach- weisbar waren. In einem ergänzen- den Experiment wurden 30 g frisch gemahlenen Jalapeno-Pfeffers direkt auf die Magenschleimhaut aufge- bracht. Nach 24 Stunden ließen sich keinerlei Schleimhautveränderungen nachweisen. Man kann somit davon ausgehen, daß scharf gewürzte Spei- sen die Magenschleimhaut nicht schädigen.
Graham, D. Y., J. Lacey-Smith, A. R. Ope- kun: Spicy Food and the Stomach, Evalu- ation by Videoendoscopy. JAMA 260:
3473-3475, 1988.
Department of Medicine, Veterans Admin- istration Medical Center, Houston, Texas
A-3814 (70) Dt. Ärztebl. 86, Heft 49, 7. Dezember 1989