Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 1114. März 2003 AA697
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Medizingeschichte
Sachlicher Stil
Friedrich Herber: Gerichtsmedi- zin unterm Hakenkreuz.Militzke Verlag, Leipzig, 2002, 541 Seiten, 35 SW-Abbildungen, gebunden, mit Schutzumschlag, 29 A
In einer kurzen Bemerkung anstelle eines Vorwortes be- richtet der Autor, dass Roland Freisler „ein warmer Freund der Gerichtlichen Medizin“
gewesen sein soll, wie ein pro- minenter Gerichtsmediziner der Jahre gemeinsamen Wir- kens mit dem Mörder in der Robe es formuliert haben soll. Inwieweit aber war die gerichtliche Medizin dem NS- Regime dienstbar, und inwie- weit waren Gerichtsmedizi- ner Freunde des Regimes?
Diese Frage zieht wie ein Cantus firmus durch die 20 Kapitel dieses interessanten und lesenswerten Buches.
Die Zeitepoche des Drit- ten Reiches traf das heute so bezeichnete Fach Rechtsme- dizin Anfang der 30er-Jahre zu einem Zeitpunkt, in dem es gelungen war, auf verschiede- nen Forschungsgebieten wie der Serologie, der Verkehrs- medizin sowie in der Todes- ursachenaufklärung wissen- schaftliche Akzeptanz und
allgemeine Anerkennung zu erwerben. So wird aus dieser Perspektive ein historischer Abriss des Faches ein- schließlich einer Definition unter dem Aspekt der Inter- disziplinarität, ferner eine Übersicht über die Organisa- tion der gerichtsmedizini- schen Praxis und die zuneh-
mende Etablierung an den Medizinischen Fakultäten ge- geben. Die Persönlichkeiten der Fachvertreter mit ihren individuell sehr unterschiedli- chen Verflechtungen mit den staatlichen und parteipoliti- schen Instanzen werden dar- gestellt. Es konnte nicht aus- bleiben, dass dieses Fach und seine Vertreter mit den ver- schiedenen Formen der Dis-
kriminierung, der Repression und der Gewaltanwendung konfrontiert wurden, die sich teilweise auch gegen die Fachvertreter selbst wandten.
Breite Berührungsflächen gab es auch zur „wehrgericht- lichen Medizin“. Der Einsatz von Gerichtsmedizinern im Zweiten Weltkrieg wird ka- suistisch behandelt.
Darüber hinaus wird die Mitwirkung an der Auf- klärung von Völkerrechtsver- letzungen, wie zum Beispiel bei der Untersuchung der Massengräber in Bromberg, Katyn und Winniza, darge- stellt. Allgemeinere gerichts- medizinische Themen, wie Leichenschau und Leichen- öffnung, Entwicklung der Al- koholanalytik und der Blut- gruppenserologie, die Phäno- menologie des gewaltsamen Todes in der Heimat, werden behandelt.
Umfassend werden die in den einzelnen Kapiteln dar- gestellten Sachverhalte do- kumentiert. Das Buch belegt das mehr oder weniger stark ausgeprägte Engage- ment zahlreicher deutscher und österreichischer Rechts- mediziner für das national- sozialistische Regime, ohne in ideologische Plattitüden zu verfallen. Michael Staak
Hausärzte
Humaner Umgang
Renate Schernus: Hausärztin im Kiez.Porträt der Anna B. Edition Balance, Psychiatrie-Verlag, Bonn, 2002, 136 Seiten, kartoniert, 9,90 A Anna B. hat ihre Praxis auf dem Kiez in Berlin. Ihre Pati- enten sind Menschen wie in je- der anderen Hausarztpraxis auch. Darüber hinaus kom- men Drogenabhängige, Zu-
hälter, Prostituierte, psychisch Kranke und Menschen aus vielen verschiedenen Ländern.
An Anna B. fasziniert die Au- torin die besondere Grundhal- tung, mit der sie ihren Patien- ten begegnet. Anna B. ist neu- gierig, immer bereit, von ihren
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Patienten zu lernen, sich von ihnen in ihren therapeutischen Interventionen leiten zu las- sen. Sie bewahrt konsequent ihren ärztlichen Standpunkt, enthält sich sozialer oder kul- tureller Bewertungen, vermei- det es, den Lebensstil ihrer Pa- tienten an einer gesetzten Normalität zu messen. Jedem, der kommt, gehört ihre unge- teilte Aufmerksamkeit. Das schließt das Herz ihrer Patien- ten auf und verleitet sie zu In- terventionen, die das übliche Handlungsschema einer Haus- ärztin zu sprengen scheinen.
Dem Mann, der mehrfach zu ihr kommt und, ohne dass sich eine Diagnose stellen ließe, über einen kalten Unterleib klagt, kauft sie eine Polar-Un- terhose. Für die Kinder, die in ihrem Viertel ohne Gelegen- heit zu sinnvoller Freizeitge- staltung aufwachsen, gründet sie einen Fußballverein. Für die Methadon-Patienten, die
zur Substitution in ihre Praxis kommen, erfindet sie sinnvolle Jobs, die sie aus einem Fonds bezahlt, der sich aus einem Teil ihres eigenen Einkommens speist.
Immer wieder einmal ha- be ich mich bei der Lektüre an meinen eigenen Hausarzt erinnert. Auch bei ihm tref- fe ich im Wartezimmer Men- schen, die mir sonst als Psychiatriepatienten begeg- nen. Auch bei ihm stelle ich ein Engagement fest, das sich wenig um reguläre Arbeits- zeiten schert, und finde etwas von der ärztlichen Grundhal- tung der Anna B. Vielleicht ist doch sehr wahrscheinlich, dass sich in den Praxen man- cher Hausärzte, bei denen nach wie vor die medizinische Basisversorgung liegt, eine Form humanen Umgangs fin- det, der einer spezialisierten Professionalität nicht – mehr?
– möglich ist. Thomas Feld
Dieter Fritze (Hrsg.): Palliative Krebsbehandlung. Beiträge zur interdisziplinären Krebsbehand- lung. 2., vollständig neu bearbei- tete und erweiterte Auflage. W.
Zuckschwerdt Verlag, München u. a., 2002, XV, 453 Seiten, 99 Ab- bildungen, 66 Tabellen, karto- niert, 39,90 A
Bereits nach sechs Jahren legt der Herausgeber in zweiter Auflage eine Sammlung von Aufsätzen zu palliativmedizi- nischen Themen vor. Das Buch ist nicht als Lehr-, eher als Lesebuch konzipiert und kommt damit dem sehr hete- rogenen, fachübergreifend-in- tegrierenden und „ganzheitli- chen“ Charakter der Palliativ- medizin entgegen. In ver- dienstvoller Weise wird damit der bei vielen Ärzten immer noch zu registrierenden Resi- gnation beim Auftreten einer palliativen Therapiesituation eine wegweisende Alternative entgegengesetzt.
Insgesamt 36 Arbeiten,teils mit dem Charakter von Über- sichtsdarstellungen, teils eher
subjektiven Erfahrungsbe- richten, skizzieren die Viel- falt palliativer Entscheidungs- situationen. Dem Rezensen- ten fällt es daher schwer,ange- sichts der Heterogenität der Darstellungen – und diese stellt auch das Problem des Bandes dar – ein verallgemei- nerndes Urteil zu finden.
Für den palliativmedizi- nisch Interessierten ist das Werk in jedem Fall eine fort- bildende Bereicherung, für den Erfahrenen eine Gele- genheit zu anregender Lek-
türe. Jens Papke
Palliativmedizin